Alle Ausgaben / 2009 Artikel von Ilona Helena Eisner

Geführt von Ariadnes Faden

Wege durch das Labyrinth des Lebens

Von Ilona Helena Eisner


Wer kennt sie nicht, die großen Hinweisschilder an so mancher Landstraße auf das nächste „Labyrinth im Maisfeld“? Aus der Nähe betrachtet, fiel der kundigen Besucherin allerdings auf, dass da etwas nicht stimmte. Auf den Wegen des angelegten Irrgartens suchte sie das Labyrinth vergebens.

Der in vieler Hinsicht bedeutsame Unterschied zwischen Irrgarten und Labyrinth war den Betreibern wohl nicht geläufig – und da sind sie nicht die einzigen.


Tanzplatz der Mysterien

Das Labyrinth ist ein uraltes Symbol der Menschheit. Seit Jahrtausenden ist es auf allen Kontinenten und in den verschiedensten Kulturen bekannt. Hervorgegangen ist das Labyrinth aus dem Grundsymbol des Kreises und des Kreuzes, das nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet war und der Beobachtung der Gestirne diente.

Mit diesem Grundsymbol waren aber nur die elementaren vier Achsen des Jahres – die Sonnenwenden und die Tagundnachtgleichen – zu beobachten. Für anderes brauchte es kompliziertere Formen, und es entstanden die Spirale, die Triskel (eine dreifache Spirale), das Schein-Labyrinth, welches mehrere Sackgassen hatte und bei dem das Zentrum nie erreicht wurde, und schließlich das Labyrinth. Das echte Labyrinth hat nur einen Weg, und in der Pendelbewegung der Umgänge wird das Zentrum immer erreicht. Das klassische kretische Labyrinth hat sieben Umgänge und weist damit auf die sieben im Altertum bekannten Planeten.

Labyrinthe waren Tanzplätze. Die Bewegungen der Gestirne wurden von Tänzerinnen und Tänzern nachgeahmt, und die großen Mysterienfeste matriarchaler Kulkturen wurden im Labyrinth gefeiert. Nach Heide Göttner-Abendroth, Professorin für Philosophie und Leiterin der HAGIA-Akademie Winzer, gehörten dazu: das Initiationsfest im Frühling, bei dem der Heilige König von der Sakralkönigin eingesetzt wurde, die Heilige Hochzeit im Sommer, bei der sich die beiden Repräsentanten vereinigten, das Todesfest im Herbst, bei welchem der Heilige König starb und seine Reise durch die Unterwelt antrat, sowie das Fest der Wiedergeburt im Winter, bei dem ein neues königliches Kind zur Welt kam.

Jedes dieser Feste, die den Jahreszyklus abbildeten, war zugleich ein Volksfest, das die Stadien des Lebens zelebrierte. Daher stand das Labyrinth symbolisch für Anfang und Ende, für Licht und Dunkel, für Leben und Tod. Im Sommer und Winter, zur Heiligen Hochzeit und der Geburt des königlichen Kindes, symbolisierte es den Schoß der Göttin. Im Herbst stand es für den Gang in die Unterwelt und im Frühling für den Gang aus der Unterwelt und somit für den Wandel. Das Labyrinth kann also als Symbol der Großen Göttin selbst verstanden werden, die aus dem Hellen ins Dunkel führen konnte, aus dem Leben in den Tod, aber auch umgekehrt vom Dunkel ins Licht und vom Tod ins Leben zurück.


Haus der Doppelaxt

Den Ursprung des Labyrinths vermuteten viele ForscherInnen lange Zeit auf der Mittelmeerinsel Kreta. Möglicherweise ist das Symbol aber bereits vor der Blüte der minoischen Kultur auf Kreta in Syrien genutzt worden.

Das Wort „Labrys“ bedeutet „Doppelaxt“. Die Doppelaxt zeigte die Mondsicheln und damit die Mondwandlungen in einem und galt als heiliges Symbol. Der berühmte Palast von Knossos -wurde Labyrinth genannt. Ob er dessen Grundform besaß oder die vielen Gänge und Räume zu dieser Assoziation führten, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Sicher aber ist, dass die Doppelaxt auch hier das heilige Symbol war und viele davon im Palast aufbewahrt wurden. So könnte Labyrinth auch „Haus der Doppelaxt“ bedeuten.

Neben Knossos werden auch die Städte Troja und Jericho mit dem Labyrinth in Verbindung gebracht. Entweder haben sie einen Tanzplatz dieser Form besessen, oder der gesamte Stadtgrundriss war als Labyrinth angelegt.


Ariadne und Theseus

Eng verbunden mit dem Symbol ist der Mythos von Ariadne und Theseus. Allgemein wurde die Überlieferung so verstanden, dass der athenische Königssohn nach Kreta segelte – an Bord je sieben Jünglinge und Jungfrauen, die König Minos als Sühne für einen Mord verlangt hatte. Sie sollten dem Ungeheuer Minotaurus geopfert werden, das im Labyrinth von Knossos hauste. Der Held aber erschlug den Minotaurus und fand den Weg zurück mit Hilfe des entrollten Wollknäuels, das ihm die verliebte Ariadne mitgegeben hatte.

Bei meiner Beschäftigung mit dem -Thema bin ich auf eine interessante Neuerzählung des Mythos nach Heide Göttner-Abendroth gestoßen,(1) der zufolge der Mythos den Übergang von einer matriarchalen zu einer patriarchalen Kultur abbildet: 1525 v.u.Z. wurde die Minoische Kultur von einem Vulkanausbruch erschüttert, wodurch die Küstenstädte Kretas überflutet und die Handelsflotte zerstört wurde. In dieser geschwächten Situation wurden die Kreter von frühpatriarchalen Hellenen überrannt und kolonialisiert.

Ariadne war zu der Zeit nicht die „kleine Prinzessin“, sondern die Herrin von Kreta, Minos der von ihr für vier Jahre ausgewählte Heroskönig. Der „Minotauros“ wäre also kein Ungeheuer mit dem Leib eines Mannes und dem Kopf eines Stiers gewesen, sondern König Minos selbst mit Stiermaske, der Ritualtänze auf dem heiligen Platz des Labyrinths ausführte – passend zum überlieferten Hörnertanz des heiligen Stiers und der Himmelskuh, bei dem die Kette der Tanzenden mit einem Seil verbunden war. So oder so: Gemeinsam ist allen Deutungen des Mythos, dass das Labyrinth, der Minotaurus in seinem Zentrum und der Faden der Ariadne eine zentrale Rolle spielen.


Christianisiert

Während des Römischen Reiches wurde das Labyrinth vom Christentum umgedeutet und umgenutzt. Viele dieser -kultischen Plätze wurden vernichtet, auf anderen wurden Kathedralen gebaut. In den Kathedralen wurde das Labyrinth nicht mehr im Sinne des kosmischen Universums verstanden, sondern als Darstellung der Welt. Der Gang in das Labyrinth wurde zu einem Bußweg, auf dem darüber nachgedacht werden sollte, wie sich der Mensch in den -weltlichen Dingen verliert und in die Sünde verstrickt wird.

In der Mitte landete der Bußgänger dann beim Teufel. Hier klingt der Mythos vom Minitaurus nach: Minotaurus – der Gehörnte – der Satan! Rettung versprach einzig die Umkehr, die Entscheidung, dem Teufel den Rücken zu kehren und die diesseitige, verderbte Welt um der Erlösung willen zu verlassen. Folgerichtig stand der Büßende, wenn er aus dem Labyrinth heraus trat, im Schiff der Kathedrale – und damit bei Gott und Jesus Christus.


Säkularisiert

Im späten Mittelalter und in der Neuzeit wurde das Labyrinth aus dem kirchlich-sakralen Zusammenhang herausgelöst. Es diente fortan nur noch als Abwechslung und zum Vergnügen in den Lustgärten der Paläste. Das verlockende Sich-finden und -verlieren in den zahlreichen Windungen wurde in der Mitte in einem Raum der Erotik belohnt: In vielen Lustgarten-Labyrinthen der Renaissance finden sich in der Mitte kleine Liebeslauben.

Die ursprünglich sakrale Bedeutung des Labyrinths war damit völlig profanisiert. Jedes spirituellen Inhalts beraubt, konnte aber die Form überleben und ist bis heute in Rasenlabyrinthen in England, Lustgartenlabyrinthen in Italien und Gartenlabyrinthen in Deutschland zu finden.(2)


Wiederentdeckt

Im Rahmen der heutigen Frauenkulturbewegung wird das Labyrinth wieder aufgegriffen. In vielen europäischen Städten haben Frauengruppen es sich zur Aufgabe gemacht, das Labyrinthmuster in seinem ursprünglichen Sinn zu erneuern. Es soll der spirituellen Begegnung von Menschen mit dem Göttlichen dienen und an die Zusammenhänge von Kosmos, Natur und Mensch, den Schöpfungszusammenhang also, erinnern.


Herausforderung Irrgarten

Womit die Frage nach dem Unterschied von Labyrinth und Irrgarten allerdings noch nicht beantwortet ist. Irrgärten werden ab 1420 gezeichnet und angelegt, die älteste uns bekannte Darstellung dieser Art stammt von dem venezianischen Arzt Giovanni Fontana. „Es ist die Zeit, da sich die Menschen von der religiösen Gebundenheit emanzipieren. Wahlmöglichkeiten aufgrund von Mündigkeit und Eigenverantwortung sind die Basis. Der Irrgarten wird damit zum Symbol einer Welt, in der sich der Mensch verlieren kann bzw. verliert.“(3)
„Der Irrgarten ist eine Struktur mit einem Eingang oder mehreren Ein- und Ausgängen. Er kann ein Zentrum haben oder auch keines. Bei den vielen Weg-gabelungen und Sackgassen müssen Entscheidungen getroffen werden: Gehe ich links oder rechts weiter oder wieder zurück? Damit ist die Eigenmächtigkeit des Wegverlaufes gegeben. Die Angst, nicht mehr hinauszufinden, im Extremfall damit dem Tod preisgegeben zu sein, ist mit der Struktur aufs engste verbunden. Aber es gibt zwei Möglichkeiten, dem etwas entgegenzusetzten:
a) den Verstand: Gehe ich immer nur links (oder rechts – wichtig ist, dass die Richtung beibehalten wird), so gelange ich immer zum Ausgang!
b) die innere Führung: Vertraue ich mich meiner Intuition an, finde ich mit schlafwandlerischer Leichtigkeit hinaus bzw. ins Zentrum, wenn es ein solches gibt.

Der Irrgarten ist somit ein Prüfstein der Intuition, des Vertrauens in die innere Stimme, des Urvertrauens, in dem das Selbstvertrauen wurzelt.“(4)

Beide, Irrgarten und Labyrinth, sind Symbole für die Wege, die Menschen in ihrem Leben zurücklegen. Der eine, in Pendelbewegungen sich vom Zentrum entfernend und wieder annähernd, führt sicher zur Mitte – ich muss nur Fuß vor Fuß setzen. Der andere fordert mich heraus, an jeder Kreuzung eine Entscheidung zu treffen, dem Verstand oder mir selbst zu vertrauen.


Für die Arbeit in der Gruppe

Für einen Nachmittag oder Abend zum Thema bietet es sich an, nach einer kurzen Einführung anhand des Textes gemeinsam in einem großen Garten oder auf einem anderen geeigneten Platz ein Labyrinth zu legen. Dazu eignen sich lange breite Bänder oder Seile. Das Labyrinthmuster kann geschmückt werden mit Blumen, Zweigen, Steinen und anderen Naturmaterialien, die sich im Sommer finden. Auch Früchte sind möglich, die als Wegzehrung gegessen werden können.

In Anlehnung an den antiken Tanzplatz kann die Gruppe zum Kanon „Wechselnde Pfade“ im Pilgerschritt (3 Schritte vor, und auf 4 wiegen) an einem Seil gefasst in die Mitte tanzen. Es ist oft nicht möglich, in der Mitte zu wenden, also drehen sich die Tanzenden um. Die Letzte ist nun die Erste und führt die Schlange wieder nach außen. Wenn Sie sich die Mühe machen, ein Labyrinth zu legen, wäre es schön, dies an einem Platz zu tun, wo es einige Zeit verbleiben kann. So können die Frauen auch später noch einzeln ihren Weg ins Labyrinth gehen.


Segen zum Abschluss:

Du Gott,
segne unsere Schritte
 auf die Menschen hin,
 dass wir uns dorthin wenden,
 wo wir gebraucht werden.
Segne unsere Augen,
 die erfüllt sind vom Licht des Himmels
 und den Farben dieser Erde,
 dass sie dieses Licht ausstrahlen.
Segne unsere Ohren,
 die deine Worte aufgenommen haben,
 dass sie in allem die leisen Töne deiner
 Gegenwart vernehmen.
Segne unsere Hände,
 die zärtlich berührt haben,
 was du
 geschaffen hast,
 dass sie sich öffnen können, das zu
 geben, was du hineingelegt hast.
Segne unsere Gedanken und 
 Empfindungen,
 die sich neu ausgerichtet haben,
 dass sie uns helfen, den Weg des
 eigenen Lebens zu finden.
 Amen


Ilona Helena Eisner, geb. 1966, ist Freiberufliche Moderatorin, Kommunikations- und Motivationstrainerin. Ehrenamtlich ist sie im Präsidium der EFiD zuständig für die Publikationen des Verbands.


Verwendete Literatur:

Gernot Candolini: Die Faszination der Labyrinthe. Das Praxisbuch, München (Kösel-Verlag) 2007
Heide Göttner-Abendroth: Für Brigida – Göttin der Inspiration, Frankfurt (Verlag Zweitausendeins) 2000
Ilse Siefried: Das Labyrinth oder die Kunst zu wandeln, Innsbruck (Haymon-Verlag) 2002
Ein Labyrinth für das Kloster Helfta, Hg.: kfd Diözesanverband Magdeburg, Referat Frauenseelsorge im Bistum Magdeburg, 2002


Anmerkungen:

1 Sehr verkürzt wiedergegeben nach:
www.stadtbibliothek.wolfsburg.de/
GeistundGehirn-Schluesseltexte/feminismus.html
2 Vgl. www.begehbare-labyrinthe.de
3 Ilse M. Siegfried, S. 30
4 Ebd., S. 190

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