Alle Ausgaben / 1995 Frauen in Bewegung von Renate Lauf-Penner

Gertrud Bäumer

Eine Gestalt der Deutschen Frauenbewegung

Von Renate Lauf-Penner

Gertrud Bäumer wird 1873 in Hohenlimburg geboren, wächst aber zunächst in Cammin/Pommern auf, wo ihr Vater, Theologe, als Kreisschulinspektor tätig ist.

Die Phase der Kindheit endet jäh mit dem Tod des Vaters. Die junge, verwitwete Mutter kehrt mir ihren vier Kindern wieder ins Elternhaus nach Halle/S. zurück. Hier herrscht die Großmutter, deren an zehn eigenen Kindern erprobte Erziehungsweisheit allein gilt. In der Schule gilt Gertruds wissbegierige Bewunderung geschichtlichen Helden.

Später (1888) besucht sie das Lehrerinnenseminar in Magdeburg. Der Lehrstoff erscheint ihr hoffnungslos abgenutzt. Die Mitschülerinnen dagegen beschreibt sie als seelisch und geistig hungrig, als „sehnsüchtig, irgendwo dem Großen, Schönen, Lebenswerten leibhaftig zu begegnen“. Da sie das in der fremden bedrückenden Atmosphäre einer nur von Männern geprägten Schule nicht finden können, heißt es später, „und so entflohen wir ins Revolutionäre!“

1892 wird Gertrud Bäumer mit 19 Jahren als junge Lehrerin im Zechengebiet von Kamen eingesetzt, mit dem Problem der Industrialisierung, der Arbeiterfrage und der Auflösung alter Ordnungen konfrontiert. Für sie ist es selbstverständlich, sich aus christlicher Sicht und Verantwortung diesem Problem zu stellen.

Das Christentum muss sich in der sozialen Frage bewähren, das Gebot der Liebe gilt unbedingt und unter jeder Wirtschaftsordnung, und das Christentum muss seinen Sinn und seine Wahrheit neu festigen gegenüber der scheinbaren Bedrohung durch wissenschaftliche Erkenntnisse.

Dann geschieht die eigentliche Begegnung mit der Frauenbewegung und zwar in Form einer Zeitschrift: „Die Lehrerin“. Gertrud Bäumer schreibt: „Ich empfand es als seltsam überraschend, die eigene Existenz als Mittelpunkt einer Zeitschrift und sich selbst gedruckt und ausgesprochen zu sehen.“ Beglückt und überrascht gilt ihr dies als Zeichen dafür, dass eine neue Wirkensmöglichkeit und Lebensform der Frau erstarkt. 1896 lernt sie die Herausgeberin der Zeitschrift, Helene Lange, persönlich kennen, und die beiden werden Weggenossinnen und später Lebensgefährtinnen. Unermüdlich halten sie Vorträge, besuchen Frauenkongresse, veröffentlichen Programme und streiten für deren Verwirklichung, um sowohl die Lage der Frau als auch deren Bewusstsein zu verändern. 1901 geben sie das „Handbuch der Frauenbewegung“ heraus, eine Art Bestandsaufnahme über die auf vielen Einzelgebieten sich vollziehende Umgestaltung des Frauenlebens.

Grundvoraussetzungen dafür scheinen Gertrud Bäumer und Helene Lange vor allem eine umfassende Bildung und neue Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen zu sein. Die viel jüngere Gertrud Bäumer spürt ihre eigene Unzulänglichkeit und belegt Studiengänge in Philosophie, Theologie und Sozialwissenschaften, befasst sich eingehend mit dem Marxismus, um selbst eine solide Grundlage in der Frauenfrage zu gewinnen. 904 promoviert sie zum Dr. phil. in Berlin.

Gertrud Bäumer ist von 1910-1918 Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine (BdF). Sie ist dem gemäßigt bürgerlichen Flügel zuzurechnen. Der linke Flügel steht der Arbeiterbewegung näher. Dabei ist der Begriff „bürgerlich“ keineswegs in dem abwertenden Sinn, in dem er heute meist benutzt wird, zu verstehen, sondern historisch zurückgreifend auf den progressiven Gesellschaftsentwurf der Aufklärung.

Mag es vordergründig um die schärfere oder die zurückhaltendere Taktik gehen, für Gertrud Bäumer geht es um den Kern der Bewegung selbst. In ihrem Denken vertreten Frauen keine „Klasse, keine Interessen“ im üblichen Sinn. Ihr geht es darum, für unausgewertete Kräfte neue Lebensräume und -formen zu erschließen. „Rechte“ versteht sie vor allem als Anspruch auf eine Tätigkeitsspähre; diese soll Ebenbürtigkeit zum Ausdruck bringen, die sich zu bewähren hat. Sie setzt auf Bildung und Leistung im weitesten Sinn, um die Kräfte der Frau wirksam und überzeugend werden zu lassen. Die Anschauungen dieses gemäßigten Flügels der deutschen Frauenbewegung repräsentiert die Zeitschrift „die Frau“. 1893 von Helene Lange gegründet, war sie aus der Notwendigkeit geboren, im mächtigen inneren und sozialen Aufbruch der Frauen klare Richtlinien zu formulieren. Ihr Leitmotiv ist die sogenannte „Kulturaufgabe“ der Frau. Zwar sollen Frauen an der Öffentlichkeit teilhaben, ohne aber dass damit die Gegensätzlichkeit der Geschlechterrolle aufgehoben wird. An der Mutterschaft als eigentlicher Bestimmung der Frau wird festgehalten. Für die im Beruf stehende Frau wird ein Konzept „geistiger Mütterlichkeit“ entwickelt. Nicht eine unselbständige Nachahmung des Mannes gilt es, sondern die Ausgestaltung der Eigenart der Frau durch freie Entwicklung aller ihrer Fähigkeiten, um sich in vollem Maße einzusetzen für den Dienst an der Menschheit.

Als 1914 der 1. Weltkrieg ausbricht, erfasst eine Woge vaterländisch nationaler Begeisterung alle Schichten des deutschen Volkes. Als Kind ihrer Zeit lässt sich auch Gertrud Bäumer von ihr tragen. Selbst wenn für uns Nachgeborene mit der Erfahrung zweier Weltkriege und des Holocaust dieses Gefühl kaum nachzuvollziehen ist, müssen wir doch Entscheidungen und Handeln der Menschen aus ihrer Zeit heraus zu verstehen suchen.
Wir dürfen auch nicht übersehen, dass der „Dienst fürs Vaterland“ eine Chance zur Integration der Frau in Staat und Gesellschaft bot, eben die Möglichkeit, durch Übernahme von Pflichten sich Anerkennung und Rechte zu verdienen.

Auch Helene Lange und Gertrud Bäumer zeigen sich jetzt uneingeschränkt bereit, in den Dienst des Vaterlandes zu treten. Gertrud Bäumer gründet zusammen mit anderen großen Frauenvereinen parteiübergreifend bis zum linken Flügel der SPD hin, dem Roten Kreuz und städtischen Stellen den „Nationalen Frauendienst“, der um die Mitarbeit von Frauen wirbt, deren Einsatz koordiniert, die Betreuung von Soldatenfrauen übernimmt, die Lebensmittelversorgung und Einrichtung zur Kinderbetreuung sichert, Fabrikpflegerinnen bestellt und die Facharbeiterausbildung fördert.

1919 wird Gertrud Bäumer Mitglied der deutschen Nationalversammlung in Weimar und ab 1920 zieht sie als Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei, die sie zusammen mit Friedrich Naumann begründet hat, für Thüringen in den Reichstag ein.
1933  übernimmt Hitler die Macht. Für Gertrud Bäumer brechen schwere Zeiten an. Sie wird sofort als „politisch unzuverlässig“ aller Ämter enthoben und zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Daraufhin zieht sie sich nach Gießmannsdorf in Schlesien zurück, aber der Verzicht auf politisches Wirken fällt ihr schwer. Zunichte scheint, was sie als Politikerin angestrebt hatte, die Erziehung vor allem der Frauen zu sozialer Reife und zum Verantwortungsbewusstsein der freien Staatsbürgerin. Sie fühlt sich aufgerufen, reist und hält Vorträge, pflegt die Verbindung zu verfemten Freunden wie Theodor Heuss und schreibt Bücher.

Gedanken der Freiheit und des Rechtes, die Gertrud Bäumer zusammen mit Friedrich Naumann dessen national liberalem Programm zugrunde gelegt hatte, werden von den Nationalsozialisten missbraucht, ins Absurde verzerrt und zum Verderblichen entstellt. So hatte Gertrud Bäumer sich seinerzeit leidenschaftlich gegen den §218 ausgesprochen, weil er ihrer Meinung nach eine Form gröbster Brutalisierung im Umgang mit der Frau darstellte. Das greifen die Nazis entstellend auf.

Es gelingt Gertrud Bäumer zwar, die Herausgabe der Zeitschrift „Die Frau“ aufrecht zu erhalten, bis sie 1933 wegen Papiermangels eingestellt werden muss. Der Preis jedoch ist hoch! Indem sie glaubt, sich auf Frauenfragen beschränken zu können, ignoriert sie politisch anstehende Fragen. Die Machthaber benutzen das Blatt als Aushängeschild für bürgerliche Kreise im Ausland. Gertrud Bäumer scheut sich andererseits nicht, ihre beiden halbjüdischen Sekretärinnen zu schützen, jüdischen Freunden zur Emigration und Flucht zu verhelfen. Es gehört Mut dazu, am 24. November 1944 unter den Augen der Gestapo, die Grabrede für ihre ehemalige Schülerin Eva Maaß zu halten, deren Mann vierzehn Tage zuvor als Widersandskämpfer gehängt worden war.

Die Entwicklung der Kriegsereignisse zwingt Gertrud Bäumer als 72jährige, sich im Treck mit der Dorfgemeinschaft auf die Flucht gen Westen zu begeben. Bei Bonn lebend, wirkt sie nach 1945 bei der Wiedergründung der politischen Parteien und der Frauenorganisation mit, zeigt sich aber tief enttäusche darüber, dass die jungen Frauen nach dem 2. Weltkrieg weniger in „höhere“ Berufe streben, als sich nach Haus und Heim, Ehe und Familie zu sehnen. Sie heiraten für und betrachten ihre Beruf oft nur als „Job“ zur Aufbesserung ihrer Verhältnisse. Sie stirbt 1954.

Mag ihr Frauenbild mit der Betonung auf Mutterschaft und Mütterlichkeit uns heute einseitig und begrenzt, ihre Auffassung vom „wahren Wesen“ der Frau uns zugespitzt erscheinen, so stehen in der heutigen Frauenbewegung diese Fragen wieder zur Diskussion, erwartet diese doch gerade vom stärkeren Mitwirken der Frau Veränderungen in Stil, Methode und Ausrichtung privaten wie öffentlichen Lebens.

Renate Christine Lauff-Penner, Remscheid

Literatur
Gertrud Bäumer, Im Licht der Erinnerung, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 1953
Gertrud Bäumer, Des Lebens wie der Liebe Band. Briefe, hrsg. Emmy Beckmann, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 1956
Brinker-Gabber Gisela, hrsg. Deutsche Literatur von Frauen Bd. II, 19./20. Jhrh., Christian Beck Verlag, München 1988

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