Alle Ausgaben / 2015 Artikel von Marie Günther

Gezwungen zum Müßiggang?

Vom Alltag geflüchteter Frauen in Deutschland

Von Marie Günther

Weltweit befinden sich 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht – mindestens die Hälfte davon Frauen und Mädchen.1 Frauen fliehen unter an­derem vor Verfolgung aus religiösen oder politischen Gründen, weil sie in ihren Grundrechten eingeschränkt werden oder weil ihnen die Existenzgrundlage genommen wurde.

Diese Gründe sind zunächst bei allen Geschlechtern zu finden. Frauenspezifisch ist in diesem Zusammenhang die oftmals angewendete sexualisierte Gewalt als Verfolgungs- und Foltermethode. Hinzu kommen weitere frauenspezifische Fluchtgründe wie Zwangsheirat, ungewollter Schwangerschaftsabbruch, Genitalverstümmelung oder die Übertretung frauenspezifischer Normen und Gesetze. Gleichwohl bilden flüchtende Frauen keine homogene Gruppe und können auch nicht mit stereotypen Merkmalen beschrieben werden. Ihre Lebens- und Sozialisationsumstände sind sehr verschieden, sie fliehen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus, finanziellen Ressourcen und Gruppenzugehörigkeiten – wie Religion und Herkunft – nach Deutschland.2 Gemeinsam ist den Frauen die Erfahrung der Flucht und die Suche nach Schutz vor Bedrohung von Leib und Leben. Ihnen gemeinsam ist auch das erhöhte Risiko der Bedrohung durch und Erfahrung von sexualisierter Gewalt. Noch immer gelten beispielsweise Massenvergewaltigungen als stra­tegisches Kriegsmittel,3 um die gegnerischere Gruppe in ihrer Existenz und Identität zu zerstören.4

Traumatische Ereignisse werden sehr ­individuell bewältigt. Vor allem die durch Menschen verursachten Traumata führen oft zu starken psychischen Beeinträchtigungen. Das Risiko, nach einer Vergewaltigung eine Posttraumatische Belastungsstörung als Folgereak­tion auszubilden, ist somit sehr hoch.5 Hinzu kommt das traumatisierende Kriegs­geschehen, die Angst, erneut sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu sein beziehungsweise sie erneut zu erleben; dies kann zusätzlich traumatisierend wirken.

Durch die Abschottungspolitik der EU und die damit verbundene Perfektionierung der Grenzsicherung ist eine legale und sichere Einreise nur in seltenen ­Fällen möglich. Die europäischen Mi­grations- und Grenzregime bieten zudem in aller Regel keinen wirklichen Schutz für fliehende Frauen. Neben den lebensbedrohlichen und strapaziösen Fluchtbedienungen riskieren sie zudem, auch nach der Ankunft in Deutschland sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu sein. Schutz vor Verfolgung beziehungsweise Abschiebung muss beantragt und das komplexe Asylverfahren durchlaufen werden. Dies ist mit zahlreichen Anforderungen an die Schutzsuchenden verbunden. Mitunter dauert es Jahre bis es zur Erteilung eines Aufenthaltstitels. Währenddessen ist das Leben durch anhaltende Angst, Unsicherheit und die fehlende Möglichkeit, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, geprägt.

Diskriminierende und restriktive Sondergesetzte schränken die Möglichkeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen ­Leben ein – etwa die Vorgaben zur Verteilung und Zuweisung von Asylsuchenden innerhalb Deutschlands ohne Berücksichtigung bestehender verwandt­schaftlicher, freundschaftlicher oder anderweitiger Beziehungen und Bindungen.6 Dabei würden gerade die es erleichtern, in der Aufnahmegesellschaft anzukommen und sich zu orientieren.

Ohne Erlaubnis keine Arbeit

In dem Zusammenhang sind auch das Arbeitsverbot während der ersten drei Monate des Asylverfahrens7 beziehungs­weise der eingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt zu nennen. Ab dem vierten Monat besteht ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang. Das bedeutet kon­kret: Bevor ein Beschäftigungsverhältnis aufgenommen werden kann, muss bei der Ausländerbehörde eine Arbeitserlaubnis beantragt werden. Bevor eine Arbeitserlaubnis erteilt wird, muss die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) / Bundesagentur für Arbeit zustimmen; die wiederum prüft zunächst, ob Arbeitnehmer_innen mit deutscher Staatsangehörigkeit, Unionsbürgerschaft oder anderer Bevorrechtigung verfügbar sind. Einfacher kann eine Beschäftigung aufgenommen werden, wo keine Zustimmung durch die ZAV notwendig ist:8 bei betrieblicher oder schulischer Ausbildung oder Absolvierung von Praktika, bei Bundesfreiwilligendienst und Freiwilligem Sozialem Jahr. Eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde, in deren Ermessen die Entscheidung liegt, ist jedoch immer erforderlich.9 Personen mit einer Duldung10 kann unabhängig von ihrer ­Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet ein Arbeitsverbot als Sanktionsmaßnahme erteilt werden.

Hinzu kommt: Durch die prekären Lebensbedingungen in Kriegs- und Bürgerkriegsregionen kommt es zu Brüchen in den Ausbildungs- und Erwerbsbiographien der Geflüchteten. Ausbildungen konnten nicht abgeschlossen werden, Ausbildungen und Berufserfahrungen können nicht nachgewiesen werden, weil Zertifikate verloren gegangen sind.11 Ein zusätzliches Problem ist die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe oder Nationalität. Diskriminierung in Bezug auf die berufliche Integration von Frauen kann hierbei auch von der eigenen Community ausgehen.12 Bei traditioneller Rollenver­teilung wird dem Mann bei der Aufnahme einer Beschäftigung Vorrang eingeräumt und die Frauen bleiben aufgrund der Tätigkeit im häuslichen Bereich isoliert.13 Erschwerend kommt für viele Frauen hinzu, dass sie aufgrund ihrer Geschlechterstellung in ihrem Herkunfts­land weniger Möglichkeiten zur schulischen und beruflichen Ausbildung hatten.14 Ihre Möglichkeiten, unter diesen Bedingungen eine Ausbildung oder Beschäftigung zu erhalten, sind gering. Aus den zum Teil unüberwindbaren „rechtlichen und faktischen Hürden beim Zugang zu existenzsichernder Erwerbsarbeit“15 folgen Abhängigkeit von Sozialleistungen, der Verlust von be­ruflicher Qualifikation und fehlende Möglichkeiten für weiterführende Ausbildung. Dies alles wird als erniedrigend und entwürdigend erlebt.16

Ohne Sprache keine Teilhabe

Oft können Geflüchtete nicht an ihre praktischen Berufserfahrungen anknüpfen, weil Sprachkenntnisse fehlen oder das Sprachniveau für eine Arbeit, die ihrer Qualifizierung entspricht, nicht ausreicht.17 Mangelhafte oder fehlende Deutschkenntnisse werden in der öffentlichen Debatte oft als fehlender ­Wille zur Integration gedeutet. Von den Geflüchteten wird Sprachkenntnis erwartet, ausreichend Deutschkurse aber werden nicht zur Verfügung gestellt. Asylsuchende und Geduldete haben keinen Rechtsanspruch auf Integra­tionskurse; wenn sie Deutsch lernen wollen, sind sie auf eine Ermessens­entscheidung des BAMF angewiesen. ­Dabei ist die „Integrationsbedürftigkeit“ zu beachten – und auch hier gilt das Nachrangprinzip.

Bei Frauen kommt meist erschwerend hinzu, dass eine Betreuung für die Kinder organisiert werden muss. Die Teilnahme an einen Kurs kann zudem an die Erlaubnis des Ehemanns oder an dessen eigene Teilnahme gekoppelt sein. Bei der Ausrichtung von Integrationskursen auf spezifische Zielgruppen werden zwar Frauen berücksichtigt, ­allerdings stellt sich hier die Frage nach der realen Möglichkeit zur Teilnahme.18 Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin spricht in diesem Zusammenhang von „umfassenden, vom Staat zu verantwortenden rechtlichen und institutionellen Integrationshindernissen“.19

Nichts weniger als Muße

Der Alltag von Geflüchteten ist geprägt von eingeschränkten Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, Verlust der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit, gekennzeichnet durch Kontrolle und Verbote, gleichbleibende Tagesabläufe, Perspektivlosigkeit, Angst und Unsicherheiten bezüglich des Asylverfahrens und drohende Abschiebungen. Dies wirkt sich ganz „unmittelbar auf die Lebensqualität und die Lebensweise“ der Geflüchteten aus. Bei Trauma­tisierten und psychisch Belasteten wird der unter Folter erlittene Kontrollverlust und somit die „Opferrolle“ aufrechterhalten.20 Es steht daher außer Frage, dass der Alltag von Geflüchteten keineswegs als „Müßiggang“ bezeichnet werden kann. Aber auch die häufig verwendete Bezeichnung der „erzwungenen Untätigkeit“ ist kritisch zu hinterfragen.

Es ist eine enorme, mit physischer und psychischer Anstrengung verbundene Herausforderung, die traumatischen Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht zu bewältigen, in einem unbekannten Land mit oft nicht bekannter Sprache anzukommen, permanent Angst vor der Abschiebung und einer ungewissen Zukunft zu haben und ­unter diskriminierenden Gesetzten, Isolation und rassistischen Beleidigungen und Übergriffen zu leben – bei gleichzeitig unzureichenden Möglichkeiten, an der Gesellschaft teilzuhaben. Zudem ist das alltägliche Handeln von Frauen, auch wenn sich dies auf den Haushalt und die Versorgung von Kindern und kranken Angehörigen beschränkt, keinesfalls Untätigkeit – schon gar nicht bei steigender Anzahl der zu versorgenden Kinder, fehlenden Kitaplätzen, innerfamiliären Konflikten und eigenen psychischen Belastungen.

Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel ist die Auseinandersetzung mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik.

– evtl. Einstiegsimpuls zum Thema Flucht (Gedicht o.ä.)

– Flucht bedeutet für mich …
Wenn Sie das Land verlassen müssten: Wohin würden Sie gehen? Was würden Sie von dem aufnehmenden Land erwarten? – nach individueller Auseinandersetzung mit der Frage Austausch im Plenum

Bei Teilnahme von Geflüchteten evtl. auch: Mit welchen Vorstellungen und Hoffnungen war die Entscheidung zur Flucht verbunden? (Zuvor ist unbedingt zu klären, ob die Geflüchteten sich auf so eine Frage einlassen können und wollen! Zudem muss die Leiterin um die Gefahr der Traumatisierung und um evtl. psychische Instabilität der Geflüchteten wissen.)

– Was fällt Ihnen ein zu …
Welche Lebensbedingungen prägen unserer Meinung nach den Alltag von Geflüchteten? – Überlegungen der TN in Stichworten auf Flipchart notieren; mit den Informationen aus dem Beitrag vergleichen: Wo stimmen unsere Vorstellungen mit der Realität überein – und wo (warum) nicht?

Welche Rolle spielen geflüchtete Frauen in unserer Gemeinde / unserem Wohnumfeld? – Vermutungen und Informationen zusammentragen und Möglichkeiten zu einer Gesprächsrunde dazu mit geflüchteten Frauen suchen

Gibt es in unserem Umfeld Initiativen für Geflüchtete oder Selbstorganisationen? – ggf. zum Gespräch einladen

– Was tun?
Wie können Möglichkeiten der Teilhabe für Geflüchtete in der Gemeinde geschaffen werden? – zunächst in Kleingruppen besprechen, dann in der gesamten Gruppe

Marie Günther, geb. 1988, hat Soziale Arbeit / Sozialpädagogik studiert. Seit Sommer 2011 arbeitet sie in der Sozialberatung des Psychoso­zialen Zentrums für Flüchtlinge (PsZF) – REFUGIO Thüringen und leitet dort auch das Gruppenan­gebot für psychisch belastete Flüchtlingsfrauen. Das Beratungs- und Behandlungszentrum begleitet insbesondere Traumatisierte und Überlebende von Folter, Krieg und sexualisierter Gewalt in verschiedenen Bereichen ihres Lebens.

Anmerkungen
1) Quellen: Weltflüchtlingszahlen 2013: UNHCR Report; www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/themen/fluechtlingsfrauen.html
2)
Vgl. Werner 1998 S. 12
3) etwa in Ex- Jugoslawien, in Ruanda und im Darfur-Konflikt
4) Vgl. Thomas 1999 S. 43
5) Vgl. Joachim, 2006 S. 82
6) Zuweisung der neu eingereisten Asylsuchenden erfolgt mittels des EASY – Systems (Erstverteilung von Asylbegehrenden) auf die Bundesländer.
7) Bis 2014 waren es neun bzw. zwölf Monate bei einer Duldung
8) Bei Aufenthaltsgestattung nach 3 Monaten, bei Duldung ab dem ersten Tag des Aufenthalts
9) Vgl. Voigt 2014 S. 1ff
10) d.h.: vorübergehende Aussetzung der Abschiebung von zur Ausreise Verpflichteten
11) Vgl. Voigt 2005 S. 23
12) Vgl. ebd. S. 11 f.
13) Vgl. ebd. S. 33
14) Fast zwei Drittel der 796 Millionen Menschen weltweit, die nicht alphabetisiert sind, sind Frauen. www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Artikel/2013/09/2013-09-08-ez-welttag-alphabetisierung.html
15)
Foda / Kadur, 2005 S. 47
16) Vgl. ebd. 2005 S. 28
17) Vgl. Foda / Kadur, 2005 S. 20; dass viele der Geflüchteten mehrsprachig sind, wird von der Gesellschaft nicht im ausreichenden Maße als Ressource gesehen; vgl. ebd. S. 19
18) Vgl. Classen 2008 S. 175
19) ebd. S. 176
20) Herold 2005 S. 53

verwendete Literatur / Internetseiten
Classen, Georg; Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.) 2008: Sozialleistungen für Migrant_innen und Flüchtlinge. Handbuch für die Praxis, 2. Auflage von Loeper Literaturverlag im Ariadne Buchdienst, Karlsruhe
Foda, Fadia u. Kadur, Monika 2005: Studie Flüchtlingsfrauen verborgene Ressourcen, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Berlin
Herold, Sabine 2005: Wenn Frauen flüchten – ­Formen geschlechtsspezifischer Verfolgung und die Situation von asylsuchenden Frauen in Deutschland, in: Grawert, Elke / Clausen, Frauke (Hrsg.) enro + biz – Studien zu Entwicklungspolitik und Nichtregierungsorganisation Bd 7, Shaker Verlag Aachen
Joachim, Ingeborg 2006: Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen, in: Medica Mondiale e.V.; ­Griese, Karin (Hrsg.): Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen: Handbuch zur Unterstützung trauma­tisierter Frauen in verschiedenen Arbeitsfeldern; 2. akt. und erw. Aufl. Mabuse Verlag; Frankfurt am Main, 56-89
Schöttes, Martina / Schuckar, Monika 1995: Fluchtgründe von Frauen in der Einschätzung von asylrechtlichen Entscheidungsinstanzen und RechtsanwältInnen: Ergebnisse der empirischen Untersuchung, in: Schöttes, Martina (Hrsg.) Frauen auf der Flucht Bd. 2, Weibliche Flüchtlinge im deutschen Exil, Verlagsabteilung des Berliner Instituts für Vergleichende Sozialforschung e.V., Berlin, 133-174
Thomas, Sybille 1999: Aus aller Frauen Länder. Frauenspezifische Verfolgung und die Situation von Flüchtlingsfrauen in Deutschland, in: Kölner Forum Frau und Hochschule, 36-51
Voigt, Claudius; GGUA Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (2014): Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge mit ­Duldung und Aufenthaltsgestattung: Erleichterung gelten seit November 2014; Münster
Werner, Bettina 1998: Frauenspezifische Fluchtgründe, die Berücksichtigung im deutschen Asylverfahren, Konsequenzen für die soziale Arbeit, in: Gesellschaft der Freunde und Förder der Ev. Fachhochschule Hannover e.V. (Hrsg.): Theorie und Praxis der sozialen Arbeit – Hannoversche Beiträge, Druckerei der Ev. Fachhochschule Hannover
www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Artikel/2013/09/2013-09-08-ez-welttag-alphabetisierung.html
www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/­themen/fluechtlingsfrauen.html
www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/­zahlen-fakten/weltfluechtlingszahlen-2013.html
(03.04.2015)
www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Ar­gumente/lux_argu_Fluechtlinge.pdf

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