Ausgabe 2 / 2003 Material von Kalny, Eva

Gefährliche Kreuzungen

Von Kalny, Eva

 

Stellen Sie sich vor, sie müssen eine gefährliche Straße überqueren. Sie schaffen ein Stück, der Weg scheint frei. Doch plötzlich rast ein Wagen aus einer anderen Richtung auf Sie zu. Für viele Menschen keine ungewöhnliche Situation.

Eine Frau alarmiert die Polizei und bittet um Hilfe gegen ihren gewalttätigen Ehemann. Die Polizei lehnt ab einzuschreiten – denn die Frau ist Türkin, und sie befindet sich in Deutschland. Dass häusliche Gewalt in der Türkei untersagt ist, hilft ihr im Ausland nicht viel – deutsche Polizisten meinen nur allzu leicht, es sei Teil „muslimischer Kultur“, dass Männer ihre Ehefrauen schlagen, sie könnten daher nicht einschreiten! Eine Frau meint bei einem Workshop zu häuslicher Gewalt, Menschenrechte wären für Frauen und Männer gleich. Doch man fährt ihr schnell über den Mund: „Die lokale Bevölkerung hat erklärt, im Kosovo wäre man(n) noch nicht bereit, Frauen all ihre Rechte zuzugestehen“.

Eine Frau holt für ihre Familie Wasser vom Brunnen. Sie wird geschlagen und vergewaltigt. Doch niemand hilft ihr, und die Täter werden nicht bestraft – sie ist Dalit, eine „Unberührbare“, in Indien oder Nepal. Den Brunnen würde sie „verunreinigen“ – den Vergewaltiger offensichtlich nicht. Gemeinsam ist diesen Frauen, dass sie gleichzeitig mehreren Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind: aufgrund ihres Geschlechts, aber auch ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Kaste. Die Kombination von Sexismus und Rassismus macht es Migrantinnen, Frauen ethnischer Minderheiten oder Angehörigen niedriger Kasten besonders schwer, ihre Rechte zu erkämpfen: Neben Sexismus in ihrer eigenen Gruppe sind sie auch mit Rassismus und Sexismus der dominanten Gruppe konfrontiert.

Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Cremshaw beschreibt diese Situation mit der Metapher einer befahrenen Kreuzung. Wie auch im Straßenverkehr ist die schlechte Sicht auf den Verkehr – der Vorurteile und Machtstrukturen – gefährlich und kann sogar den Tod bewirken. Am offensichtlichsten ist dies in Kriegssituationen, bei denen Frauen bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen vergewaltigt und/oder ermordet werden. Weniger sichtbar ist es, wenn ein Gesundheitssystem nicht auf die Bedürfnisse der betroffenen Frauen eingeht und keine Übersetzung für die Patientin vorhanden ist, oder keine Ärztinnen für jene Frauen, die sich einer Behandlung durch einen männlichen Arzt z.B. aus kulturellen Gründen nicht unterziehen können.

Mehrfache gleichzeitige Unterdrückung ist oft nicht deutlich erkennbar, weil die Betroffenen Marginalisierte innerhalb von unterdrückten Gruppen sind und nicht im Blickpunkt stehen. Nur wer genau nachfragt, wie Frauen leben, kann in der Analyse die unterschiedlichen Einflüsse herausarbeiten.

Eva Kalny, Gefährliche Kreuzungen (Auszug), in: Frauensolidarität Nr. 77 (3-2001) Rassismus und Sexismus © Frauensolidarität – Entwicklungspolitische Initiativen für Frauen in der „Dritten Welt“, Wien

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