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Geh, wohin dein Herz dich trägt

Von Dietlind Schaale


Voller Neugier und Offenheit, aber auch von Ängsten und Unsicherheit begleitet, hatte ich mich auf meine ersten Straßenexerzitien eingelassen. „Geh, wohin dein Herz dich trägt – du brauchst kein Konzept.“ Diese Botschaft aus einem Traum ließ mich nicht mehr los. Sie setzte mich am folgenden Tag auf einen Weg, von dem ich reich an Erfahrungen und mit erfülltem Herzen am Abend in unser Pilgerquartier zurückkehrte.

Ein blauer Himmel und spätsommerlich angenehme Temperaturen locken mich zunächst an die Isar. Dem Fließen des Wasser zuschauen, meine Füße ins Wasser hängen und einfach nur sein. Was es wohl mit meinem Traum auf sich hat? Als ich nach einer Weile aufstehe, trifft mein Blick auf einen Mann – seine indianische Abstammung ist unverkennbar. Einige leere Bierflaschen stehen vor ihm; aus einer anderen nimmt er immer wieder einen Schluck. Unsere Augen treffen sich, in mir ist der Impuls nicht weiterzugehen, sondern diesen Mann anzusprechen. Ich frage ihn, ob ich mich zu ihm setzen dürfe und ob er deutsch verstehe. Ja, sagt er, und lädt mich ein, mich zu ihm zu setzen. Eine Begegnung beginnt, unvergesslich und nachhaltig für mich – und für ihn wohl auch.

T. vertraut mir seine ganze Lebensgeschichte an, erzählt von seiner Familie, seinem Scheitern im Medizinstudium und in seiner Beziehung zur Mutter seines Sohnes. Er macht keinen Hehl aus seinem Alkoholproblem und erzählt, dass er jetzt seit einem halben Jahr in einem Obdachlosenquartier hier in der Nähe wohnt. Sichtlich berührt wiederholt er immer wieder: „Dass du mir so einfach zuhörst!“ Trotz allem habe das Schicksal es gut mit ihm gemeint, sagt er. Plötzlich hält er inne und meint, jetzt habe er mir sein ganzes Leben erzählt, nun müsse ich ihm auch aus meinem Leben erzählen. Ich zögere einen Augenblick. Jetzt gilt es, „meine Schuhe ein zweites Mal auszuziehen“ – das erste Mal zog ich sie aus, als ich seinem Blick nicht auswich und mich zu ihm setzte. Ich erzähle vom erst wenige Monate zurückliegenden Tod meiner Mutter, und dass auch mein Vater und mein Bruder schon über zehn Jahre nicht mehr leben und dass ich jetzt die einzige aus meiner Herkunftsfamilie bin,
die noch lebt. Mir laufen Tränen über mein Gesicht. T. ist voller Anteilnahme, wir umarmen uns spontan,
T. sagt seinen Namen und ich meinen.
Es ist ein sehr berührender und unvergesslicher Augenblick, wahrhaftig, offen und absichtslos. Wir haben einander unsere Verletzlichkeit und Heilungsbedürftigkeit gezeigt. T. erzählt mir noch, dass er dringend auf die Zusage einer Therapie wartet, um vom Alkohol loszukommen. Er will ein neues Leben beginnen und ist voller Hoffnung.

Ich erinnere mich an den kleinen Schutzengel in meiner Hosentasche, der mich immer begleitet, wenn ich unterwegs bin. Spontan schenke ich T. den kleinen Engel, sage ihm, dass er ihn jetzt wohl nötiger brauche als ich und dass er ihn begleiten und beschützen werde. Die Begegnung mit T. hat noch viele Facetten – ein Telefonat mit seiner Schwester, ein Mittagessen im indischen Restaurant, ein Besuch der Obdachlosenunterkunft, wo er derzeit lebt mit seinen wenigen Habseligkeiten. Schließlich verabschiede ich mich von T., erfüllt, innerlich reich beschenkt durch eine ungewöhnliche, sehr kostbare Begegnung. Mir kommen die wenigen Stunden fast wie eine Woche vor, weil ich so viel erlebt habe, weil ich mehrfach „meine Schuhe auszog“, indem ich meine Klischees und Vorurteile abgelegt, meine mir vertraute Welt verlassen habe. Nachdem meine Achtsamkeit durch die voraufgegangenen Tage bei den Straßenexerzitien gewachsen war, konnte ich die Botschaft meines Traumes in der Nacht zuvor umsetzen und tatsächlich ohne Konzept losgehen und der Stimme meines Herzens vertrauen. Hier war das göttliche Geheimnis mit im Spiel!

Dietlind Schaale

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