Ausgabe 1 / 1994 Frauen in Bewegung von Waltraut Liekefett

Gertrud Staewen

Eine Frau mit Zivilcourage

Von Waltraut Liekefett

„Ich habe nie gelebt, wie andere es von mir erwartet haben“, sagt Gertrud Staewen von sich. Tatsächlich, bürgerliches Leben, Recht und Ordnung galten bei ihr nicht viel. Sie hat gelogen und gestohlen, mit 56 Jahre ist sie ins Gefängnis gegangen.

Gelogen und gestohlen hat sie, um Menschen vor dem Tod zu retten. Gertrud war Widerstandskämpferin im Dritten Reich. Vielen Juden hat sie zur Flucht verholfen, einige hat sie aus dem KZ befreit – dafür hat sie mit viel Geld einen Polizeibeamten bestochen.

Ins Gefängnis ging Gertrud Staewen freiwillig; sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Gefängnisfürsorgerin in einem Männergefängnis in Berlin. Sie schloss Freundschaft mit Gangstern und Ganoven, ein Mörder wurde ihr Adoptivsohn.

Gertrud, 1894 geboren, kommt aus einer reichen Bremer Kaufmannsfamilie. Sie war die älteste von drei Geschwistern und das widerspenstigste Kind in der Familie.

Sie bekam viel Schläge, der Vater wusste sich nicht anders zu helfen. Dass sie immer etwas zu erwidern hatte, dass sie kaum etwas unwidersprochen hinnahm, machte ihn wütend. Mädchen gehören ins Haus, kaum jemand stellte dies in Frage zu der Zeit, als Gertrud aufwuchs.
Kochen, nähen, stricken, und sticken, dazu ein wenig französisch parlieren, das schickte sich für heranwachsende Mädchen. Gertrud wusste, Abitur oder gar Studium kamen nicht in Frage.

Schließlich setze sie aber durch, eine Berufsausbildung machen zu können; sie wurde Erzieherin. Der Gemeindepfarrer hatte ihr die Ausbildung vermittelt und sie mit dem sozialen Anliegen des Christentums vertraut gemacht.

Gertrud hat nie viel Worte um Jesus gemacht, fromme Reden führen war nicht ihre Sache. Aber Jesus nachfolgen, handeln, wie er gehandelt hätte, das war ihr Anliegen. So hat sie sich immer wieder auf Menschen eingelassen, mit denen andere nichts zu tun haben wollten, verwahrloste Kinder, Verfolgt und Gefangene.

Mit 23 Jahren heiratet Gertrud, gegen den Willen des Vaters, einen Jugendfreund. Sie bringt einen Jungen und ein Mädchen zur Welt. Es folgen schwere Familienjahre. Gertrud muss immer wieder feststellen, sie ist keine Hausfrau; dies Dasein ist ihr zu eng, zu einseitig. So trennt sie sich schon bald wieder von ihrem Mann, ein zu ihrer Zeit schwerer Schritt.
„Besonders die Kinder hatten damals sehr zu leiden unter ihrer verrückten Mutter. Ich hatte nicht viel Zeit für sie. Ich musste für den Unterhalt sorgen.“

Gertrud begann eine Studie über die Situation der Arbeiter-Jugend – Familie – Arbeit – Freizeit. Sie hat Befragungen durchgeführt am Arbeitsplatz, in der Berufsschule. Doch als die Studie herauskam, war es zu spät. 1933, kurz vor der Machtergreifung durch Hitler, erschien das Buch unter dem Titel „Menschen in Unordnung“, und gleich danach wurde es verboten.

Mit zwei Freundinnen hat Gertrud bald nach 1933 eine illegale Judenhilfe aufgebaut.

Für die Kinder war das eine schwere Zeit; immer wieder war die Mutter unterwegs zu geheimen Verabredungen, zu illegalen Treffen. Die Angst, verhaftet zu werden, erfasste die ganze Familie.
Gertrud war von Anfang an gegen die Hitlerdiktatur. „Das war früh zu merken, wohin das mit dem dritten Reich ging. Man merkte es an der Angst der Juden.“ Um Juden helfen zu können, ließen sich Gertrud und ihre Freundinnen viel einfallen. So haben die Frauen Mutterkreuze gesammelt, Hitlers „Orden“ für kinderreiche Mütter. Mit diesen Kreuzen um den Hals konnten sich dann jüdische Frauen in die Schweiz retten.

Um untergetauchte Juden mit Essen versorgen zu können, klauten die Freundinnen Lebensmittelkarten, bestachen einen Angestellten in der Kartenbehörde, der ihnen zusätzliche Lebensmittelkarten besorgte, und sie ließen Pässe fälschen, um Menschen damit außer Landes zu bringen. Dass in Berlin damals noch andere Leute ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, erfuhr Gertrud erst nach dem Kriege. Ihr Schwager Gustav Heinemann lud einmal die Menschen ein, die während des Nazi-Regimes auf der Judenseite gestanden hatten. „Und dann kamen sie wirklich, die Leute von damals, die sogenannten ,unbesungenen Heldinnen und Helden'. Eine Frau aus Kreuzberg ist mir noch besonders in Erinnerung. Sie hat erzählt, wie sie eine Pferdeschlächterei aufgemacht hat. Für Pferdefleisch brauchte man keine Marken, damit hat sie vielen Juden helfen können.“

In der Bekennenden Kirche hat Gertrud von Anfang an mitgearbeitet. Doch deren Arbeit war ihr oftmals zu eng. Nur getauften Christen haben viele Kirchenleute weitergeholfen. Das fand Gertrud absurd, sie sah ihre Aufgabe darin, allen Menschen, die in Not geraten sind, zu helfen.
Jahrelang war Gertrud zwischen Kindern, Haushalt, Berufsarbeit und Engagement für in Not geratene Menschen hin- und hergerissen. Nur mit der ständigen Unterstützung von Freundinnen konnten die Kinder versorgt werden.

Nach dem Kriege brauchte Gertrud einige Zeit, bis sie wieder eine sinnvolle Arbeit fand. Zuerst arbeitete sie zusammen mit überlebenden Kommunisten aus dem KZ-Buchenwald als Fürsorgerin für Flüchtlinge. Sie ist mit einem Karren losgezogen und hat von Leuten erbettelt, was sie nicht unbedingt für sich selbst brauchten. Diese Sachen verteilte sie an die Flüchtlinge.
Dann arbeite Gertrud Staewen bei einer neuen Zeitung mit, bei „Unterwegs“. Doch der satirische Ton der Zeitung gefiel ihr nicht, sie wollte lieber „tatkräftig“ arbeiten.

So kam es ihr sehr entgegen, als Präses Scharf sie fragte, ob sie Gefängnisfürsorgerin werden wollte. Sie wollte, und sie wurde Fürsorgerin im Männergefängnis Berlin-Tegel. „Ich bin in die Gefangenenarbeit nicht einfach reingetaumelt aus christlicher Nächstenliebe oder aus der Illusion, der Mensch sei im Grunde gut. Ist er nicht. Er ist böse. Aber die Sünden sind nur relativ. Der eine ist tiefer hineingeraten, der andere hatte bessere Chancen. Es war dann oft für mich nichts anderes zu tun, als daneben zu stehen und Lebenshilfe zu sein für die zusammenkrachenden Existenzen.“

Zu den eindrücklichsten Begegnungen im Gefängnis gehörte die mit einem Mann, der getötet hatte. Acht Jahre arbeiteten die beiden zusammen. Dieser Mann wollte mit Gertrud über die Bibel sprechen, es kam zu langen, tiefen Gesprächen.
Dabei wurden sie Freunde, Gertrud hat ihn als ihren Sohn angenommen.

Noch als Neunzigjährige wurde sie von „ihren Ehemaligen“ besucht; wer mit ihr Freundschaft geknüpft hatte, blieb ihr treu. Auch im hohen Alter hat sie noch Freundschaften geschlossen, fast immer mit Menschen die „nicht geradeaus denken und gehen wollten“ – sie waren Gertrud Staewen näher als alle anderen.

Waltraud Liekefett, Braunschweig


Anmerkung
Ein Lebensbild, zusammengestellt nach:
Frauen, die sich trauen. Ein Vorlesebuch, hrsg. Elisabeth Achtnich, Verlag Ernst Kaufmann, 1991

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