Aus Liebe zur Erde, zu ihren Geschöpfen, zu Luft, Wasser und Klima kleben sich junge Menschen auf Straßen fest. Sie werden von Autofahrer*innen wüst beschimpft – aus Liebe zur eigenen Mobilität, zur Pünktlichkeit oder zur Oma, für die noch schnell Einkäufe zu erledigen sind. Aus Liebe zur Kirche wird erbittert um den Erhalt des Gemeindehauses gekämpft, aus Liebe zur Kirche wollen andere es dringend loswerden und neue Visionen entwickeln. „Und das müssen auch die vom Oberkirchenrat einsehen. Ich habe da jetzt mal eine Mail formuliert, Cc an alle; ist etwas spitz formuliert, aber ich habe es aus Liebe zur Sache getan.“
Aus Liebe wird gelitten, gehofft und geweint, werden selbstlose Taten und Verbrechen begangen. Wie kann Liebe nur so ungeordnet sein? Das liegt am Herzen, diesem „trotzig und verzagten“, glühenden und mitfühlenden Ding. Ja – früher, in biblischer Zeit, gab es noch eine Arbeitsteilung unter den menschlichen Organen. Herz und Nieren, Leber, Nase, Gebärmutter und Galle wüteten, schmerzten vor Reue oder Mitleiden, frohlockten und bangten. Diese reiche Gefühlswelt hat metaphorisch heute im Herzen ein kleines Reservat gefunden, das jetzt so überfrachtet ist wie das Schreibpult des Paulus. Für den machten Kleinigkeiten den Unterschied: Nicht aus, noch nicht einmal mit, sondern in Liebe schreibt er. Also nicht einfach aus einer Gefühlsregung heraus, sondern eingebunden in eine größere Liebe, nennen wir sie die Liebe Gottes, in Barmherzigkeit, in Verbundenheit mit allen Geschöpfen.
Lebt unzeitgemäß! Dass ein Mensch mit heißem und doch besonnenem Herzen nicht nur aus Liebe, sondern in Liebe denken, sprechen und handeln lernt, dafür gibt es ein altes Wort: Herzensbildung. Paulus nennt die Voraussetzungen dafür: wach und stark sein. In christlichen Gemeinden hat er Verhaltensweisen erlebt, für die er in seinen Briefen immer wieder wirbt: friedlich und freundlich sein, liebenswert, einander zuvor kommend. Sanftmut, Dankbarkeit, Demut und Großherzigkeit pflegen. Und die Superkraft „Lindigkeit“ (Phil 4,5), wie sie ganz alte Lutherübersetzungen noch kennen. Sie wird – du meine Güte! – heute mit „Güte“ übersetzt. Und noch weitere vergessene Sorten flicht die Herzensbildung in ein Biedermeiersträußchen: Höflichkeit, Takt, Feingefühl. Worte, die bereits auf die Liste der bedrohten Arten gehören und in die Mottenkiste „Tugendkalaloge“ gepackt wurden. Zurecht? Friedlichkeit, Nachsicht und Geduld wurden jahrhundertelang zwecks besserer BeHERRschung einem Geschlecht oder einer sozialen Klasse auferlegt. So berechtigt es ist, diese Zuschreibungen abzuschütteln, entwertet es doch die genannten Herzensregungen nicht. Im Kontext der neutestamentlichen Briefe sind sie vorwiegend Sklavinnen und Sklaven, aber auch Reichen und Beherrschenden empfohlen, jedoch nicht zur besseren Einpassung in diese Welt, sondern als Lebensform im Licht einer kommenden Befreiung.
Die Befreiung ist noch nicht da, aber Menschen können sich selbst voraus sein. Und wirken dann aus der Zeit gefallen – wie das Kind, das im Wald eifrig Käfer wieder auf die Füßchen dreht. Wie der alte Herr, der aus Selbstachtung immer noch Weste und Einstecktuch trägt. Wie die alte Frau, die ganz epikureisch einen goldbraun gebratenen Apfel mit selbst gestampftem Kartoffelbrei genießt, weil für Kostspieligeres weder Geld noch Bedürfnis da sind. Wie die Menschen mit vollen Einkaufswagen, die eine an der Supermarktkasse vorlassen, oder diejenigen, die in der hitzigen Diskussion entgegnen: „So habe ich das noch gar nicht gesehen“. Das wirkt alles so von gestern und sollte doch ein Vorschein des Zukünftigen sein: Wie wäre es, wenn Menschen innerlich und äußerlich so frei wären, respektvoll miteinander und mit allem, was ist, umzugehen? Bildung bedeutete in der christlichen Tradition lange Zeit: das Göttliche, Lichte, Schöne sich im eigenen Innern „bilden“ lassen oder in das Göttliche, in die Liebe hineinwachsen. Im menschlichen Maßstab: sich selbst und das Fremde als Bild Gottes achten und ihm respektvoll begegnen.
Entgröbert euch! Ach, ist das herzig! Und was ist mit Wut, Neid, Enttäuschung, Zorn – diesen Gesichtern einer verstörten, gekränkten Liebe, die auch ihren Platz im Herzen beanspruchen? Nur lieb sein, wo doch der Liebe manchmal etwas Zorn gut ansteht angesichts des Zustands dieser Welt?
Herzensbildung bedeutet kein Baden in der eigenen Empfindsamkeit, sondern das Wissen um solche Gefühle. Wach gesteht sie ihnen ihr Recht zu und setzt ihnen in Stärke Grenzen. Sie hilft, Gefühle zu kultivieren wie einen Garten, in dem es natürlich eine Ecke für Brennnesseln und Gesträuch geben darf für die Insekten, den Igel, die Bohnenranken und Rosen. Die christliche Mystik hat für diese Kultivierung ein wunderbar altertümliches Wort gefunden: „Entgröberung“ stünde dem Herzen, der Seele gut an. Gemeint ist damit der oft schmerzvolle Abschied von Wünschen, Urteilen und Bildern, die Seele und Herz sich selbst entfremden. Schon in den neutestamentlichen Briefen hat die Verfeinerung des Herzens oft mit Sprache, mit dem Umgang mit Menschen zu tun. Ein spontaner wutgetränkter Herzenserguss erscheint authentisch, aber auch hier gilt es, wachsam und stark zu sein! Wo ich die Identität der, des anderen verletze, verletze ich auch die meine. Womöglich verdüstere ich das Licht in einem anderen Menschen, ganz bestimmt aber mein eigenes. Grobheit nach außen – in Sprache und Umgangsformen – fördert die Ungeschlachtheit im Innern. Ja, ich hatte wirklich einen schlechten Tag heute und fühle mich nicht „in Liebe“ gewickelt. Doch ich kann mir selbst voraus sein und so tun. Form kann den Inhalt wachsen lassen.
Gleichwohl klingt die Tugend des Maßhaltens als Herzensanliegen wenig attraktiv. Wenn Politiker*innen an sie gemahnen, trägt ihnen das maßlose Häme im Netz ein. Und gegenüber der modischen „Balance“ klingt sie doch sehr nach Sparkasse oder Apothekenrundschau. Hildegard hätte das nicht angefochten; bei ihr ist alles groß: Großmut, Großherzigkeit, Großzügigkeit. Größe respektiert die eigenen Grenzen und die der anderen. Und ja, Maßhalten ist, anders als Balance, ein politischer und deshalb umso anstößigerer Begriff. Hildegard kommt in maßloses Schwärmen, wenn es um „den Menschen“ und sein Herz geht: Nein, es ist keine Jauchegrube, sondern Edelstein und Schöpfungskrone – sofern es in Rücksicht auf andere Menschen, Kreaturen, die ganze Mitschöpfung bis in den Kosmos hinein die eigenen Grenzen erkennt.
Bildungsurlaub fürs Herz Ach, Hildegard, wir sind doch keine Kosmosmenschen, sondern höchst irdisch zwischen halb geschmierten Broten, Homeoffice und dem nahenden Abgabetermin für einen Artikel! Kenne ich, sagt Paulus und empfiehlt: immer mal inne-?halten. Tue ich, was ich tue, in Liebe? Wachsam und mutig? Kann ich mich unterbrechen für einen Bildungsurlaub des Herzens? Das kann ein kleines Wort-Bad sein: Sanftmut, Dankbarkeit, Mitgefühl, Großherzigkeit. Sie hinterlassen auf der Herzhaut einen wunderbaren Duft, statt Selbstgerechtigkeit und Verachtung auszudünsten. „Eine traurige Zeit, die die großen Wörter abschafft, um nur noch ihre eigene Schäbigkeit zu sehen“, schreibt der Agnostiker André Comte-Sponville.1 Auch das Gebet kann ein erholsamer Ort sein, wo sich das Herz ergießen und in die Liebe hinein bilden kann. Es ordnet Gefühle und Sprache, entgröbert sie. Schweigen und Stille bringen Verurteilungen zum Verstummen. In Fürbitte und Gedenken gehen wir für kurze Zeit über uns selbst hinaus, bildet sich das Herz in Mitgefühl und Freundlichkeit.
Und für den täglichen Gebrauch empfiehlt sich die Königinnendisziplin Maßhalten: im guten, im lustvollen Sinn, aus Lust am Leben für alle, für die Mitgeschöpfe, die Erde, das Klima. Damit wir alle am Leben bleiben. Doch, das geht – in Wohlwollen, Takt, Mitgefühl, Freundlichkeit. In Liebe.
Ein neuer Knigge: Wenn niemand mich sieht, tue ich es. Ich packe Schnecken am Häuschen, entferne sie vom Gehweg uns setze sie auf den Rasen. Regenwürmer, die auf dem Asphalt zu vertrocknen drohen, hebe ich mit einem Stöckchen auf rettende Erde. Ja, ich bin bekennende Käferumdreherin. Und Sie?
Maßvolles Vergnügen: Liebe ist eine Anarchistin. Liebe und Maßhalten – das geht nicht zusammen. Oder doch? Für Hildegard von Bingen war das Maß die Achtung eigener und fremder Grenzen als Zeichen eines Lebens im Einklang mit dem Kosmos. Und für Genussmensch Epikur war die Mäßigung die Mutter aller Vergnügen. „Vergnügungen“ hat Bertolt Brecht seinen persönlichen Maßnahmen-Katalog überschrieben, der mit dem ersten Blick aus dem Fenster am Morgen beginnt. – Stellen Sie Ihre eigene Liste der einfachen Vergnügen und des genussvollen Maßes auf.
Dr. Urte Bejick ist ev. Theologin und arbeitet als Referentin für Weltgebetstag und Ökumene bei den Evangelischen Frauen in Baden. Zudem ist sie Bereichsleiterin Altenheimseelsorge im Zentrum für Seelsorge / Baden und arbeitet im Projekt „Sorgende Gemeinde werden“ mit.
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