Ausgabe 2 / 2001 Frauen in Bewegung von Töchtern und Enkelinnen

Geschichte, die unsere Mütter schrieben

Von der Geschichte, die unsere Mütter schrieben

Von Töchtern und Enkelinnen

Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen erzählen, wie ihre Mütter, Großmütter und Urgroßmütter lebten und wie sie alt wurden. (1) Statt des an dieser Stelle üblichen Porträts einer „großen“ Frau: Lebensgeschichten, die von Frauen „wie du und ich“ erlebt und gestaltet, erkämpft und durchlitten wurden. Porträts großartiger Frauen ohne große Namen, die anregen zum eigenen Nachfragen und Vergleichen, zum Erinnern und Erzählen…

Ida H. wird 1864 als fünftes von acht Kindern geboren und erhält, als einzige, nach der allgemeinen Schulbildung eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Während dieser Tätigkeit wohnt sie im Schulhaus, eine ledige Schwester führt ihr den Haushalt. Aus Krankheitsgründen wird sie mit 53 Jahren in den Ruhestand versetzt. Sie kehrt auf den elterlichen Hof zurück und lebt dort bis zu ihrem Tod 1947. Sie bezieht 30 Jahre lang Pension.
„Aus Anlaß Ihres Ausscheidens aus dem Amte zum 1. April d.J. übersenden wir Ihnen in Anerkennung Ihrer langjährigen, erfolgreichen Tätigkeit in der Schule und zur Erinnerung an die dem Staate auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts der Jugend geleisteten Dienste als Ehrengeschenk des Herrn Ministers der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten das beifolgende Andachtsbuch ‚Nachfolge Christi von Thomas von Kempen mit Führichs Illustrativ.' Zugleich sprechen wir Ihnen für die Treue, mit der Sie Ihres Amtes gewaltet haben, unseren Dank aus und verbinden hiermit den Wunsch, dass es Ihnen vergönnt sein möge, sich noch lange der Ruhe nach getaner Arbeit unter Gottes Segen erfreuen zu dürfen.“


Helene P. wird 1902 als ältestes von vier Kindern geboren. Sie erhält eine allgemeine Schulbildung, z.T. bei Hauslehrern, später eine Weiterbildung bei den „Englischen Fräulein“. Mit 20 Jahren heiratet sie in eine bäuerliche Großfamilie ein und gebiert sechs Kinder; eins davon stirbt klein, eins mit 16 Jahren. Im Generationsvertrag pflegt sie eine Schwiegeradoptivtante, drei Tanten und einen Onkel zu Tode. Die letzte Tante stirbt, als das Ehepaar Silberhochzeit hat. Finanziell abgesichert ist sie durch die eheliche Gütergemeinschaft. Mit 55 Jahren wird Helene P. Witwe. Ein Jahr später heiratet der Sohn und 1960 zieht sie auf ihr durch Testament und Generationsvertrag geregeltes Altenteil. Sie bekommt eine Wohnung und ein monatliches Taschengeld von 200,-DM oder 10 Zentner Roggen.


Hedwig B. wird im April 1905 in Berlin als achtes von zwölf Kindern geboren, von denen vier bei der Geburt sterben. 1919 sucht sie sich Arbeit in einer Fabrik. Sie arbeitet schwer, verdient viel „schwarz“. 1935 heiratet sie und „hört auf zu arbeiten“, da der Stolz ihres Mannes keine Berufstätigkeit zulässt. 1939 ist sie Witwe mit einem Kind. Sie geht zu Freunden nach Danzig, kann bei Kriegsende mit ihrem zehnjährigen Sohn flüchten und kommt 1946 in Berlin an. Ihr Haus ist zerstört, ihre gesamte Habe verloren. Mit zwei Geschwistern repariert sie das Dreifamilienhaus – Klo noch immer im Garten, ohne Spülung, statt Bad gibt es eine Pumpe im Garten. Sie wird „Trümmerfrau“ und Schichtarbeiterin in einer Fabrik. Der Sohn erhält 9,-DM Waisenrente. Nach der ersten Rentenreform erhält sie Kriegerwitwen- und Hinterbliebenenrente. Mit 56 Jahren fühlt sie sich durch die Schichtarbeit überfordert, geht in Rente. Ihre eigene Rente liegt unter 1000,-DM – aber durch die Versorgungsrenten hat sie ein gutes Ein- und Auskommen. 1996 ist sie 91 Jahre alt, körperlich gebrechlich, geistig recht vital. Sie ist der Meinung, nichts im Leben geleistet zu haben.


Anna R. wird 1906 als zehntes von zwölf Kindern auf einem kleinen Bauernhof in Ostpreußen geboren, als erstes Mädchen freudig begrüßt. Mit 14 Jahren lernt sie bei einer Schneiderin in ihrem Dorf ein Jahr lang nähen. Danach lernt sie, unentgeltlich, ein Jahr lang in einer Pension in Allenstein Hauswirtschaft und Kochen. 1922 geht sie nach Berlin, wohnt mit drei jungen Mädchen gemeinsam in einem Zimmer bei den „Grauen Schwestern“ und verdient sich ihren Lebensunterhalt als Schneiderin. Viel Geld wird „unter der Hand“ gezahlt, so dass die eingezahlten Rentenbeiträge niedrig sind. 1936 heira-tet Anna den Stellmeister G und gibt ihren Beruf auf, da der Stolz des Mannes ihre weitere Berufstätigkeit nicht zulässt. Da sein Verdienst für den Unterhalt der Familie nicht ausreicht, verdient sie in mühsamer Heimschnei-derei etwas dazu. In großem Abstand werden zwei Kinder geboren, so dass auch nach dem Krieg Berufstätigkeit nicht in Frage kommt und weiter Heimar-beit ausgeübt wird. Mit 72 Jahren findet Anna ihre alten Rentenmarken wieder. Sie reicht sie ein und erhält für 13 Beitragsjahre eine Rente von 138,28 DM. Sie stirbt 1980, zwei Jahre später. Seit ihrer Heirat hat sie in Abhängigkeit von ihrem Mann gelebt, was ihr nie recht war.


Sie wird 1919 als mittleres Kind unter zwei Brüdern geboren. Sie arbeitet im kleinen Familienbetrieb mit, leitet ihn später ca. 25 Jahre lang. 1978 wird der Betrieb an die Nichte und deren Ehemann übergeben, aber sie arbei-tet weitere fünf Jahre mit. Da sie ledig bleibt, wird von ihr die Pflege der alten Mutter erwartet, die fast 100 Jahre alt wird. Acht Jahre lang muss sie daher ihre Berufstätigkeit einschränken – mit dem entsprechenden Einkommensverzicht. Erste Rentenbeiträge zahlt sie freiwillig im Alter von 31 Jahren ein – zunächst 13,-DM, später 36,-DM. Mehr gibt der kleine Be-trieb nicht her. Durch den Erlös eines Grundstücksverkaufs können für die Zeit von 1964 bis 1970 Rentenbeiträge in Höhe von 10.000,-DM nachgezahlt werden. Erst 1979 wird der Arbeitsplatz pflichtversichert. 1981 wird sie berufsunfähig. Die Rente beträgt zu dem Zeitpunkt 478,-DM. 1984 erhält sie ein Altersruhegeld von 562,-DM, die heutige Rente beträgt 856,-DM. Da sie im Familieneigentum wohnt, kommt sie mit der geringen Rente aus; sollte sie pflegebedürftig werden, müssen, wie sie sagt, „angemessene Wege gefunden werden.“ Ihre Erwerbsarbeit war immer begleitet, z.T. auch eingeschränkt durch intensive ehrenamtliche Arbeit in Kirche und Gesellschaft. In Anerkennung dieser Leistungen erhält sie das Bundesverdienstkreuz.


Meine Urgroßmutter wurde ca. 1870 als Tochter eines Försters geboren. Sie lernte in Wien das Kochen, kochte später „beim Fürstbischof“, wie meine Oma immer sagte. Sie war damit eigentlich eine „gute Partie“, heiratete aber einen armen Mann und musste von da an schuften und rackern, um der Familie das Überleben zu sichern. Die Katastrophe war da, als das abgebrannte Haus neu gebaut werden musste, und sie kurz darauf Witwe wurde. Ihre vier Kinder mussten trockenes Brot essen, damit sie die Butter verkaufen und das Haus mit dem bescheidenen Gewinn aus Stall und Garten halten konnte. Nach der Hochzeit ihrer Tochter, meiner Großmutter, bezahlte der Schwiegersohn das Haus, und sie konnte bis zur Vertreibung dort leben. Auch später wohnte sie bei der Familie der Tochter und wurde von dieser mitversorgt. Meines Wissens bekam sie keine eigene oder nur eine minimale Rente.

Meine Großmutter wurde 1901 geboren. Nach der entbehrungsreichen Kindheit und Jugend half sie im mütterlichen Haushalt und in der Landwirtschaft mit. Berufsausbildung war nicht üblich, außerdem gab es kaum Stellen für Frauen – außer in den Kalkbrüchen, wo die Arbeiterfrauen dazuverdienen mussten. Sie heiratete mit 24 Jahren, bekam vier Kinder, verlor zwei davon durch Krankheiten, erlebte die österreichisch-ungarische Monarchie, den Ersten Weltkrieg, den „Anschluss“ an das Deutsche Reich, die Rückgewinnung des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei, den Verlust ihres angesparten bescheidenen Vermögens – von dem sie gerade einen großen Bauernhof kaufen wollten -, Geldentwertung, Vertreibung und den absoluten Neuanfang im Westen mit nichts als einem Sack voll Kleingeld im Wert von ca. 10,-DM. Mein Großvater fand bald eine Arbeit, meine Großmutter half beim Bauern für einige Kartoffeln und etwas Gemüse. Der Lastenausgleich und extreme Sparsam-keit ermöglichten den Kauf eines kleinen Hauses. Zu der Zeit war meine Urgroßmutter schon gestorben; während ihrer letzten Lebensjahre, in denen sie geistig verwirrt war und zunehmend auch die Kontrolle über ihren Körper verlor, war sie von meiner Großmutter gepflegt worden. Meine Großmutter hat meine ältere Schwester ganz und mich teilweise in ihrer Obhut gehabt, solange meine Mutter berufstätig war. Später pflegte sie dann meinen bettlägerigen, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten Großvater drei Jahre lang bis zu seinem Tod. Eigene Rentenansprüche hat sie nie erwirtschaften können, wegen ihrer Sparsamkeit reichte die gemeinsame, später die Witwenrente aber aus. Sie hinterließ ihren Kindern ein schuldenfreies Haus mit Grundstück und hatte ihnen vorher schon finanzielle bei deren Hausbau geholfen.

Meine Mutter wurde 1936 geboren. Nach dem Krieg beendete sie die Volksschu-le, schloss die Handelsschule und Lehre als Buchhalterin ab und arbeitete bis zur Geburt des dritten Kindes ca. 17 Jahre lang ganz- oder halbtags. „Nebenher“ half sie beim Hausbau und managte dessen Finanzierung. Als sie später wieder in ihrem Beruf anfangen wollte, wurde ihr Vater schwer krank und sie unterstützte die Mutter bei der Pflege. Danach war sie seelisch und körperlich so erschöpft, dass sie krank wurde. Spätere Versuche, wieder er-werbstätig zu werden, blieben erfolglos. Da ihr die Berufstätigkeit viel mehr Spaß machte als Haushalt und Kindererziehung allein, litt sie sehr unter dieser erzwungenen Beschränkung auf die Familie und fühlte sich abgewertet. Sie sah aber auch keine Chance, die neue Computertechnik zu erler-nen, war nervös und reizbar. Erst das Aufstocken des Hauses für die jüngste Tochter, bei dem sie wieder die Finanzierung austüftelte und überwachte, war erneut eine lohnende Aufgabe für sie. Als diese Tochter dann das Haus verließ, wurde sie schwer psychisch krank und hat sich bislang noch nicht wieder davon erholt. Sie lebt mit ihrem Mann von dessen Rente. Selbst hat sie das Rentenalter noch nicht erreicht. Wie hoch ihre eigene Rente sein wird, weiß ich nicht.

Ich selbst wurde 1960 geboren. Obwohl meine Eltern „kleine Angestellte“ waren, besuchten meine ältere Schwester und ich das Gymnasium und studierten. Das lag zum einen an der „Bildungseuphorie der 60er Jahre“, zum anderen daran, dass für meine Mutter ihre eigenen leidvollen Erfahrungen Anlass waren, eine eigene Absicherung für uns zu wünschen. Für sie wie für mich war und ist ein eigener Beruf ein ganz wichtiges Element der eigenen Identität. Allerdings kollidierte dieser Wunsch mit dem unreflektierten Ideal, dass eine Frau zu heiraten und damit diesen Wunsch der Familie zu opfern oder doch zumindest kleiner zu halten habe. Das wirkte sich auch auf meine Studien- und Berufswahl aus („nur“ Fachhochschule). Mit Erschrecken habe ich jetzt festgestellt, das ich bislang nur fünf Jahre rentenwirksamer Berufstätigkeit vorzuweisen habe. Ich habe immer gearbeitet, mich daneben weiter-gebildet, sogar noch mal studiert – allerdings ohne Abschluss. Ich habe Bildungsveranstaltungen geleitet, Kinder erzogen, Ehrenämter innegehabt, Gruppen aufgebaut, den Haushalt gemacht, Schulaufgaben beaufsichtigt, mich in der Pfarrgemeinde engagiert, Kontakte hergestellt und gehalten, mein schwer krankes Kind gepflegt, meinen verunfallten Mann gepflegt – aber eben alles nicht rentenwirksam, Jetzt habe ich einen vollen Job und finde das ganz toll. Ob es wohl, wenn ich 65 bin, noch eine Rente gibt?

(1) Anm. der Red.: Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um reale Biografien, aufgeschrieben von den Töchtern und Enkelinnen der Frauen. Die Sammlung entstand im Rahmen der Schwerpunktarbeit zu Rentenfragen bei der kfd Berufstätige Frauen. Wir danken für die Erlaubnis zur Veröffentlichung in ahzw!

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