Ausgabe 2 / 2017 Material von Aladin El-Mafaalani und Mark Terkessidis

Genug gefrickelt

Von Aladin El-Mafaalani und Mark Terkessidis

Die Herausforderungen der Einwanderung lassen sich nicht nebenbei erledigen: Wir brauchen ein Bundesministerium für Migration.

Der Begriff der „Willkommenskultur“ bringt zum Ausdruck, was weltweit – auch in Deutschland – viele überraschte. Die deutsche Hilfsbereitschaft strahlte medial in die entlegensten Orte der Welt. Gleichzeitig hören wir fast täglich von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte oder solche, die es noch werden sollen. Würden wir diese als rechtsextremen Terrorismus klassifizieren, Deutschland wäre in diesem Jahr wahrscheinlich einer der Staaten mit den meisten Terroranschlägen weltweit.
Diese Ambivalenz ist eine Realität, die politische Akteure offensichtlich überfordert. Das zeigt sich insbesondere am Bundesinnenministerium, das unter anderem sowohl für alle Angelegenheiten rund um Migration, Flüchtlinge, Asylverfahren und Integration als auch für die innere Sicherheit zuständig ist und damit auch für die Explosion des Rechtsterrorismus. Die derzeitige Krise lässt sich nicht durch das Innenministerium bewältigen, weil sie überhaupt erst durch den Zuschnitt dieser Zuständigkeiten entstehen konnte.
Wir haben es mit einer Regierungskrise zu tun, weil es in Berlin offenbar kein Organ gab, das die Situation überblicken oder gar antizipieren konnte. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist dafür nur ein markantes Symptom. Die institutionellen Frühwarnsysteme schienen derart auf Islamismusabwehr und Schuldenabbau ausgerichtet zu sein, dass alle Warnungen der Fachleute im Hinblick auf die sich verändernden humanitären und politischen Verhältnisse überhört wurden. (…)

Man sollte sich fragen: Wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten, was wäre gutes Regierungshandeln gewesen? Wofür hätte sich die Kanzlerin – mit dem Wissen von heute – einsetzen müssen, um diese Krise zu vermeiden?

Die Dublin-Regelung abschaffen: Ein Teil des Problems ist die Dublin-II-Verordnung, die nicht zuletzt auf die Initiative Deutschlands zurückging. Dieser deutsche „Cordon sanitaire“ gegen Flüchtlinge wurde 2013 durch Dublin III mit kleineren Veränderungen bestätigt. (…)

Strukturen für Expertise und Kollaborationen aufbauen: Wer hat das alles kommen sehen? Neben international vernetzten Wissenschaftlern waren dies insbesondere die vielen Nichtregierungsorganisationen und sozialen Einrichtungen. Gemeint sind nicht nur die deutschen NGOs, sondern auch jene, die in Südeuropa und in den Flüchtlingslagern in der Türkei, in Libanon und in Jordanien aktiv sind. (…)

Notfallpläne machen: Weil nicht immer alles vorausgesehen werden kann, ist es notwendig, dass wir wissen, was wäre wenn? (…)

Leitbild(er) der Einwanderungsgesellschaft entwickeln: Wir finden noch immer keinen bewussten Umgang mit der realen „postmigrantischen“ Vielheit der Gesellschaft.
Wir brauchen einen demokratischen Diskurs über das Deutschland der Gegenwart und der Zukunft. Wir brauchen auch einen – wiederum demokratischen – Diskurs darüber, wie die Grenzen dieses Deutschland beschaffen sein wollen. Die verkrampfte Art der Diskussionen, wenn es um die Integration von Migranten, die Teilhabe und Zugehörigkeit von Deutschen mit Migrationshintergrund oder um strukturellen Rassismus geht, ist in ruhigen Zeiten ärgerlich – in Krisenzeiten katastrophal. Wenn wir durch Leitbilder einen gesamtgesellschaftlichen Kompass hätten, bestünde Klarheit darüber, welche Voraussetzungen Einwanderer erfüllen sollen, wie der Prozess der Einwanderung ablaufen soll, wie sich die Institutionen interkulturell neu aufstellen müssen, aber auch, wie die Diskriminierung beseitigt werden soll. (…)

Diese Herausforderungen begründen den Bedarf für ein Bundesministerium für Migration, Interkultur und internationale Zusammenarbeit. (…)
Alle Prozesse (Islamkonferenz, „Integrationsgipfel“, Interkulturelle Öffnung), die verteilten behördlichen Zuständigkeiten (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF, Antidiskriminierungsstelle) sowie die Kompetenzen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung könnten zusammengelegt werden. Dadurch wären Einwanderung und Integration sowie die Flüchtlingsursachenbekämpfung in einer Hand. Es wäre ein bedeutendes Ministerium und würde der Tatsache gerecht werden, dass Migration kein Randthema mehr ist, sondern eine zentrale Herausforderung für das gesamte gesellschaftliche Leben. Mit der frickelnden Vorgehensweise der vergangenen Jahre, wo eine Maßnahme auf die andere getürmt wurde, können wir die Zukunft nicht bewältigen.

Nachdruck aus Süddeutsche Zeitung, SZ.de vom 20.10.2015

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