Ausgabe 2 / 2002

Gewalt überwinden

Dekade 2001.2010

„Suche Frieden und jage ihm nach“ (Ps 34,15) – diesen Psalmvers hat der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen als Überschrift für die Botschaft gewählt, mit der die „Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001.2010″ eingeleitet wurde. Beschlossen hatte sie zuvor die Vollversammlung des ÖRK in Harare 1999.
Offenkundig war das letzte Jahrhundert eines der gewalttätigsten, das diese Welt jemals erlebt hat. Um so größer die Hoffnung vieler, dass mit dem beginnenden neuen Jahrtausend endlich alles besser werden könnte. Heute, nur ein Jahr später, ist diese Hoffnung zerplatzt wie eine Seifenblase. Terror und Gegenterror – scheinbar unaufhaltsam dreht sich die Spirale wieder. In diese deprimierende Lage hinein verkündet die weltweite Gemeinschaft der Kirchen ihre Hoffnung auf Frieden. Aber Frieden fällt nicht vom Himmel! Frieden kann nur werden, wenn – trotz alledem – Menschen der Versuchung aufzugeben widerstehen. „Wir müssen aufhören, reine Zuschauer der Gewalt zu sein oder sie lediglich zu beklagen. Wir müssen uns aktiv um ihre Überwindung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirchenmauern bemühen.“ Der Weg zum Frieden, auf den der Ökumenische Rat der Kirchen uns ruft, ist nicht leicht zu begehen. Aber: es gibt ihn. Und: es gibt keine Alternative. Alle anderen Wege führen ins Verderben.

Wer sich aufmacht Gewalt zu überwinden, tut gut daran, sich vorab und immer wieder klar zu machen, was „Gewalt“ ist – und was nicht. In ihrer (verständlichen) Angst vor Gewalt erscheint vielen Frauen vorsichtshalber auch die „Macht“ – und gar das Streben danach – als höchst unanständig. Christine Wunschik hat es übernommen, hier begriffliche Klarheit zu schaffen. Was durchaus keine intellektuelle Wortspielerei ist, sondern äußerst notwendig. Denn wenn wir gegenüber der Gewalt nicht ohnmächtig bleiben wollen, müssen wir sie „mächtig“, mit Macht bekämpfen. Die Andacht von Heide Fuchs macht Mut: Auch wenn es nur eine „kleine Kraft“ ist, die wir in uns haben – nach dem Zeugnis der Offenbarung reicht sie aus.

„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind…“ – Können Sie's noch? Und dann die Stelle, an der sich wohl jeder Frau die Nackenhaare aufstellen: „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“, droh-lockt der Erlkönig den Knaben, den der ums Leben reitende Vater am Ende dann doch nicht retten kann. TäterIn und Opfer sind die zentralen Figuren einer Gewaltsituation, hinzu kommen aber oft zwei weitere Rollen: innerlich unbeteiligt bleibende BeobachterInnen und – wie der Vater in Goethes Ballade – diejenige oder derjenige, die helfend einzugreifen versuchen. Christa Backmann bietet Frauengruppen an, sich mit diesen verschiedenen Rollen bewusst auseinander zu setzen und so handlungsfähiger zu werden, wo Gewalt erscheint. Bevor Menschen angemessen auf Gewalt reagieren können, müssen sie sie allerdings erst einmal als solche wahrnehmen. Denn die unübersehbare Gewalt, das Prügeln, Vergewaltigen, Töten… ist ja nur die Spitze des Eisberges, dessen gefährliche acht Neuntel unter der Oberfläche lauern. Diese zunächst unsichtbaren „kleinen Gewalten“ im alltäglichen Leben zu erkennen und zu bekämpfen, übt die Arbeitseinheit von Waltraud Liekefett ein. Schon etwas größer, leider inzwischen aber ebenso alltäglich ist die Gewalt, die Menschen einander am „Tatort Arbeitsplatz“ zufügen. Mobbing in der Erwerbsarbeit – besonders in Zeiten knapper oder gefährdeter Arbeitsplätze – ist eine Gewalt, die Menschen an Seele, Leib und Leben bedroht. Martina Dröttboom öffnet den Blick dafür, dass diese Form der Gewalt auch da eingesetzt wird, wo Menschen ehrenamtlich zusammenarbeiten.

Seit Jahren haben Frauen darauf hingewiesen, dass Gewalt sich aus Sicht von Männern und Frauen durchaus unterschiedlich darstellt. Selten ist es bislang gelungen, den damit verbundenen Fragen im Gespräch zwischen Frauen und Männern gemeinsam nachzugehen. Hildburg Wegener gehört zur Gruppe der Frauen und Männer, die sich von der Dekade zu einem solchen Dialog herausfordern ließen. Herausgekommen ist ein Faltblatt, dass sich bestens dazu eignet, den „Frauen- und Männerblick auf die Gewalt“ einzuüben und so Schritte zu ihrer Überwindung zu gehen.
Zur Nachahmung empfohlene, gangbare kleine Schritte zur Überwindung von Gewalt sind die Mahnwachen der „Frauen in Schwarz“, von denen Ingeborg Rothe berichtet. Oder die bemerkenswerten Aktivitäten der 93-jährigen Margarete Harms, die Gertrud Mrowka und Hermann de Boer befragt und für uns porträtiert haben. Zu den ersten und schwersten Schritten bei der Überwindung von Gewalt gehört es, dass Opfer und TäterInnen das Geschehen als Gewalt erkennen – und benennen. Die biblischen Psalmen halten eine Sprache bereit, in denen das Entsetzen über die erlittene oder begangene Tat ins Wort gebracht werden kann. Eva Killet-Kretschmann lädt in einer „Andacht über Gewalt gegen Frauen und Frauengewalt“ zu diesem ersten Schritt ein. Weitere „biblische Wege aus der Gewalt“ hat Hanna Strack für uns erkundet. Ihre Bibelarbeit fragt nach den alt- und neutestamentlichen „Methoden“, um Gewalt eingrenzen und schließlich überwinden zu können. Zugleich wissen wir, dass unsere biblische Tradition keineswegs frei von Verstrickung in Gewalt ist. Wie damit umgehen? Klara Butting macht in ihren „Überlegungen zur Gewalt biblischer Texte“ deutlich, dass Wegschauen und Verschweigen keine Lösung sind.

Hinschauen und handeln, wo immer Gewalt begegnet – dazu ermutigen und fordern alle Beiträge dieser Arbeitshilfe auf. Denn auch, wenn es uns oft anders scheinen will, hat der Ökumenische Rat der Kirchen recht: „Frieden ist möglich. Frieden ist machbar.“ Möge uns der Weg zum Frieden beim Gehen entstehen und Segen über unseren Schritten sein.

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