Ausgabe 2 / 2022 Artikel von Simone Kluge

Gesehen werden und Gestalt gewinnen.

Eine biblische Geschichte als Herausforderung für seelsorgliche Praxis

Von Simone Kluge

Kaum eine andere Geschichte der Bibel berührt mich so wie die Geschichte von Hagar am Brunnen. Es berührt mich, wie diese Frau, die als Leihmutter gebraucht und von ihrer Herrin gedemütigt wurde, Zuwendung erfährt in der Begegnung mit Gott: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Was für ein Trost. Was für eine erlösende Erfahrung. Sie, die Vernichtendes erlebt hat, die sich lieber dem Tod in der Wüste aussetzt, als das bisherige Dasein weiter zu ertragen, erfährt Zuwendung. Dort ist jemand, der sie sieht, ein Gegenüber, das sie wahrnimmt als Person, als Individuum, als Mensch jenseits von Rollenzuweisungen und Funktionalität. Hagar spürt, dass sie gemeint ist: „Du bist eine Gottheit, die mich sieht.“


Hagars Geschichte erinnert mich an existentielle Erfahrungen in meinem eigenen Leben. An die Erfahrung von Bedrohung und tiefer Verzweiflung, aber auch an die Erfahrung der Rettung. Du bist ein Gott, der mich sieht – welche Erlösung liegt darin! Auch ich verdanke mein Leben dieser Botschaft, die mich einst erreichte und seitdem nicht mehr losgelassen hat. Gott sieht dich. Gott nimmt wahr, wie dir zumute ist. Gott liegt an dir. Entgegen aller gegenwärtigen Erfahrung: Du bist wichtig.

So sehr mich diese Geschichte Hagars berührt, so sehr irritieren mich die Worte des Gottesboten: „Kehr zurück zu deiner Herrin und lass dich von ihrer Hand demütigen.“ (V.9) Wie kann das sein? Wie kann Gott das dieser Frau zumuten? Ich bin zutiefst empört, und ich fange an, nach logischen Erklärungen zu suchen, um den Spannungen zu entgehen, der Zumutung, die ich dabei empfinde. Wie kann irgendjemand einer Frau raten, in dieses Umfeld zurückzukehren und sich weiter demütigen zu lassen? Alles in mir sträubt sich dagegen.

Hagar kehrt zurück. Der Text schweigt sich darüber aus, wie es ihr mit diesem Schritt geht. Hätte es eine Alternative gegeben? Auch darüber erfahren wir nichts. So und nicht anders geht die Geschichte weiter. Hagar kehrt zurück. Was wir erfahren, ist, dass sie und ihr Sohn überleben, und dass ihr Leben Frucht bringen wird, so wie der Bote es verheißen hat.

Was bedeutet diese Geschichte für mich als Seelsorgende? Muss ich in der seelsorglichen Begleitung nicht auf eine Veränderung der Umstände hinarbeiten? Muss das Ziel seelsorglicher Intervention nicht die Befreiung aus den bestehenden Strukturen sein, zumindest, wenn diese auf Machtgefälle und Erniedrigung beruhen?

Die Gestalttherapie nach Lore und Fritz Perls setzt an einem anderen Punkt an. Gesellschaftliche Strukturen bringen belastende Erfahrungen mit sich. Und sie bringen Formen der Selbstentfremdung hervor. Daher geht es in dieser Therapieform darum, das Bewusstsein für sich selbst und die Zusammenhänge zu stärken. Indem die seelsorgende Person die individuelle Wahrnehmung gelten lässt, ihr Raum gibt, sie zur Gestalt werden lässt, erfährt die oder der Seelsorge Suchende sich als gesehen und ernstgenommen.

Die Strukturen sind damit nicht beseitigt, und doch erfährt die Person Anerkennung in der Not, die sie angesichts dieser Zustände leidet. Und ein Drittes tritt hinzu: Die „Gestalt“ ändert sich. Die tiefe Verzweiflung aus dem Gefühl heraus, nicht „richtig“ zu sein, kann schwinden.

Und was heißt das jetzt mit Blick auf Hagar? Menschen erleben Unrecht. Menschen leiden unter Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Und sie fragen sich: Warum geschieht das mir? Nicht selten löst die Erfahrung erlittenen Unrechts Fragen aus: Was habe ich falsch gemacht? Was ist an mir nicht in Ordnung? Im schlimmsten Fall stellt sich eine Schuldübernahme ein – und in der Folge Tendenzen zur Selbstabwertung bis hin zum Fatalismus: „Du bist nichts wert.“ „Es wäre besser, du wärst nie geboren.“ „Du hast eh‘ keine Chance.“

Insofern geht es bei dem Sehen und Gesehenwerden um zweierlei: um die Wahrnehmung des Leids und der Not, aber auch um Anerkennung des Unrechts. Es ist Unrecht, wenn der Wert von Frauen auf ihre Gebärfähigkeit reduziert wird. Es ist Unrecht, wenn eine Frau nicht über ihren eigenen Körper bestimmen kann, wenn emotionale und sexuelle Ausbeutung geschieht. Es ist Unrecht, wenn Menschen versklavt werden oder aufgrund ihrer Herkunft Benachteiligungen und Demütigungen erfahren.

Zu realisieren, dass diese Welt so ist, wie sie ist, ist schon schwer genug. Weiterleben können wir aber nur, wenn wir uns selbst nicht noch zusätzlich bestrafen und für das, was uns geschieht, verantwortlich machen. Wie lebensrettend kann hier eine Begegnung sein, die uns klarmacht: „Du bist in Ordnung mit dem, was du fühlst.“ „Du bist wertvoll.“ „Deine Würde und dein Wert bleiben bestehen, trotz entwürdigender Erfahrungen.“ „Ich habe einen Plan für dich.“ „Dir ist Zukunft verheißen.“ Hagar jedenfalls sagt nach dieser Begegnung Ja zu ihrem Leben und trifft auch eine Entscheidung für das werdende Leben in ihrem Leib. Sie geht zurück und bringt ein Kind zur Welt, das den Namen Ismael „Gott hört“ erhält, denn – so sagt der Bote – „Adonaj hat deine Demütigung gehört.“ (V.11)

Als Seelsorgende stehen wir vor der Herausforderung, diese Spannung auszuhalten. Uns selbst einzugestehen, dass unser Einfluss begrenzt ist, dass wir die Welt nicht verändern  können.  Wir müssen es ertragen, dass Umstände sich nicht von jetzt auf gleich ändern lassen.

Und doch liegt gerade darin Segen. Der Segen, einander als Geschwister zu begegnen. Die Begrenztheiten des Lebens miteinander zu teilen und in Solidarität daran zu wachsen. Lebensmöglichkeiten auszuschöpfen und Potenziale zu entdecken. Auch das Potenzial, selbst ein Leben zu führen, das den Unrechtskategorien etwas Neues entgegensetzt, weil es sich an anderen Wertvorstellungen orientiert.

Aus der Frauenarbeit wissen wir nur zu gut, wie viel Geduld und langen Atem es braucht, damit sich gesellschaftliche Verhältnisse verändern, und dass oft erst nachfolgende Generationen von unserem Engagement und Lernerfolg profitieren. Mir gefällt der Gedanke, dass Ismael, der Sohn Hagars, nur in den Augen von „Sarais und Abrams“ Kindern ein „Wildesel-Mensch“, in Wirklichkeit aber seiner Zeit voraus war. Mir gefällt der Gedanke, dass er zwar auf Widerstände stieß, aber sich seine Art zu leben – zum Erstaunen der „Etablierten“ – tatsächlich „niederlassen“ konnte (V.12). Was für ein Hoffnungszeichen!

Simone Kluge ist evangelische Theologin, Mediatorin, Krisenberaterin auf Grundlage der klient*innen-zentrierten Gesprächsführung nach C. Rogers und seit 2019 in Ausbildung zur gestalttherapeutisch orientierten Seelsorgerin. Sie arbeitet als Referentin bei den Evangelischen Frauen in Mitteldeutschland und ist Mitglied im Redaktionsbeirat leicht & SINN.

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