Ausgabe 1 / 2004 Artikel von Klara Butting

Gleichgeschlechtliche Liebe verboten?

Das biblische Menschenbild und die Weitergabe des Lebens

Von Klara Butting

(Auszug)

Die Annahme, der Mensch sei nach Gottes Willen auf Ehe und Familie hin geschaffen, führt dazu, dass die vereinzelten Verse zu Homosexualität zu zentralen Aussagen der Bibel werden. Wenn wir über die Rolle der Bibel in der Diskussion um Lebensformen nachdenken, muss deshalb in erster Linie die Frage nach dem biblischen Menschenbild beantwortet werden: Sind wir Menschen nach dem Zeugnis der Bibel tatsächlich auf Ehe und Familie hin geschaffen?

Das biblische Menschenbild

Oft wurde die Behauptung, die Ehe sei menschliche Bestimmung, bereits in die Übersetzung der Schöpfungsgeschichte hineingetragen. So heißt es bei Martin Luther: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, er schuf sie als Mann und Weib“ (Gen 1,27). Doch Gott schuf nicht Mann und Frau! Die Elberfelder Bibel macht wenigstens die Anmerkung: wörtlich heißt es „männlich und weiblich“. Dementsprechend übersetzt Martin Buber: „Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie.“ Mit der Geschlechterdifferenz männlich – weiblich ist nicht gesagt, dass Menschen als Mann und Frau zusammenleben müssen. Sie erinnert vielmehr gerade an die Verschiedenheit der Menschen, an Vielfalt und Pluralität der Schöpfung Gottes. Nicht uniformiert, auch nicht in eine Lebensform gezwungen werden Menschen gedacht, sondern als Mitmenschen, unter denen die eine anders ist als der andere.

Die ganze Bibel ist von der Vision durchzogen, dass diese verschiedenen, ja oft auch verfeindeten Menschen zu einer Einheit werden. Diese Vision hängt mit dem Bekenntnis zu dem Einen Gott zusammen, von dem Altes und Neues Testament erzählen. Diesem Gott vertrauen heißt darauf hoffen, dass sich Liebe und Zuwendung in der Geschichte der Menschen durchsetzen. Eine Hoffnung, die in der Vision vom Einswerden von verschiedenen Menschen zur Sprache kommt – wobei ihr Einswerden nicht bedeutet, dass alle gleich werden (dagegen spricht die Geschlechterdifferenz), sondern dass sie verschieden ohne Herrschaft, versöhnt miteinander leben. Das in zwei Reiche gespaltene und verfeindete Israel wird zu „einem Volk“ werden (Ez, 37,22, 2 Sam 7,23). „Ich gebe ihnen ein Herz und einen Weg,“ verspricht Gott durch seine Propheten (Jer 32,39, Ez 11,19). Diese Versöhnung wird die ganze Völkerwelt und die ganze Schöpfung umfassen und erneuern. „Wolf und Lamm werden weiden wie eins“ (Jes 65,25), und die Völker werden Gott „mit einer Schulter dienen“ (Zeph 3,9). Universale Versöhnung wird geschehen, die der Apostel Paulus in seiner Zeit wahr werden sieht. Er beschreibt die Gemeinden in der Nachfolge Jesu als den Beginn der geeinten Menschheit: „Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, seien wir Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie“ (1 Kor 12,13).

Im Brief an die Galater fasst Paulus diese Gemeindeerfahrung zusammen: In Christus – „da gibt es keinen Juden noch Griechen, da gibt es keinen Sklaven noch Freien, da gibt es nicht männlich und weiblich. Denn alle seid ihr eins in Christus Jesus“ (Gal 3,28). In dieser Beschreibung der Gemeinde wird die Schöpfungsaussage „männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27) zitiert. Wie Jesus im Streitgespräch mit den Pharisäern liest offenbar auch Paulus in der Schöpfungsgeschichte die menschliche Bestimmung zu versöhnter Einheit. Doch diese Einheit, auf die Gott in der Schöpfung aus ist, erfüllt sich nach Paulus dort, wo Menschen in der Nachfolge Jesus aus Gewaltverhältnissen aussteigen und neue egalitäre Gemeinschaftsformen erproben. Die Verheißung, dass zwei zu einem Fleisch werden, zielt – so Paulus – nicht auf die Ehe und gilt auch nicht etwa nur der Gemeinschaft von Mann und Frau. Sie erfüllt sich, wo freie Frauen und Männer mit Sklavinnen und Sklaven Brot teilen und Juden und Jüdinnen von Leuten aus den Völkern statt Antisemitismus Achtung und Akzeptanz erfahren. Wo Herrschaft und Feindschaft überwunden werden, wird sichtbar, was wir als Menschen sein sollen und sein werden. Das kann sich in einer Ehe ereignen, das kann und soll aber auch in anderen Versöhnungsgeschichten, anderen Freundschaften, auch gleichgeschlechtlichen zum Vorschein kommen.

Die Weitergabe des Lebens

Die biologische Fruchtbarkeit ist ein entscheidendes Argument, um die Gleichrangigkeit der verschiedenen Lebensformen zu bestreiten. Die Fähigkeit zur Weitergabe des Lebens, so wird gesagt, hebt die Ehe vor allen anderen Lebensgemeinschaften hervor.

Die biblische Geschichtsschreibung widerspricht dieser Festlegung von Lebensweitergabe auf den Vorgang der biologischen Fortpflanzung. Wenn im 1. Buch Mose erzählt wird, wie Israel unter den Völkern entsteht, ist dies nicht die Folge biologischer Reproduktion. Alle Mütter Israels sind unfruchtbar. Sara ist sogar alt, längst jenseits der Wechseljahre, als Isaak geboren wird. Paulus kann deshalb das Werden Israels und die Auferstehung der Toten parallelisieren (Röm 4,16-20). Die Hoffnung auf die Geburt von Kindern und die Fortexistenz des jüdischen Volkes durch die Jahrtausende wird genährt von der Erfahrung, dass Gott Hilfe ist in aussichtslosen Situationen und einen Streit führt gegen die zerstörerische Macht des Todes. Zur Geschichte Israels gehören deshalb auch die Erzählungen von Menschen, die Leben weitergegeben haben, ohne dass dabei von biologischer Fortpflanzung überhaupt die Rede ist. Die Prophetin Debora heißt „Mutter in Israel“, weil sie den Anstoß gibt zu Israels Befreiung (Ri 5,7). Die Propheten Elia und Elischa werden „Vater“ genannt, weil sie mit Rat und Tat der Gemeinschaft neue Lebensperspektiven eröffnet haben (2 Kön 2,12, 13,14). In diesem Sinne sagt der Babylonische Talmud von einem Menschen, der einen anderen in Gottes Weisungen unterrichtet, es ist, als habe er ihn erschaffen (bSanhedrin 99b). Leben wird geschenkt, wo Gottes Wege erzählt und erkannt werden. Rabbi Akiva kann in einer Diskussion über das Gebot „seit fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) vom Lernen und Lehren der Tora erzählen (bJevamot 62b). Dieses Gebot wird erfüllt, wo Gottes Weisungen weiter gegeben werden. Weitergabe des Lebens geschieht, wo Menschen lehren und lernen, Segen zu wählen statt Fluch, Leben zu wählen statt den Tod.

Paulus teilt diese Überzeugung der rabbinischen Gelehrten. Er nennt sich selbst Vater der korinthischen Gemeinde, nennt ihre Mitglieder seine „geliebten Kinder“ und schreibt: „Ich habe euch durch das Evangelium in Jesus Christus gezeugt“ (1 Kor 4,14 f). Er rät den Frauen und Männern der korinthischen Gemeinde zur Ehelosigkeit: Sie können sich dann besser auf die neuen, nicht biologisch geprägten Bindungen in der Gemeinde einlassen. Auf jeden Fall sieht er keine Verpflichtung zur biologischen Fortpflanzung und daher auch keine Verpflichtung zur Ehe.

Mit Worten des Trostes und Taten der Liebe in der Nachfolge Jesu haben wir Teil am Schöpfungswirken Gottes. Die Fortpflanzungsorgane bestimmen für die Jesusleute nicht die Lebenswege von Frauen und Männern. Kinder werden auf dem gemeinsamen Weg geschenkt. Als Petrus sich einmal beunruhigt an Jesus wendet und fragt, was aus ihnen werden soll, wo sie alles verlassen haben und ihm nachgefolgt sind, malt Jesus ihm den Segen aus, der auf ihrem Aufbruch liegt: hundertfach werden sie empfangen, Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker (Mk 10,29 f). Jesus verspricht denen, die sich mit ihm auf den Weg machen, und deshalb z.B. auf eigene Kinder verzichtet haben, ökonomische Versorgung. Er sieht sie getragen von Geschwistern, eingebunden in die Generationenfolge, mit Verantwortung für Kinder, an die sie ihr Leben weitergeben. Die Fülle der für das menschliche Leben wesentlichen Funktionen wird ihnen versprochen. Eine peinliche Reduktion dieser Verheißung wird in Kauf genommen, wo die Erfahrung von Lebensfülle an Ehe und Familie gebunden wird. Eine reduzierte Vorstellung von der Weitergabe des Lebens führt zur Verfälschung des biblischen Zeugnisses und begründet eine Hierarchisierung der Lebensformen, die nicht nur die Lebensgemeinschaften von Lesben und Schwulen negiert und sie aus dem Segensstrom Gottes ausgrenzt, sondern alle anderen Lebensformen herabwürdigt.

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