„Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.
Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr herausschütten.
Was geschehen, ist geschehen. Das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr herausschütten, aber
Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.“ (1)
Dieses Gedicht Bert Brechts bewirkt, wovon es spricht. Es lässt aufatmen. Es schenkt einen Neubeginn, wo alles unveränderlich erschien. Und das mit sparsamsten Mitteln: zwei Strophen, die aus fast denselben Zeilen bestehen. Und doch wandelt sich alles, weil die Reihenfolge der Zeilen wechselt und weil das „Aber“, das Schlüsselwort dieses Gedichts, verrückt ist.
Die erste Strophe beginnt mit der Verheißung, dass noch mit dem letzten Atemzug ein Neuanfang möglich ist. Doch dann weicht diese verheißungsvolle Aussicht der nüchtern realistischen Einsicht, dass wir das, was geschehen ist, nicht ändern können, dass sich nichts, was passiert ist, ungeschehen machen lässt. Einmal ausgesprochene Worte können nicht zurückgeholt, vollbrachte Taten und allemal Untaten nicht rückgängig gemacht, Versäumtes kann nicht nachgeholt, Misslungenes nicht wieder gut gemacht werden.
Ach, könnte ich das nur ungeschehen machen! Könnte ich die Uhr doch zurückdrehen, noch einmal von vorn beginnen! Wer von uns hat sich das nicht schon mehr als einmal gewünscht? Doch wir können nicht so tun, als wäre nicht geschehen, was geschehen ist. Was der Fall ist, ist der Fall. Wie kann es einen Neuanfang geben, wenn wir die Last der Vergangenheit nicht abschütteln können, wenn sie uns bisweilen gar die Kehle zudrückt und den Atem nimmt? Hat die Wirklichkeit über die Verheißung gesiegt?
Nun hat das Gedicht eine zweite Strophe mit fast denselben Zeilen, doch alles wandelt sich: Bot die erste Strophe gegen die Verheißung eines Neu beginns die Nichtrevidierbarkeit der Vergangenheit auf, so wird eben diese Reihenfolge jetzt auf den Kopf gestellt, und der Atemzug hat das letzte Wort. Indem wir aber das Wort „Atemzug“ aussprechen, schöpfen wir Atem.
Dieses Gedicht lässt aufatmen, weil es der Unveränderbarkeit des einmal Geschehenen nicht das letzte Wort lässt, weil die Vergangenheit nicht über die Gegenwart und die Zukunft siegt, weil selbst die Vergangenheit sich wandeln kann, wenn sich alles wandelt. Was zunächst so realistisch klang, dass wir nämlich das Wasser, das wir in den Wein gossen, nicht herausschütten können – das wird nun als fatalistisch entlarvt. Es ist das ein wenig verrückte „Aber“, das alles auf den Kopf stellt:
„… aber / Alles wandelt sich. Neu beginnen / kannst du mit dem letzten Atemzug.“ Manchmal hängt alles daran, wann wir „aber“ sagen, und wem wir das letzte Wort lassen.
„Wer nicht von oben her neu geboren wird, kann das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3), fällt Jesus mit der Tür ins Haus, als ihn der Pharisäer Nikodemus aufsucht – ein Mitglied der jüdischen Oberschicht (V. 1) und selbst ein Lehrer Israels (V. 10), der heimlich mit Jesus sympathisiert. Es geht also in diesem nächtlichen Gespräch um die Teilhabe am Reich Gottes. Das Johannesevan gelium formuliert hier radikaler als die anderen Evangelien, die von einem Vergleich sprechen: „Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, kommt nicht in es hinein.“ (Mk 10,15) „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, kommt ihr nicht in das Himmelreich hinein.“ (Mt 18,3) Nicht nur ein Werden wie die Kinder und ein Annehmen wie die Kinder, sondern die Geburt eines neuen Menschen ist die Voraussetzung der Teilnahme am Reich Gottes – eine Voraussetzung, die wir uns nur schenken lassen können, denn wir gebären uns nicht selbst, sondern werden geboren. Das neue Leben ist Gabe, nicht Verdienst, nicht Leistung. Wir empfangen es gratis, aus Gottes Grazie allein. Dass es „von oben“ kommt meint, dass nun auch wir – wie schon Jesus selbst (vgl. Joh 8,23) – eine himmlische, eine göttliche Herkunft erhalten und mit ihr an der Lebensfülle Gottes teilnehmen. Neu und von oben her ist das Leben, dem der Tod letztlich nichts mehr anhaben kann, weil es durch den Tod hindurch gegangen ist. Dieses neue Leben macht uns mitten im irdischen Leben zu BürgerInnen der kommenden Welt, die keinen Tod,
kein Leid und keine Tränen mehr kennt. (Vgl. Jes 25,8; 35,10; Offb 21,4)
Nikodemus hat verstanden, dass es hier nicht nur um die eine oder andere Verhaltensänderung oder eine bessere Moralität geht, sondern wirklich um einen radikalen Neubeginn, um eine neue Geburt. Für einen klar denkenden Menschen ist das absurd: „Wie kann ein Mensch geboren werden, der alt ist? Es ist doch nicht möglich, ein zweites Mal in den Bauch der eigenen Mutter hineinzugehen und geboren zu werden!“ (2) Für den nüchternen Realisten ist die erneute Geburt bereits Geborener eine Illusion. Es gibt kein Zurück in den Mutterleib; der Lauf des Lebens ist unumkehrbar. Wer einen völligen Neuanfang für möglich hält, verschließt die Augen vor der Realität. Nikodemus beugt sich der Macht des Faktischen. Was vor Augen liegt, ist für ihn die ganze Wirklichkeit. Dass die Zeichen und Wunder, die Jesus tut und die Nikodemus ja zu würdigen weiß (V. 1), auf die todesmächtige SchöpferInnenkraft Gottes hinweisen, die unsere Gegebenheiten noch einmal verändern kann, nimmt Nikodemus dabei nicht wahr. Darum setzt Jesus ein zweites Mal an, um näher zu erklären, wie diese neue Geburt von oben her zu verstehen ist.
„Wer nicht aus Wasser und Geistkraft geboren wird, kann nicht in das Reich Gottes hineinkommen.“ (V. 5) Wasser und Geistkraft – das sind die Elemente, mit denen Gott in schier ausweglosen Situationen, in denen die Zukunft verschlossen erscheint und selbst die Hoffnung erstorben ist, gegen den Augenschein neues Leben schenkt und eine verheißungsvolle Zukunft eröffnet. Mit Wasser und Geistkraft ist Gott in Ihrem Element, wenn es darum geht, Leben aus dem Tod zu schaffen, in Resignation und Verzweiflung neue Hoffnung zu wecken. „Denn ich will Wasser auf das Durstige gießen und Rieselbäche auf das Trockene. Ich will meine Geistkraft auf deine Nachkommen gießen und meinen Segen auf deine Sprößlinge, damit sie wachsen wie auf einer Wiese, wie Pappeln an Wasser bächen.“ (3) – lässt Gott Seinem am Boden liegenden Volk im babylonischen Exil ausrichten. Israels Gott wird Ihr Volk neu beleben, es wird wachsen, grünen und gedeihen wie ein ausgedörrtes Land, das neu bewässert wird. Mit Seiner Geistkraft segnet Gott die Schöpfung und begabt sie damit zu einem Leben, in dem alle Schalom, Genüge haben.
Wo der Exilsprophet Deuterojesaja schöpfungstheologisch argumentiert, spricht sein Zeitgenosse Ezechiel in eher kultischen Kategorien von heilvoller Reinigung und Erneuerung – wiederum vermittelt durch Wasser und Geist: „Ich besprenge euch mit klarem Wasser, um euch zu reinigen. Von all euren Verstri -ckungen, von all euren Truggottheiten werde ich euch frei machen. Ich will euch ein neues Herz geben und euer Inneres mit neuer Geistkraft erfüllen. […] Meine Geistkraft will ich in eure Mitte geben und euch zu Menschen machen, die meinen Bestimmungen folgen und mein Recht bewahren und verwirklichen.“ (4)
Gottes Geistkraft macht Menschen aus uns, die sich aus falschen Abhängig keiten und knechtenden Verbindlich keiten befreien lassen, um mit Lust und Liebe nach den Weisungen Gottes zu leben. Als Geistkraft manifestiert Gott sich selbst in irdischen Verhältnissen lebensschaffend und -fördernd, bricht in sich selbst verschlossene und verkrümmte Lebensgeschichten auf und schenkt Neuanfänge, wo alles zu Ende schien: „'Geist' bezeichnet die sich selbst durchsetzende Wirklichkeit Gottes. Von Gott her einen neuen Anfang zu erhalten und sich auf seine Wirklichkeit gegen die scheinbare Dominanz des Faktischen einzulassen – das meint die Geburt aus dem Geist.“ (5)
Wo von Wasser und Geist die Rede ist, assoziiert die christliche Gemeinde die Taufe als jenes Initiationsritual, in dem die Gabe des neuen Lebens sinnlich erfahrbar und leibhaftig bei jedem Menschen ankommt. In der Taufe wird die Begabung jedes Menschen mit der göttlichen Geistkraft im Raum der Gemeinde so besiegelt, dass wir ihrer ganz gewiss sein können. Gottes Geistkraft weht, wo sie will (V. 8); sie will sich nicht domestizieren, nicht innerhalb der Kirchenmauern und auch nicht ins Sakrament einsperren lassen. Wir haben sie nicht im Griff, aber sie macht sich für uns begreifbar, mit Händen zu fassen – im Taufelement des Wassers, das tötet und reinigt und neu belebt.
Joh 3,5 identifiziert das Taufgeschehen als Sakrament, als geheimnisvolles, wunderbares Zeichen der neuen Geburt. Das griechische Wort für Taufen heißt in seiner Grundbedeutung „tauchen“. Wer getauft wird, wird eingetaucht in Gottes Element. Der rudimentäre Ritus des Beträufelns der Täuflinge mit ein paar Wassertropfen verstellt uns die Einsicht in die Vieldeutigkeit des Elementes Wasser. Mit dem Wasser verbinden sich Todes- und Lebenserfahrungen: Das Eintauchen ins Wasser symbolisiert das Sterben des Menschen, der sich die eigene Identität selbst machen will, der das eigene Leben nicht als Gabe annehmen kann. Und im Herausziehen aus dem Wasser kommt das neue Leben zur Welt, das von Gottes Geist belebt und inspiriert ist.
Mit der Taufe rückt zugleich die Gemein de in den Blick als der Lebensraum, in dem die Neugeborenen geschützt heranwachsen und gedeihen und sich in ein Leben nach dem Willen Gottes einüben können. Nikodemus kommt nachts allein zu Jesus. Er fürchtet Imageverlust, sieht sein hohes Pres tige und seine angestammten Privilegien in Gefahr, wenn ihn jemand zusammen mit Jesus entdeckt. Mit dem Hinweis auf die neue Geburt von oben aus Wasser und Geistkraft erklärt Jesus ihm, dass sich die Teilhabe am Reich Gottes nicht mit der Selbstgenügsamkeit von Menschen verträgt, die meinen, anderer nicht zu bedürfen. Vielmehr ist die Taufe Eingliederung in die Gemeinde als den Leibraum des auferweckten Gekreuzigten. Mitten in der Welt soll die Gemeinde der Raum sein, „in dem ein Mensch wirklich von vorn anfangen darf, weil er im Miteinander anderer Menschen steht, denen derselbe Anfang gewährt ist und die deshalb ihre Vergangenheit einander nicht aufrechnen und so in der Gegenwart nicht miteinander abrechnen, sondern wirklich leben können.“ (6)
Mit der Teilhabe am Reich Gottes kor respondiert hier und heute, in irdischen Verhältnissen und menschlich-allzumenschlichen Lebenswelten, die Zugehörigkeit zur Gemeinde als dem Lebensraum der Neugeborenen. Die Gemeinde ist der Bereich, in dem – auch gegen den Augenschein – das Lob des Namens Gottes gesungen und so Gott Gewicht gegeben wird. Darum taufe ich seit Jahren in den Namen des dreieinigen Gottes. Der Name Gottes selbst wird zum bergenden Zufluchtsort des neuen Lebens: „Ein gewaltiger Turm ist der Name der Ewigen; die Gerechten laufen hinein und sind dort sicher.“ (7) Wo der trinitarische Gottesname bekannt wird, spannt sich ein weiter Lebensraum auf, in dem Menschen zuhause sein und sich schwach zeigen können, ohne Stärke zu provozieren. Mit dem Hinweis auf den Leibraum der Gemeinde eröffnet sich auch eine Perspektive, wie das alltägliche Leben aus der Taufe Gestalt gewinnen kann.
Traditionell wird die Taufe mit dem Apostel Paulus gedeutet als Mitgekreuzigt- und Mitauferwecktwerden mit Christus (Römer 6), symbolisiert durch Untertauchen ins Wasser (Tod) und Herausziehen aus dem Wasser (Geburt in ein neues Leben). Sie wird verstanden als Befreiung aus der Macht der Ur- oder Grundsünde (8) des Bruchs der Beziehung zwischen Mensch und Gott, der zwischenmenschliche Beziehungen, das Selbstverhältnis und die Schöpfungsge meinschaft überhaupt in Mitleidenschaft zieht. Feministische Theologinnen haben demgegenüber an den Ursegen erinnert, der der Schöpfung von Anfang an eingestiftet ist: „So ist für mich die Taufe nicht mehr Garantin für die Tilgung von Schuld und die Vergebung von Sünden, sondern ein weit geöffnetes Tor des Vertrauens und Zutrauens ins Leben. Durch sie können wir ins Leben eintauchen.“ (9)Hier wird aber zum Gegensatz erhoben, was untrennbar zusammengehört: Geht es bei der Taufe um die Vergewisserung neuen Lebens aus dem Tod, um die Besiegelung der (neu)schöpferischen Kraft des Geistes im Symbol des Wassers, dann ist eine radikale Veränderung des Lebens im Blick, die auch die Vergangenheit verändert, sie gleichsam reinigt von Schuld und Versagen und damit den Segen Gottes strömen lässt.
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) hat nicht nur erkannt, dass die Gebürtlichkeit, das Auf-die-Welt-Kommen und die Eingliederung in eine Generationenfolge die Bedingung der Möglichkeit ist, ein eigener Mensch, eine handelnde Person zu sein. Sie hat – im Rückgriff auf jesuanische Traditionen – auch vom Wunder des Neuanfangs mitten im Leben, vergleichbar der Geburt eines neuen Menschen, ge sprochen. Dieses Wunder einer neuen Geburt geschieht, wo Menschen einander verzeihen. Wer vergibt, gibt einen Neuanfang. Wer verzeiht, verzichtet darauf, einen Menschen für immer auf seine Vergangenheit fest zulegen. Ver gebung schenkt, dass wir nicht lebenslänglich an die Folgen unserer (Un-)Taten, Versäumnisse und Fehler gebunden bleiben, sondern auch angesichts von Schuld wieder aufatmen können und handlungsfähig werden: „Könnten wir einander nicht vergeben, d.h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln ge wissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden, im Guten wie im Bösen; gerade im Handeln wären wir Opfer unserer selbst.“ (10) Vergebung ist Entbindung und kommt damit einer Geburt gleich. Jede Erfahrung von Vergebung ist – mitten im Leben – ein Neugeboren werden.
Hinweis für die Leiterin: Sie können die folgenden Anregungen zum Gespräch in der Gruppe einzeln oder in beliebiger Kombination verwenden. Für jede der Einheiten sollten ca. 30 – 40 Minuten Zeit zur Verfügung stehen.
Neu anfangen
Brecht ist ein exzellenter Bibelkenner und -interpret. Sein Gedicht „Neu beginnen“ ist Schriftauslegung. Es bringt zur Sprache und lässt erleben, was Neuanfang heißt. Theologisch ausgedrückt, könnte seine Überschrift auch „Vergebung“ oder „Taufe“ heißen.
– Leseübungen mit dem Gedicht können zu Atemübungen werden: die Vokale, besonders die langen a-Laute beachten; dem verrückten „Aber“ auf die Spur kommen. Wichtig ist dabei, sich das Gedicht gegenseitig („du“) zuzusagen, damit es je konkret als Verheißung wahr genommen werden kann. Denn erst im Licht des verheißenen und leibhaft-sinnlich erfahrbaren Neuanfangs ist der unverstellte und ungeschönte Blick auf eine belastende und bedrängende Vergangenheit erträglich.
– „Was geschehen, ist geschehen“ – sich über Getanes, Unterlassenes, Widerfahrenes austauschen, das den Wunsch weckt, die Vergangenheit ändern zu können, und sich dabei reinen Wein einschenken. Die Lasten können mit (etikettierten) Steinen symbolisiert und nach dem Benennen und Bekennen und dem Finden der Gegenworte (siehe nächsten Schritt) – wenn räumlich möglich – im (tiefen) Wasser ertränkt werden.
– „Weil das, was ist, nicht alles ist, kann das, was ist, sich ändern.“ (Jürgen Ebach) „Aber“ – was motiviert uns zum Widerspruch gegen das Fak tische? Miteinander Gegenworte finden (biblische und andere).
Geboren sein
Was heißt es, von seiner Geburt her zukommen, in die Welt hineingeboren zu sein? Geburt als Neubeginn bedenken, dabei die Ambivalenz des Geburts ereignisses – Geburt als Todes- und Lebenserfahrung für Mutter und Kind – nicht verschweigen, auch nicht die ausgebliebenen Gebärerlebnisse: Geboren ist jede, aber nicht jede hat geboren! Hier können einschlägige Zitate Hannah Arendts zur Bedeutung der Gebürtlichkeit als Impulse das Gespräch eröffnen.
Taufe als Geburt
Erinnern von Tauffeiern; Sichtung von Taufliturgien, -gebeten und -liedern: Sind diese transparent für die Erfahrung von Geborensein und Gebären? Gibt es eine Geburtsmetaphorik und eine Geburtsspiritualität der Taufe?
Während ich diesen Beitrag schreibe, ist im Magdeburger Dom die eindrückliche Ausstellung „Tausend Jahre Taufen in Mitteldeutschland“ zu sehen. Wieder einmal hat es mich irritiert, Familientaufbilder zu sehen, auf denen die Mutter des Täuf lings fehlt, weil die Taufe nur einen oder wenige Tage nach der Geburt stattfand und die Mutter noch im Wochenbett lag oder gar als unrein galt und deshalb nicht an der Taufe teilnehmen durfte. Diese empfindliche Leerstelle ist eine deutliche Mahnung, in den Taufliturgien die realen Erfahrungen der Schwangerschaft und Geburt nicht auszublenden, sondern theologisch zu deuten und zu würdigen.
Taufwasser
Das Element Wasser ist ein beliebtes Thema für Taufansprachen. Dabei wird heute meist allein der schöpfungstheologische Aspekt: die belebende, erfrischende Kraft klaren, reinen Wassers, das Wasser als Grundnahrungsmittel (und dessen Verunreinigung und Verknappung) bedacht, während seine vernichtende, tödliche Gewalt (Tsunami, Überschwemmungen) und seine reinigende Kraft (Taufe als Reinigungsbad) tauftheologisch in den Hintergrund treten.
Wie kann die Mehrdeutigkeit des Taufwassers – in Wort und Geste – in der Taufe zur Sprache kommen? Wie sollte der Taufraum gestaltet werden, um die Todes- und Lebenssymbolik des Taufwassers zur Sprache zu bringen? Die Überlegungen können auch eine Beziehung zwischen Taufwasser und Fruchtwasser einschließen, wenn es denn um die Wiederentdeckung der Geburtsmetaphorik der Taufe geht. (Vgl. Teresa Berger, Von Fruchtwasser und Taufwasser: Eintauchen in das eine Leben?, in: Ins Leben eintauchen!, aaO., 71-84.)
Tauferinnerung
Die Taufe ist ein einmaliges Geschehen. Um so wichtiger ist es, dass die Möglichkeit des Neuanfangs, den das Sakrament der Taufe markiert, je neu wahrgenommen und ergriffen wird, dass wir täglich aus der Taufe leben. Ich schlage – im Anschluss an die biblischen Vergebungstraditionen und die große Bedeutung des Verzeihens in der Philosophie Hannah Arendts – vor, Vergebung als eine Gabe zu verstehen, in der das Taufgeschehen erinnernd wiederholt, bekräftigt und leibhaft erfahrbar wird. Wie die Taufe, so verändert auch die Vergebung unsere Vergangenheit.
Wie kann Vergebung ritualisiert, liturgisch gestaltet werden, dass sie zu einem sinnlich erfahrbaren Moment unseres Lebens wird? Der Zuspruch von Vergebung als Tauferinnerungsfeier: Denkbar ist der Entwurf einer entsprechenden Liturgie. Zentraler Bestandteil dieser Liturgie könnte Brechts Gedicht „Neu beginnen“ sein.
Dr. Magdalene L. Frettlöh, geb. 1959,
ist Privatdozentin für Systematische Theologie an der Evang.-theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Rektorin des Kirchlichen Fernunterrichts der Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland in Magdeburg; Buchveröffentlichungen u.a.:
Theol ogie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh, 5. Aufl. 2005; Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechterge rechten Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 2006;
Mitherausgeberin der Buchreihe Jabboq.
Anmerkungen:
1 Bertolt Brecht, Gedichte 3 (GW 10), Frankfurt a.M. 1967, 888.
2 Joh 3,4 in der Verdeutschung der Bibel in der gerechter Sprache.
3 Jes 44,3-4 nach der Bibel in gerechter Sprache.
4 Ez 36,25-27 nach der Bibel in gerechter Sprache.
5 Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT 4,1), Stuttgart u.a. 2000, 123.
6 AaO., 124.
7 Sprüche 8,10 nach der Bibel in gerechter Sprache.
8 Der Begriff der Erbsünde, der mit seinen sexuellen Konnotationen eine besondere Affinität zu frauenfeindlichen Sündenlehren hatte, ist aufzugeben!
9 Elisabeth Moltmann-Wendel, Eintauchen ins Wasser des Lebens, in: Ins Leben eintauchen!, aaO., 23.
10 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben (1967), München / Zürich 7. Aufl. 1992, 232.
Zum Weiterlesen
Magdalene L. Frettlöh, „Der Mensch heißt Mensch, weil er … vergibt“? Philosophisch-politische und anthropologische Vergebungs-Diskurse im Licht der fünften Vaterunserbitte, in: Jabboq 5 (2005), 179-215.
Ins Leben eintauchen! Feministisch-theologische Beiträge zur Taufe, hg. von der Evangelischen Frauenarbeit in Württemberg, Bad Boll 2004.
Tausend Jahre Taufen in Mitteldeutschland. Eine Ausstellung der Evangelischen Kirche der Kirchen provinz Sachsen und des Kirchenkreises Magdeburg im Dom zu Magdeburg (20. August bis 5. November 2006). Katalog, hg. von Bettina Seyderhelm,
Regensburg 2006.
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