Ausgabe 1 / 2013 Andacht von Bärbel Fünfsinn

Gemeinsam tun, was Not tut

Andacht zur Missio Dei

Von Bärbel Fünfsinn

21Jesus ging danach von dort weg und zog sich ins Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. 22Und seht, eine kanaanäische Frau aus jener Gegend kam herbei und schrie: „Erbarme dich meiner, Jesus, Nachkomme Davids, meine Tochter ist krank durch einen Dämon.“

23Jesus antwortete ihr mit keinem Wort. Seine Jüngerinnen und Jünger kamen dazu und baten ihn: „Befreie sie, denn sie schreit hinter uns her.“ 24Er sagte: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ 25Sie aber kam, fiel vor ihm nieder und sagte: „Hilf mir, Jesus.“
26Er antwortete: „Es ist nicht gut, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen.“ 27Und sie sagte: „Ja, das stimmt, doch die Hunde fressen von den Krümeln, die vom Tisch der Menschen fallen.“ 28Da antwortete Jesus und sagte zu ihr: „Frau, dein Vertrauen ist groß. Es geschehe dir, wie du willst.“ Und ihre Tochter war geheilt von jener Stunde an.
Mt 15,21-28 (BigS)

Alle haben Bibeln oder Kopien der Textstelle. Der Text wird laut und langsam vorgelesen. Dann werden die ZuhörerInnen gebeten, ein Wort oder einen Halbsatz zu nennen, das/der ihnen aufgefallen ist. – Kopiervorlage für AbonnentInnen unter www.ahwz-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet

Worum es geht in Gottes Mission
Jesus war sich seiner Mission gewiss. Das lebte er und dem entsprechend handelte er. Und doch passiert es in dieser Geschichte, dass eine fremde Frau ihn auf Grenzen seines Missionsverständnisses hinweist. Interessanterweise geschieht das auch geografisch in einem Grenzgebiet – nicht mehr auf vertrautem Terrain. Jesus hat die ihm bekannten Orte verlassen und trifft auf eine Ausländerin. In der Begegnung mit ihr muss er sich mit ihrer Sichtweise auseinander setzen. An unbekannten Orten wird ein anderer Blick auf die Wirklichkeit eingeübt. Menschen müssen sich neu davon überzeugen, worauf es ankommt.

Die syrophönizische Frau führt den Dialog, indem sie von ihrer bedrängenden Not ausgeht. Dadurch wirft sie die Frage auf, worauf es im Leben ankommt, was wirklich wichtig ist. Und so macht die Geschichte deutlich, dass es im jüdisch-christlichen Glauben nicht um das Bekenntnis zum rechtmäßigen Glauben geht, sondern darum, dem Leben zu dienen. Menschen sollen über alle religiösen und nationalen Grenzen hinweg gesund werden und Heil(ung) erfahren. Das ersehnte und erwünschte Heil beginnt mitten im Alltag. Der große Traum, der dahinter steht, spricht von einem Leben in Würde, in Frieden miteinander und spricht von „Gott mit uns“. Dass dies geschieht – das ist der Auftrag an Jesus und seine NachfolgerInnen.

Jesus und die Ausländerin
Die syrophönizische Frau, eine Heidin (vgl. Mk 7,26), erwartet etwas von dem Juden Jesus. Es hatte sich wohl bis zu ihr herum gesprochen, dass er ein Wunderheiler war. Sie ist bestimmt von ihrer Sorge. Ihr drängendes Anliegen ist, dass die von einem Dämon besessene Tochter geheilt wird. Vielleicht wurde sie später eine Jesus-Nachfolgerin, das „Kyrie“ in Mk 7,28 deutet es an. Vielleicht auch nicht.

Jesus lässt sich zunächst nicht von ihrem Leiden berühren, sondern von ihren Argumenten ansprechen. Dann aber, angesichts ihres leidenschaftlichen Einsatzes für ihre Tochter, ändert er das Verständnis seiner Sendung. Er versteht, dass die Frohe Botschaft nicht nur dem jüdischen Volk gilt, sondern all denen, die sie brauchen. Gott will Heil und Heilung für alle.

Allerdings geht der Veränderung Jesu eine schwierige und für die Frau verletzende Begegnung voraus. In Matthäus 15,22 schreit sie zuerst laut, aber Jesus will sie nicht hören. In Markus 7,25 wirft sie sich ihm gleich zu Füßen und trägt ihre Bitte vor. Sie bittet nicht für sich, sondern für das Leben ihrer Tochter. Um das zu erreichen, was ihr absolut notwendig erscheint, lässt sie sich demütigen. Jesus speist sie mit wenigen Worten ab, vergleicht sie mit einer Hündin. Noch immer protestiert sie nicht, führt stattdessen klug die Logik der Geschichte weiter: Die Hunde bekommen nicht das Brot, sondern die Brotkrümel vom Tisch der Menschen. Diese Antwort bringt die Wende bei Jesus.

Hier wird nicht nur das übliche Denkschema durchbrochen, das Jesus als unfehlbaren Messias darstellt, der nichts mehr lernen muss, sondern auch das Rollenschema, das wir in die damalige Zeit gerne projizieren: Eine Frau hatte von einem Mann zu lernen und nicht umgekehrt. Hier lernt ein Mann von einer Frau. Jesus erweitert seinen Horizont, geht über die üblichen Grenzen seines Denkens hinaus und tut das, was Not tut: Er heilt die Tochter. Jesus stellt sich der Not des Lebens, lässt sich auf die konkrete Begegnung mit der Nicht-Jüdin ein und verändert sich, ändert seine Überzeugung.

Nach einer kurzen Stille liest die Leiterin das folgende Gedicht vor:

SIE SOLL LEBEN
am Anfang war das Wort
am Anfang war die Begegnung
zwischen Ich und Du

zwischen der syrophönizischen Mutter
und
Jesus, einem jüdischen Rabbi

sie – eine Ausländerin
nicht recht gläubig
eine Frau

er – ein Jude
Gesandter Gottes
mit göttlicher Mission
für sein Volk
ein Mann

am Anfang war ein Schrei
die Frau voller Sorge
ihre Tochter ist krank

kein Raum für theologische Debatten
die Tochter von einem Dämon besessen
sie sucht Heilung für ihr Kind
religiöse Grenzen
zählen nicht
ihre Tochter ist krank

eine ungehorsame Frau
unverschämt aufdringlich
im Mittelpunkt ihr Anliegen
ihre Tochter ist krank

und Jesus
der später geglaubte Messias
weist sie ab
seltsam schroff
„es ist nicht recht…“
wer bestimmt das Recht?

seine Mission gilt Israel
Gottes Kindern
nicht Fremden
Andersgläubigen
Hunden

die Frau kämpft
mit Worten
Hunde fressen die Krümel

sie macht Eindruck
ihr Schrei-Wort hat Gewicht
ihre Tochter soll leben

Jesus lässt sich bewegen
er lernt
Gottes Heil gilt für alle
das syrophönizische Mädchen wird gesund

to god – das tun, was Not tut
In der Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben, müssen wir uns immer neu darüber klar werden, was die missio dei, die Mission Gottes, bedeutet. Was ist die Gute und Frohe Botschaft in unserer Zeit – angesichts der Zerstörung von Mutter Erde, von zunehmendem Militarismus, eines internationalen Kapitalismus, der immer mehr Menschen in die Armut führt? Dazu müssen wir uns aus den vertrauten Kreisen begeben und über Grenzen gehen.

Die missio dei, Gottes Mission, ist nicht unabhängig von unserem Erkennen und unseren Erfahrungen. Da ist keine Macht außerhalb von uns, von oben, die uns ein bestimmtes Denken und Tun gebietet. In Begegnungen mit anderen, in Auseinandersetzungen mit aktuellen Problemen und aufgrund unserer Frömmigkeit und christlichen Tradition gelangen wir zu dem, was wir „unsere Mission“ nennen. Diese drückt sich in unserem Handeln, in unserer Lebensweise weitaus klarer aus als in Worten.

Aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie stammt der Begriff „Orthopraxie“, das rechte Tun, im Unterschied zur „Orthodoxie“, der rechten Lehre bzw. dem rechten Glauben. Das Tun des Göttlichen, to god nennt es die US-Theologin Carter Heyward, die Trauernden zu trösten und die Hungernden zu sättigen, hat einen Vorrang vor dem „frommen“ Reden. Eindrücklich veranschaulicht das die Geschichte von Jesu Umdenken beziehungsweise von der Begegnung zwischen Jesus und der Frau aus Syrophönizien. Das „Gott-Tun“ geschieht nicht allein durch Jesus, sondern ebenso durch die syrophönizische Mutter, die unablässig Heilung einfordert und verzweifelt vertraut.

Die TN werden eingeladen, zunächst kurz in Stille über die eben gehörte Aussage nachzudenken: Das rechte Tun ist unsere Mission – und es hat Vorrang vor der rechten Lehre und dem „frommen“ Reden. – evtl. Zettel und Stifte für Notizen bereithalten

Lied
Gott gab uns Atem
vollständig singen oder nur 3. Strophe:
Gott gab uns Hände … (EG 432)

Dialogfähig werden
Jesus gibt hier kein gutes Beispiel für den Umgang mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Kulturen und Religionen. Wie in einem Spiegel können wir Christinnen und Christen, die wir in Deutschland die religiöse Mehrheit bilden, uns in seinem Verhalten wiedererkennen. Jesus wirkt arrogant und im Besitz der Wahrheit, wenn er sich ausschließlich an sein Volk richten möchte. Wir Christinnen und Christen in Deutschland wirken auch so, wenn wir Menschen anderen Glaubens, vor allem des Islam, vermitteln, ihre Religion sei mit dem Christentum nicht auf eine Stufe zu stellen. Und wenn wir aus einem falsch verstandenen Missionseifer heraus meinen, wir müssten sie womöglich für das Christentum gewinnen.

Dialogfähigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass beide Gesprächsteilnehmenden die Haltung einer/eines Lernenden einnehmen und radikalen Respekt vor der oder dem anderen haben. Respekt ist mehr als Toleranz, ist vielmehr eine Haltung der Empathie, der Versuch, die Welt aus der Perspektive der/des anderen zu sehen. Das Geheimnis des Dialogs ist, dass wir für neue Einsichten offen sind und bereit, lang gehegte Annahmen in Frage stellen zu lassen. Vor allem aber kann Dialog nur dann gelingen, wenn wir von Herzen sprechen, vom dem reden, was uns wirklich wichtig ist. Und jeder und jedem die Zeit geben, die sie oder er zum Sprechen braucht.(1)

In unserer Geschichte musste auch Jesus diese Haltung mühsam lernen, angestoßen durch eine mutige und geistesgegenwärtige Frau. Heute müssen Christinnen und Christen im Dialog mit Muslimen diese Haltung einüben. Denn das Gespräch untereinander ist schwierig, trotz viel versprechender Ansätze. Islam-feindliche Publikationen und abfällige Aussagen von Personen aus Politik und weiten Teilen der Gesellschaft, darunter auch Kirchen, demütigen Muslime in unserem Land. Sie werden nicht „Hunde“ genannt. Pauschale Bezeichnungen als „Islamisten“ aber stellen sie unter Terrorismusverdacht.

Im letzten Sommer startete die muslimische Gemeinde in Hamburg eine ebenso freundliche wie intelligente Bewusstseinsaktion. Plakate zeigten eine junge Frau mit Kopftuch oder ein Mann mit schwarzen Haaren und Schnurrbart. Neben ihren Fotos standen Name, Berufswunsch und Heimatstadt. Es hieß: „Hamburgerin, Hamburger und Muslima bzw. Muslim. Überrascht?“

Kopien des Plakats werden angeschaut. – kurzer Gedankenaustausch
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Ja, wir sind immer noch überrascht und gewöhnen uns nur langsam daran, dass verschiedene Religionen in Deutschland zu Hause sind. Doch es ist höchste Zeit, dass wir unser Selbstverständnis als Vertreterinnen und Vertreter der alleinigen wahren Religion ablegen und verstehen lernen, dass andere Religionen – wie wir – einen Schlüssel zur Wahrheit, zu dem Geheimnis des Lebens haben. Dazu gehört das Wissen und Eingeständnis, dass es in allen Religionen, auch in unserer, Verfremdungen und menschenverachtende Strömungen gibt.

Angesichts der Herausforderungen unserer Welt stehen wir gemeinsam vor der Aufgabe, das Leben auf unserem Planeten für alle in Würde zu erhalten und ermöglichen. Um dieser Mission gerecht zu werden, müssen wir nicht dasselbe glauben, aber gemeinsam handeln – jede und jeder mit den eigenen Fähigkeiten.

Gebet
Atem des Lebens, Ewige,
von dir kommen wir,
in dir leben wir
und zu dir gehen wir.
Wir wissen,
du hast uns ins Leben gerufen
und wir tragen Verantwortung.
Wir danken für unseren Verstand
und für die Begabung zu lieben.
Wir wollen deinem Geist in uns
mehr Raum geben,
damit wir dein Licht in anderen
entdecken,
im Umgang mit anderen,
unabhängig von Religion und
Überzeugung,
respektvoller sind
und gemeinsam das tun,
was heute Not tut.
Atem des Lebens, Ewige,
von dir kommen wir,
in dir leben wir
und zu dir gehen wir.
Amen

Lied
Gott, gib mir Mut zum Brücken bauen

Bärbel Fünfsinn, geb. 1962, ist Theologin und war lange Lateinamerikareferentin im Zentrum für Mission und Ökumene, Hamburg. Zurzeit ist sie an einer Stadtteilschule in Hamburg angestellt und arbeitet bei der Zeitschrift Junge Kirche für den Verein Erev-Rav mit.

Anmerkungen:
1 Vgl. Doris Strahm: Der religiösen Vielfalt Raum schaffen, Referat an der OeME-Jahrestagung des Kantons Luzerns, 28. 10. 2006, S. 7 – zugänglich unter http://www.interrelthinktank.ch/archiv/-referat_strahm_interreligioeser_dialog.pdf /
Vgl. weiter: Martina und Johannes F. Hartkemeyer,
L. Freemann Dhority: Miteinander Denken. Das Geheimnis des Dialogs, Stuttgart 2001

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