Alle Ausgaben / 2012 Artikel von Ursula Reichert und Bettina Strübel

Geh aus, mein Herz

Frauensingen im Jahr der Kirchenmusik

Von Ursula Reichert und Bettina Strübel


Das Jahr der Kirchenmusik 2012 im Rahmen der Lutherdekade steht unter dem Motto „Singen“ und „Lied“.

Lieder begleiten uns durch unser Leben. Musik erfreut uns, macht glücklich, fröhlich, wach, ruhig, aufmerksam. Im Singen drücken wir unsere Gefühle aus, Freude und Trauer, Sehnsucht und Not. Und die Musik bindet uns auch ein in ein großes Gemeinsames, das schon immer bestand und bestehen wird: die Welt der Klänge.

Harmonia mundi

Wir sind Teil des Ganzen und doch einzigartig. Wir sind miteinander verbunden, indem wir miteinander schwingen, indem einzelne Schwingungen ein Ganzes, einen Klang ergeben. Dieser Gedanke der Harmonie der Menschen mit dem Kosmos ist seit der Antike das Bild für das Verhältnis der Menschen zueinander, zur Welt und zu allem, was dahinterstehen mag, dem Transzendenten, „Gott“ genannt.

Mensch zwischen Himmel und Erde, eingespannt in die Kreise des ewigen unhörbaren Klingens der Sphären, dieses Bild sieht auch Hildegard von Bingen in ihren Visionen. Wer in diese unhörbare Harmonie hineinhört, kann sich mit der Welt und mit dem Darüberhinausgehenden, dem Transzendenten, mit Gott verbinden. Sich einbinden in die harmonia mundi, die kosmische Harmonie. Wie diese Verbindung geschieht, ist ein Geheimnis, der „Zauber der Musik“, dessen Wirkweise seit Jahrtausenden ergründet werden will.

Die verschiedenen Wirkweisen der Musik auf unsere Gefühle werden im Mittelalter verschiedenen (sog. „Kirchen“-)Tonarten zugewiesen. In der Einstimmigkeit sind solche Wirkweisen versuchsweise zu erspüren. Die einstimmigen Lieder Hildegards sind gregorianische Musik, wie sie heute noch in der katholischen Kirche gesungen wird.

Das geschriebene Wort findet seine vollkommene Gestalt erst im Klang, im chorischen Gesang. Dazu bedarf es des Atems, des belebenden Pneumas. Hildegard hat ihre komplexen, weit ausholenden Gesänge mit Hilfe der mittelalterlichen Neumen (griech. neuma = Wink) notiert, mit deren Hilfe das geschriebene Wort durch den Atem Klang wird. Möchten Sie das selbst einmal ausprobieren?

Übung: Erfahren der Welt-Harmonie
Wir gehen in unserem eigenen Tempo durch den Raum. Auf einige Schritte atmen wir auf f-f-f-f aus. Das Einatmen lassen wir von alleine geschehen – öffnen den Mund und lassen die Luft in uns einströmen. Dabei setzen wir den Fuß neben den anderen (Parallelschritt) und bleiben so einen Moment stehen. Im Rhythmus gehen wir weiter – atmen aus, spüren, wie viele Schritte wir ausatmen wollen – bleiben stehen und genießen die tief einströmende Luft.

Nach einiger Zeit atmen wir auf klingende Konsonanten (m, n, g) aus, jeweils in verschiedenen Tonhöhen. Wir nehmen unseren Klang wahr und auch, wie er sich mit dem Klang der anderen verbindet. Dabei variieren wir unsere Klänge in Tonhöhe und auch Intensität. Nach und nach gehen wir in Vokalklänge (a, e, i, o, u) über, immer noch in unserem eigenen (Schritt-) Rhythmus. Wir spüren den Klang in uns und wir spüren, wie er sich mit dem Klang der anderen verbindet. Vielleicht hilft uns die pythagoräische Vorstellung, dass bei der Bewegung der Planeten Töne entstehen, deren Höhe von Abständen und Geschwindigkeiten der Himmelskörper abhängt. Die Töne ergeben einen harmonischen Zusammenklang (griech. symphonia). Wir lassen unsere Sphärenmusik ausklingen, bleiben stehen und genießen die Stille.

Wir können die Übung mit einem vorgegebenen Grundton wiederholen. Der Grundton, zum Beispiel „d“, wird auf der Orgel gespielt (Prinzipal 8', evtl. Taste einklemmen) oder immer wieder auf dem Klavier angeschlagen. Für uns selbst sind weiter alle Töne „erlaubt“. Was ändert sich, wenn ein Grundton vorgegeben ist? Gibt mir der Bezug auf den Grundton mehr Sicherheit oder schränkt er mich ein?

Nach dem Verklingen der grundtonbezogenen Sphärenharmonie können wir einen Choral, der auf diesem Grundton steht, gemeinsam anstimmen. Besonders gut geeignet sind dorische Melodien wie „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (EG 7), „Korn, das in die Erde“ (EG 98) oder „Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ (EG 107).

Übung: Modale Musik
Ausgehend von einem Lied können wir die starke innere Kraft der Kirchentonarten (Modi) erfahren. Wir wollen die phrygische Tonart – häufig für Trauermusik verwendet – von dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) aus erspüren. Grundton ist nun ein e', das wieder auf der Orgel ständig erklingt oder von einem Teil der Gruppe gesungen wird. Die anderen singen den Choral in der ihnen geläufigen Form. Frau spüre an den Zeilenenden die Spannungen, die sich zum Grundton ergeben.

Bei einem weiteren Singen des Liedes können einzelne auf beliebigen Tönen stehenbleiben, während die Gruppe weiter singt. Wird irgendwann dieser Ton in der Melodie wieder erreicht, kann frau wieder in die Melodie „zurücksteigen“. Sie kann aber auch bis zum Ende der Strophe auf ihrem Ton stehenbleiben und den Klang genießen.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass jede Frau die Melodie in ihrem eigenen Rhythmus singt. Wenn Töne ihr wichtig erscheinen, kann sie darauf ein wenig verweilen. Vorher wird abgemacht, wo auf alle gewartet wird, zum Beispiel an den Zeilenenden. So singen alle das gleiche Lied, jedoch jede auf ihre ganz eigene Weise. Jede ist ganz bei sich und nimmt doch die anderen Frauen wahr, wenn aufeinander gewartet wird. Der Grundton bildet die Basis, auf die sich alle beziehen.

Übung: „O virtus sapientiae“
Hildegards Antiphon steht im e-Modus. Wir können das Stück auf CD hören und dabei ständig das e, den Anfangs und Schlusston summen oder singen. So sind wir Teil der Antiphon. Vorneweg kann eine deutsche Übersetzung vorgelesen werden, evtl. begleitet von einem leisen Grundton e' gesungen oder gesummt von den anderen Frauen. Dieser Klangteppich kann den Weg der Worte Hildegards zu unserer Seele öffnen. – vereinfachte dt. Fassung unter: www.frauenseelsorge-bayern.de (Materialien / Liturgie / Gottesdienste: O Kraft der Weisheit)

Lieder in der Reformation

Martin Luther kannte die Kraft der Musik, Herzen und Gefühl der Menschen zu erreichen und vertraute für die Verbreitung der Reformation der Musik und den Liedern, die er ins Deutsche gebracht hatte oder selbst neu dichtete. „Die Musik ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes; sie vertreibt den Teufel und macht die Menschen fröhlich.“

Als Instrumentalmusik kann Musik das Absolute, das Transzendente ausdrücken. Mit Text verbunden wird ihr Wirken gezähmt und auf ein Ziel ausgerichtet. Das Lied ist also der beste Ausdruck einer gezähmten, in den Dienst – Gottes – gestellten Kraft der Musik. Für Menschen, die nicht lesen konnten, jedenfalls nicht Lateinisch, waren deutsch-sprachige Lieder eine Art musikalischer Bilderbibel. Gesangbuchsammlungen waren daher neben Flugblättern die wichtigsten Mittel, um das reformatorische Gedankengut zu verbreiten.

Frauen waren in der Reformation auch als Lieddichterinnen tätig – als erste Elisabeth Cruciger/Creutziger um 1500 bis 1535 in Wittenberg. Sie war als Kind ins Kloster gebracht worden. Durch Bugenhagen lernte sie reformatorisches Gedankengut kennen, trat aus dem Kloster aus und heiratete den Schüler und Mitarbeiter Luthers Caspar Cruciger. Ihr Epiphanias-Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ wurde bereits 1524 im zweitältesten evangelischen Gesangbuch, dem „Handbüchlein“, in Erfurt veröffentlicht. Frauen spielten also eine Rolle in der Verbreitung der Reformation – wie sie bereits deren Boden mit bereitet hatten durch ihre devotio moderna, eine Frömmigkeit neuer Art, die in zahlreichen Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts gepflegt wurde.

Übung: Herr Christ, der einig
Dies ist das einzige überlieferte Lied von Elisabeth Cruciger in unserem Gesangbuch (EG 67). Wir singen zunächst die erste Strophe.

Der Abschnitt am Schluss des ersten Melodieteils „Vaters in Ewigkeit“ bzw. „gleichwie geschrieben steht“ und am Schluss „vor andern Sternen klar“ ist rhythmisch besonders schwungvoll. Wir klatschen diesen Rhythmus zunächst nur, singen dann die erste Strophe noch einmal mit Klatschbegleitung an diesen Stellen. Für die weiteren Strophen bilden wir zwei Gruppen: Eine Gruppe singt, die andere übernimmt das Klatschen.

Nun wählt jede Frau eine Strophe aus, die sie besonders anspricht, und schreibt auf ihre Strophe ein Elfchen. Das ist ein kurzes Gedicht aus elf Wörtern, die auf fünf Zeilen verteilt werden: 1. Zeile – 1 Wort / 2. Zeile – 2 Wörter / 3. Zeile – 3 Wörter / 4. Zeile – 4 Wörter / 5. Zeile – 1 Wort

Die ausgewählte Strophe soll unsere Phantasie anregen, sie muss nicht im Gedicht wiedergegeben werden. Nach ca. 10 Minuten wird das Lied noch einmal gesungen. Nach jeder Strophe kann, welche mag, ihr Elfchen auf die eben gesungene Strophe vorlesen.

Austausch: Wie habe ich „meine“ -Strophe wahrgenommen? Wie haben die Elfchen der anderen mein Verständnis des Liedes verändert?

Welche weiteren Lieder von Textdichterinnen gibt es im EG? Wenn noch Zeit ist, können sie gesungen werden.

Klösterliche Musik

Alle 150 Psalmen, die Lieder des Alten Testaments, werden in den Klöstern im Stundengebet wöchentlich gebetet oder auch mit Klang rezitiert (Psalmtöne). Vor einigen Jahren wurden sie für den heutigen geistlichen Gebrauch ins Deutsche gebracht und in einer praktischen ökumenischen Ausgabe mit Psalmton und Antwortruf verfügbar (siehe Literaturhinweise). Die Musik gibt den Texten eine zusätzliche Form – der kurze Antwortruf prägt sich durch Wiederholung leicht ein. Wiederholung ist ein Merkmal aller meditativen Musik – von den indischen Mantren aus der Zeit vor 3000 Jahren bis zu den Liedern aus Taizé. Wiederholung vertieft die Texte, lässt Anspannung und sängerische Ansprüche geringer werden, die Musik lädt ein, sich dem einfachen Hiersein im Singen hinzugeben. Die Gedanken kommen zur Ruhe, der Atem wird gleichmäßiger.

Übung: Psalmen singen
Versuchen Sie das einmal: einen Ton singen, der mir heute gemäß ist, dann auf diesen Ton einen Psalmvers singen: Wie verändert sich der Text, wenn ich ihn auf diese einfache Weise singe? Wie verändern sich Atem und Gedanken?

Das Wort bestimmt den Rhythmus und die Länge des Tons: Wie fühlt sich das an?

Übung: Taizé-Gesänge
Ein einfaches Lied wie „Wachet und betet“ singen – mit dem Atem fließen lassen – länger wiederholen (5-10 Min.) und wahrnehmen: Wie geht mein Atem? Wie kann ich so singen, dass es möglichst einfach geht und stundenlang weitergehen könnte? (Muskeln am Hals, Schultern, Arme bewusst entspannen, Zunge, Mund, damit die Stimme allmählich lockerer werden lassen). Was machen meine Gedanken bei 20 mal Wiederholung?

Austausch: Was ist passiert? Konnte ich die Stimme entspannen? Wurde ich abgelenkt von Gedanken? Was hat mein Körper geantwortet?

Singende Meditationspraxis: Mag ich das Lied malen oder schreiben? – (siehe S. 49: Liste der 12 Übungen von C. Reich)

FrauenSingen

Wir können uns also als Frauen in vielen Weisen dem Singen nähern und die Kraft der Musik auf uns wirken, uns in sie hineinnehmen lassen – auch wenn das frühchristliche Schweigegebot für Frauen (1 Kor 14,34f) bis heute nachwirkt. Ein Ziel des Projektes FrauenSingen ist, dem etwas entgegenzusetzen, sich mit Frauengeschichten, mit der eigenen Musik-Geschichte zu beschäftigen und singend eigene Wege und Freude zu finden.

In der Ev. Kirche von Hessen und Nassau gibt es seit 2007 das „Forum Frauensingen“ – Frauenchortreffen mit Workshops zu Singthemen, Stimme und Stimmbildung. Seit 2010 sind die Ev. Frauen in Hessen und Nassau dabei; in Zusammenarbeit mit dem Fachausschuss Frauenchöre im Verband Ev. Chöre in Hessen und Nassau gibt es derzeit einen jährlichen Singtag Frauensingen. Frauensingen-Workshoptage an Frauen(chor)orten zu jahreszeitlichen Themen, Frauenthemen und Stimmbildung, Frauensingwochen, Frauensingreisen sind in gemeinsamer Planung. Auch das Thema Frauen, Musik und Reformation wird in weiteren Veranstaltungen vertieft. – mehr unter:
www.chorverband-ekhn.de/frauenchoere

Frauen singen. Singt, Frauen! Unwichtig ist dabei, ob ich gerne alleine singe oder lieber in Gemeinschaft. Möge jede sich zur der für sie „richtigen“ Art verlocken lassen.

Ursula Reichert ist Musikwissenschaftlerin und Musiktherapeutin. Die C-Kirchenmusikerin für Chorleitung ist Mitglied im Fachausschuss Frauenchöre im Verband Ev. Chöre in Hessen und Nassau und koordiniert das Frauensingen.

Die A-Kirchenmusikerin Bettina Strübel ist Kantorin und Organistin. Besonders liegt ihr die mittelalterliche Musik am Herzen; beim Frauensingen 2012 leitet sie darum auch den Workshop Hildegard von Bingen.

Zur Vertiefung
Marianne Richert Pfau, Stefan J. Morent: Hildegard von Bingen. Der Klang des Himmels, Köln 2005
CD: Hildegard von Bingen: In festis beatae Mariae virginis. Ars Choralis Coeln. Maria Jonas. Edition raumklang. Schloss Goseck 2009
Christa Kirschbaum: Melodiespiele mit Gesangbuch-Liedern mit fast 200 Beispielen zum improvisatorischen Gemeindesingen. Band 1 der Reihe „Singen bewegt – Neue Zugänge zum Singen in der Gemeinde“. Inkl. CD. München (Strube Verlag) 2005
Wolfgang Teichmann: Choral-Groove. Rhythmusspiele und einfache Körper-Begleit-Rhythmen zu Gesangbuchliedern,  Inkl. CD. München 2006.
Preisungen. Psalmen mit Antwortrufen, hg. von Godehard Joppich, Christa Reich und Johannes Sell, Münster-schwarzach 1999, 32005 / dazu CD: Preisungen – Responsoriale Psalmodie, Münsterschwarzach, Vier-Türme-GmbH-Verlag

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