Ausgabe 1 / 2017 Artikel von Ruth Heß

Gender.ismus?

Was hinter den neuen Angriffen gegen Geschlechtergerechtigkeit und Vilefalt steckt - und wie sich dagegen vorgehen lässt

Von Ruth Heß

»Lass dich nicht besiegen vom Bösen, sondern besiege du mit dem Guten das Böse.« (Röm 12,21)

Es ist noch nicht lange her, da hatte Amerika die Wahl. Die Wahl, entweder eine überaus sachkompetente und erfahrene Frau zur Präsidentin zu wählen – oder einen totalen Politneuling, der sich im Wahlkampf vor allem durch rassistische Enthemmung und ungeschminkten Sexismus hervorgetan hatte.
Amerika hat gewählt – den „Horrorclown“ (Josef Joffe).1 Auch hierzulande steckt der Schock über diese Entscheidung vielen Menschen noch in den Knochen. Und im Superwahljahr 2017, in dem neben drei Landtagswahlen (Saarland, Schleswig-Holstein, NRW) auch der Bundestag neu zusammengesetzt wird, weckt sie Sorgen. Denn auch bei uns sind die Hassprediger_innen und vermeintlich „besorgten“ Bürger_innen unübersehbar auf dem Vormarsch. Und bis jetzt scheint noch kein Kraut gegen sie gewachsen.

Was viele allerdings nicht wissen: Neben ihrer charakteristischen Fremdenfeindlichkeit bauen rechtspopulistische Kräfte kontinuierlich ein zweites politisches Standbein auf: den Kampf gegen Gender. Hinter beidem steht dieselbe menschenfeindliche Haltung, die auf die Abwertung ganzer Personengruppen (Migrant_innen, Muslime, Frauen, Homosexuelle etc.) zielt. Doch just im Angriff auf Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt liegt das Einfallstor rechts­populistischen Gedankenguts in Teile der Kirche.

Das Phänomen ist freilich nicht neu. Schon Mitte der 1990er Jahre geriet Gender – ein englisches Wort für Geschlechtlichkeit, das seit gut 25 Jahren als Fachbegriff auch im Deutschen verwendet wird – zur Zielscheibe eines „neuen Kulturkampfes“ (Laurie Penny2). Dies anfänglich noch relativ unbemerkt, vor allem in ultrakatholischen und evangelikalen Kreisen. Inzwischen haben diese sich mit säkularen Gruppierungen wie z.B. dem organisierten Antifeminismus verbunden. So ziehen nun verschiedenste neokonservative und politisch rechtsgerichtete Kräfte unter dem Label Anti-Gender gemeinsam gegen eine offene Geschlechterpolitik zu Felde. Sie wollen ein stereotypes Bild vom Mann- und Frausein und von Familie (wieder) festschreiben und andere Lebensentwürfe (wieder) zurückdrängen. Dieses politische Ziel verbergen sie geschickt hinter einer irreführenden Kritik am Begriff Gender. Mit den immer gleichen Scheinargumenten stellen sie das Eintreten für Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt als „Genderismus“ – als lächerlichen „Genderwahn“ oder zerstörerische „Gender-Ideologie“ – dar. Damit verkehren sie das befreiende Anliegen, das zu Gender gehört, in sein Gegenteil.

Wer sind die Anti-Gender-Kräfte?

Im Kampf gegen Gleichstellung und Antidiskriminierung finden ganz unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche politische Strömungen eine Schnittmenge und verbünden sich. Vertreten sind freie Publizist_innen, Journalist_innen, vereinzelte Naturwissenschaftler, die sog. Männerrechtsbewegung, christ­liche-fundamentalistische Gruppierungen, neurechte Leitmedien sowie AfD und PEGIDA. Dabei tauchen dieselben wenigen Schlüsselfiguren immer wieder auf. Indem sie laufend aufeinander verweisen, erzeugen sie das Bild einer geschlossenen Front.

Wo äußern sie sich?

Wichtigste Plattform ihrer Stimmungsmache ist das Internet (Websites, Blogs etc.). Doch hat Anti-Gender längst auch in überregionale Qualitätsmedien (FAZ, Focus, DIE ZEIT etc.) Fuß gefasst und reicht bis in lehramtliche Texte des Vatikans hinein. Aktivist_innen schreiben auflagenstarke Bücher. Netzwerke verteilen massenhaft Broschüren oder Flug­­­blätter und organisieren Kampagnen und Demos.

Wie treten sie auf?

Die treibenden Kräfte verpacken ihre gemeinsame politische Agenda ganz unterschiedlich. Der Ton reicht von moralischen Mahnungen und Warnungen vor Gender über hämisches Lächerlichmachen bis hin zu enthemmten Verunglimpfungen und sogar Bedrohungen.
„Gender Mainstreaming ist eine von nicht richtig arbeiten wollenden, nichtsdestotrotz sehr aggressiven Lesben in die Welt gefurzte Quatschtheorie.“ (Akif Pirinçci).
„Aufklärung vor dieser teuflischen Ideologie ist […] das Gebot der Stunde.“ (Kirche in Not).

Andere geben sich betont modern und harmlos oder ahmen gar die Aktionsformen derer nach, die sie bekämpfen.
Der politische Effekt dieser Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit ist enorm. Denn mit dem breiten Spektrum gelingt es der Anti-Gender-Bewegung, ihr Feindbild an unterschiedlichste Zielgruppen heranzutragen – vom Feuilleton-Publikum über den bibeltreuen Christen bis zur Protestwählerin.

Wie funktioniert die Stimmungs­mache gegen Geschlechter­gerechtigkeit und Vielfalt?

Die Anti-Gender-Kräfte verfolgen eine Vielzahl an Taktiken, die auf den ersten Blick nicht ganz leicht zu durchschauen und noch schwerer anzugreifen sind:

1. Sie besetzen Begriffe und deuten sie in ihr Gegenteil um. Damit kommt es auch zu einer politischen und ethischen Umwertung der Werte.
Gender wird zur „Gender-Ideologie“ (G. Kuby) erklärt, Mitmenschlichkeit zum „Gutmenschentum“, die Antidiskriminierung von Minderheiten zur „Diskriminierung der Mehrheit“.

2. Sie unterstellen der Gegenseite das, was sie selbst tun (Projektion).
Anti-Gender-Kräfte wollen z.B. starre Rollenbilder vorschreiben, werfen aber denen, die für Freiheit und Vielfalt eintreten, Zwang und „Umerziehung“ vor.

3. Sie zeichnen ein gewaltiges Schreckensszenario und schüren Ängste, um eine Mehrheit zu mobilisieren, die in Wirklichkeit überhaupt nicht bedroht ist.
„Die Gender-Ideologie stellt eine Bedrohung dar, die schlimmer ist als Nazismus und Kommunismus zusammen.“ (Bischof Tadeusz Pieronek).
„Das Ziel greift hoch hinaus: Es will nicht weniger als den neuen Menschen schaffen, und zwar durch die Zerstörung der traditionellen Geschlechtsrollen.“ (Volker Zastrow).

4. Sie wiederholen unablässig dieselben haltlosen Behauptungen über ›Gender‹.
Z.B. Erniedrigung des Mannes; „Verschwulung“ der Gesellschaft; Zerstörung der Familie; „Frühsexualisierung“ von Kindern; Vergewaltigung der Sprache“; EU-Diktatur; „Gendernazis“; Steuerverschwendung; „Gender-Gaga“ (B. Kelle); unwissenschaftlich; Geisteskrankheit; antichristlich; wider die Natur; unbiblisch; „dünne Theologie“.

5. Sie verschleiern ihre menschenfeindlichen Ziele hinter ehrbaren Anliegen.
Unter dem Vorwand des Kinderschutzes werden z.B. Schulaufklärungsprojekte ver­hindert, die dazu beitragen, unter Jugendlichen Respekt gegenüber lesbischen und schwulen Menschen zu fördern und Gewalt zu verhindern.

6. Sie inszenieren sich selbst als Opfer und heldenhaften Widerstand und schlagen aus dieser Rebellion gegen einen vermeintlichen Mainstream ihr politisches Kapital.
Der Dreh- und Angelpunkt all dessen liegt darin, die geschlechterpolitische Debatte zu verwirren und Gender vom seriösen Fachbegriff zum Stigmawort zu machen, das als solches leicht zu attackieren ist. Auch hier liegt der Effekt auf der Hand: Auf diese Weise können nämlich sämtliche emanzipatorischen Anliegen, die lose mit Gender in Verbindung stehen, – von der Frauenquote bis zur Schulaufklärung über vielfältige Lebensformen – mit einem Handstreich disqualifiziert werden, ohne sie in der Sache noch weiter diskutieren zu müssen.

Was Sie tun können: Cool bleiben – nachhaken – auf den Punkt bringen

Was tun, wenn Sie solche Hetze gegen Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt miterleben oder sogar selbst angegriffen werden? Oft führt eine solche Situation zu Verunsicherung und einem Gefühl der Hilflosigkeit. In diesem Fall können folgende Strategien weiterhelfen, die gegen Stammtischparolen aller Art wirksam sind.

1. Bleiben Sie ruhig und unerschrocken. Gehen Sie über persönliche Angriffe hinweg.

2. Verzichten Sie auf eine komplizierte Verteidigung des Wortes Gender. Stellen Sie stattdessen klar, worum es dabei in der Sache geht: um Gerechtigkeit für alle und darum, dass Menschen ihr Leben in Vielfalt so gestalten können, wie es ihnen entspricht – die einen so, die anderen so.

3. Statt Schlagabtausch und moralischer Belehrungen – Fragen Sie Ihr Gegenüber lieber gezielt nach der Logik seiner „Argumente“.
„Sie leben in einer ‚normalen' Familie und haben Angst um sie?
Was würde sich denn für Sie persönlich durch die ‚Homoehe' ändern?“

4. Machen Sie den Faktencheck. Bringen Sie Ihr Gegenüber bei seiner Kritik dazu, konkret zu werden.
„Im Kindergarten soll jetzt mit Kondomen gespielt werden?
Wie hieß das Lehrbuch denn, in dem Sie gelesen haben?“

5. Decken Sie Widersprüche, Verzerrungen und Übertreibungen auf.
„Sie klagen über Meinungszensur?
Ihre Gewährsleute schreiben doch für große Zeitungen und sitzen in sämtlichen Talkshows. Wie passt das zusammen?“

6. Fragen Sie nach den konkreten Folgen politischer Forderungen.
„Die AfD fordert drei Kinder pro Familie?
Was genau bedeutet das eigentlich für die jungen Frauen und Männer in unserem Land?“

7. Kühlen Sie die Auseinandersetzung ab: Stoppen Sie das aufgeregte Springen von Vorwurf zu Vorwurf. Sorgen Sie dafür, dass jeder Punkt einzeln diskutiert wird.

8. Verlangen Sie nicht von sich, ein verhärtetes Gegenüber bekehren zu wollen. Denken Sie stattdessen an die, die bloß dabeisitzen und schweigend zuhören. Sie können Sie vielleicht zum Nachdenken bringen.

Für die Arbeit in der Gruppe

Das Faltblatt „Gender.ismus?“ erkunden
Um an der kirchlichen Basis über die rechtspopulistische Anti-Gender-Hetze aufzuklären und Argumentationshilfen zu geben, hat das Evangelische Zentrum Frauen und Männer in Hannover gemeinsam mit der Gleichstellungsstelle der Bremischen Evangelischen Kirche ein Faltblatt entwickelt.3 Jede Teilnehmerin erhält eines davon. Die Gruppenleitung erläutert die politischen Hintergründe von Anti-Gender (Seiten 1.5.6) und führt kurz in Anliegen und Aufbau des Faltblattes ein.

1. Runde (Einzelarbeit)
Gender – was bedeutet das eigentlich?
Jede Frau macht sich mit den Inhalten auf Seite 3 des Faltblattes vertraut. Mögliche Fragen dazu: Sind Sie dem Begriff Gender schon einmal begegnet? Wenn ja, wo? Welche Punkte sind laut dem Faltblatt kennzeichnend für Gender? Leuchten sie Ihnen ein? Was wäre ein geeignetes deutsches Wort für Gender?

2. Runde (Paar- oder Kleingruppenarbeit)
Variante A: Gender – wen betrifft das eigentlich?
Drei Frauen lesen gemeinsam die Fallbeispiele auf den Seiten 4 und 8. Jede wählt zwei davon aus, die sie besonders interessant findet. Mögliche Fragen für das folgende Gespräch: Warum haben Sie diese beiden Lebenssituationen ausgesucht? Wie fühlen die geschilderten Personen sich wohl? Was könnte persönlich hilfreich sein für sie? Wie ließe sich ihre Situation dauerhaft verbessern?

Variante B: Anti-Gender – wie wirkt das auf Sie?
Je zwei Frauen tauschen sich über die unterstrichenen Zitate auf den Seiten 5 und 6 aus. Mögliche Frage dazu: Wie wirkt die Sprache auf Sie? Welche Gefühle und Bilder tauchen beim Lesen in Ihnen auf? Kennen Sie eine der Urheber_innen? Woher? Was würden Sie antworten, wenn Ihnen ein solches „Argument“ begegnet?

Variante C: Geschlechtlichkeit in der Bibel – was steht da eigentlich alles?
Drei Frauen reflektieren zusammen die beiden Sprechblasen auf den Seiten 2 und 3 und schlagen Gen 1,27 und Gal 3,28 in der Bibel nach. Mögliche Fragen für das folgende Gespräch: In welchem Kontext stehen die zwei Verse? Welcher der beiden liegt Ihnen näher? Warum? Wie deuten Sie die Spannung zwischen ihnen? Was könnte das alles für die Rolle von Geschlechtlichkeit in der Kirche bedeuten?

3. Runde (Gespräch im Plenum)
Standhaft gegen menschenfeindliche Parolen – wie kann das gelingen?
Alle Teilnehmerinnen kommen über ihre Erfahrungen ins Gespräch. Mögliche Fragen dazu: Wann waren Sie persönlich schon einmal mit Stammtischparolen konfrontiert? Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Haben Sie sich eingemischt? Wenn ja, wie? Was war dabei erfolgreich, was eher nicht? Welche der Strategien auf Seite 7 hätten Sie Lust, einmal auszuprobieren?

Ruth Heß, geb. 1975, ist seit 2016 Theologische Referent_in am Ev. Zentrum Frauen und Männer gGmbH in Hannover.

Anmerkungen
1) Leitartikel in DIE ZEIT vom 16.11.16
2) S. http://laurie-penny.com/why-were-winning-social-justice-warriors-and-the-new-culture-war/ (letzter Zugriff 13.01.16).
3) Zu bestellen unter: www.gender.ismus.evangelisches-zentrum.de

Zum Weiterlesen:
Geschlechtersensibel. Gender katholisch gelesen, hg. von den Arbeitsstellen für Frauen- und Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz (2015).
http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/2015-187a-Flyer-Gender.pdf
Gender, Gender Mainstreaming und Frauen­verbandsarbeit, hg. vom Katholischen Deutschen Frauenbund (2015).
https://www.frauenbund.de/fileadmin/user_upload/Downloads/pdf/KDFB_Gender_2015.pdf
Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hg.): Anti-Gen­derismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015.
Andreas Kemper: Keimzelle der Nation? Familien- und geschlechterpolitische Positionen der AfD: Eine Expertise, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2014.
Sonja A. Strube (Hg.): Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg (Br. u.a. 2015).

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