Ausgabe 1 / 2004 Andacht von Andrea Richter

Gott ist für mich Liebe und Leben

Eine Andacht über Liebe

Von Andrea Richter

Ihr
meine Schwestern und Brüder
im Herrn
übt christliche Nächstenliebe:
singt
betet laut
mit fester Stimme
ich schweige
soll mich verstecken
verstellen!
Ihr wundert euch
wie schlecht mir's gelingt
Ich schreie vor ohnmächtiger Wut!
Ich liebte
und werde lieben
das Meine
Gottes Liebe zu bezeugen1


Wer bist du?

„Ich bin beruflich mit der Kirche verbunden, und der christliche Glaube ist mir von Kindheit an eingepflanzt und mir als Lebenssinn und Orientierung wichtig. In  meinem Glauben gibt es kein Problem mit meinem Lesbischsein, auch wenn es in der Kirche ,Sünde' ist. Ich halte mich an Jesus, der den Umgang mit Außenseiter/innen dem mit frommen Moralisten vorzog und dem die Liebe das wichtigste Kriterium war. In der Kirche wurde mir nie offen etwas über gleichgeschlechtliche Liebe vermittelt. >Lesbisch< war ein unbekanntes Wort. Da aber immer das Bild von der Ergänzung von Mann und Frau herausgestellt wurde, war schon die alleinlebende Frau nichts Vollständiges und verdächtig. Also erlebe ich mich in jeder Hinsicht nicht dem traditionellen kirchlichen Menschenbild entsprechend.“2

„Durch religiöse Sozialisation und verwandtschaftliche Beziehungen zu kirchlichen Mitarbeitern (Mitglieder der Bekennenden Kirche im Dritten Reich), später durch  jahrelange ehrenamtliche Tätigkeit als Kirchenvorsteherin und als Mitarbeiterin in der Altenarbeit bis heute bin ich der Kirche immer verbunden gewesen. Dazu kommt, dass ich zusammen mit meiner Partnerin an Selbsterfahrungsgruppen, die in der Gemeinde angeboten und vom Gemeindepfarrer durchgeführt wurden, teilgenommen habe. Persönlich habe ich also Kirche und Gemeinde als Ort kennen gelernt, wo ich als Mensch in meiner Lebensform toleriert werde.“
„Offensichtlich ist, dass wir seit mehreren Jahren gemeinsam im Pfarrhaus leben: ich, die Pfarrerin, und meine Freundin. Der Einzug meiner Freundin wurde von vielen in der Gemeinde begrüßt: >Da sind Sie doch endlich nicht mehr so allein im großen Haus!< Auch wenn wir hier ohne Schwierigkeiten zusammenleben können, heißt das noch nicht, dass wir offen leben könnten. So ist es immer eine Sache des Abwägens, wer erfahren darf, dass wir in einer lesbischen Beziehung leben: In der Gemeinde möglichst niemand, von den Kolleginnen und Kollegen auch nicht alle, in der Verwandtschaft manche ja und manche nein.“4

„Mit achtzehn Jahren war für mich klar, dass ich nicht nach dem üblichen Muster leben würde; ich hatte keine Jungenfreundschaften, auch keine Gelegenheit und Lust gehabt, welche anzuknüpfen. Ich verliebte mich weiterhin in Frauen, himmelte sie von fern und im Verborgenen an und stand damit außerhalb dessen, was allgemein als normal angesehen wurde. Ich weiß noch, dass ich lange Zeit >Blut und Wasser< schwitzte, wenn andere vom ersten Verliebtsein erzählten. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, meine Gefühle Frauen gegenüber, meine gleichgeschlechtlich ausgerichteten Sehnsüchte als gleichwertig zu betrachten.“5

Wer seid Ihr?

Jede Teilnehmerin erhält einen der Texte. Porträtfotos (mehr als Teilnehmerinnen) von Frauen aller Altersstufen liegen aus. Jede überlegt, von welcher der Frauen ihr Text stammen könnte und wählt ein Foto aus.
Eine Teilnehmerin liest den Text vor und begründet ihre Wahl: „Diese Frau könnte das gesagt haben, weil…“; hat eine andere Frau den gleichen Text, zeigt sie jetzt ihr Bild und begründet ihre Wahl.
Was ist den Frauen bei der Auswahl der Porträts aufgefallen:
Welche Altersgruppe wurde bevorzugt? Welche Ähnlichkeiten,
welche Unterschiede gibt es zwischen den ausgewählten Bildern? Nach welchen Kriterien, welchen „Gesichts“-punkten wurde ausgewählt? Sind es Frauen wie wir oder ganz andere?

Was ich Euch sagen – was ich Euch fragen möchte

Dieser Satz steht in der Mitte eines großen Blattes Papier, das den ganzen Tisch bedeckt, um den die Teilnehmerinnen sitzen. Kreuz und quer sind schon einige Sätze geschrieben: Der liebe Gott hat das so nicht gewollt. Ist Dir denn kein Mann gut genug? Das ist nicht normal. Hast Du keine Angst? Schön, dass Du darüber sprichst. Dass zwei sich lieben, sollte jeden Menschen freuen! Die Frauen werden gebeten, ihre Gedanken dazu zu schreiben. Nach einiger Zeit können sie die Plätze wechseln und an anderen Stellen etwas hinzuzufügen, in Frage stellen oder widersprechen. Nach insgesamt 20 Minuten liest die Leiterin alles vor, was  aufgeschrieben wurde.

Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Das sagt der Schreiber des ersten Johannesbriefes (4,16). „Gott ist für mich Liebe und Leben.“ Das sagt eine lesbische Frau.

Gott und Liebe gehören untrennbar zusammen. Gott und die Liebe können wir nicht auseinandernehmen. Wir können nicht sagen: Du sollst zuerst Gott lieben und danach deinen Nächsten. Christus hat uns gesagt: das ewige Du, Gott, ist im irdischen Du, dem Nächsten, zu finden, sonst nirgends. Und deshalb hat alle Liebe etwas mit Gott zu tun, sonst ist es keine Liebe. Manches kommt daher im Gewand der Liebe, tut so, als sei es Liebe, will Liebe genannt werden. Aber wenn es nicht dem Leben dient, dann ist es als Lieblosigkeit entlarvt. Liebe macht lebendig, und deshalb ist sie umfassend und kann nicht zerstückelt werden in sexuelle Liebe, karitative Liebe und Liebe im gesellschaftlich-politischen Bereich.
Dorothee Sölle sagt: „Wir wissen schon heute, dass diejenigen, die die Kräfte sexueller Liebe verdammen, Menschen auch zu helfender und barmherziger Liebe unfähig machen. Wenn wir in Zukunft von Gott noch etwas sagen können, dann nur dies: Gott ist, dass wir lieben können. Gott ist die Kraft, das Feuer, das unsere Liebe trägt.“6

Gebet: z. B. von Seite 37

Segen7

Gott segne uns und behüte uns.
Gott gebe uns Liebe wo Hass ist,
Kraft wo Schwachheit lähmt,
Toleranz wo Ungeduld herrscht,
Offenheit wo alles festgefahren scheint.
So sei Gottes Segen mit uns allen,
beflügle unsere Hoffnung
und begleite uns wie ein Licht in der Nacht.

Lied: Ubi caritas – Wo die Liebe wohnt (EG 587)


Andrea Richter, 59 Jahre, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Sie ist seit 1987 Pastorin im Frauenwerk der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen und seit einem Jahr beauftragt für die Seelsorge an Homosexuellen und lesbisch orientierten Frauen.

Anmerkungen
1 Monika Barz, Herta Leistner, Ute Wild (Hgg.), Hättest du gedacht, dass wir so viele sind? Lesbische Frauen in der Kirche, Stuttgart 1987, S. 14; dem Buch
(S. 65) ist  auch die Überschrift dieser Andacht entnommen.
2 ebd., S. 17
3 ebd., S. 18
4 ebd., S. 37
5 ebd., S. 58
6 Bettina Hertel, Birte Petersen, Hgg., Den Rhythmus des Lebens spüren, Freiburg (Herder) 2003, S. 81
7 aus: Heidi Rosenstock, Hanne Köhler (Hgg.), Du Gott, Freundin der Menschen,
© Kreuz Verlag, Stuttgart 1991

 

 

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