Alle Ausgaben / 2012 Material von Eske Wollrad

Gott kommt auf den Schwingen des Gesangs

Von Eske Wollrad

Der feine Regen des Todes (Emilie Townes) gehört seit über dreihundert Jahren
zu den Erfahrungen afrikanisch-amerikanischer Menschen. Erst Versklavung, dann Lynch„justiz“ und „Rassen“trennung. Und heute prägen Armut, Drogen und Gewalt das Leben in den Schwarzen Vierteln. Vom „Schwaren Genozid“ spricht die womanistische Theologin Delores Williams, der auf die geistige und physische Zerstörung der Schwarzen Community zielt und den zu bekämpfen schier aussichtslos scheint.

Das Christentum hat viel zum feinen Regen des Todes beigetragen. Seit der Zeit der Sklaverei wurde Schwarzen vermittelt, ihr untergeordneter Stand sei gottgewollt und alles, worauf sie hoffen könnten, sei das jenseitige Heil. Dennoch schufen SklavInnen – verborgen vor den Augen der Weißen Herrschaft – ihr eigenes Christentum, verwurzelt in afrikanischen religiösen Traditionen und mit eigenen heiligen Texten, mündlich weitergegeben von Generation zu Generation, erzählt oder gesungen. Zu diesen heiligen Texten zählen die Spirituals. He's got the whole world in his hand, Swing low, Oh freedom oder When Israel was in Egypt's land. Obwohl hierzulande in den Bereich der Unterhaltung, der Jugendfreizeiten und Kirchentage verbannt, hat diese Musik ihre Kraft nicht verloren und vermag selbst solche in den Bann zu ziehen, die keine Ahnung haben, wovon sie singen. Die Kraft der Spirituals ist der Spirit, der lebendige Geist, der Menschen auf(er)stehen lässt. Spirituals haben Schwarze begleitet, ihnen Hoffnung gegeben weit über die Zeit der Sklaverei hinaus. Die Bürgerrechtsbewegung, die gegen die „Rassen“trennung kämpfte, verwandelte und ergänzte die Lieder, um den Ruf der Freiheit für ihre Situation zu aktualisieren. Die Schwarze Schriftstellerin Alice Walker schrieb: „'Wir werden siegen' – We shall overcome ist für die meisten AmerikanerInnen nur ein Lied, aber wir müssen es tun. Oder sterben.

Die Spirituals erzählen von der Freiheit, die Gott für Schwarze fordert: Let my people go! Gott kommt auf den Schwingen des Gesangs (Cheryl A. Kirk-Duggan), und in den Spirituals ist das Göttliche gegenwärtig. Als die BürgerrechtlerInnen gegen Rassismus marschierten, bezeugte ihr Singen, dass die Transformation von Gefangenschaft zu Freiheit bereits im Gange war: „Das Singen war ein Werkzeug der Kommunikation und Eucharistie: Hörende und Singende erlebten die visuelle Botschaft, als sie die verwandelten Gesichter und Körper der Singenden sahen.“ (Kirk-Duggan) Spirituals verwandeln Menschen innerlich und äußerlich. Die Auferstehungshoffnung, auf der sie gründen, hat etwas mit körperlichem Aufstehen
zu tun, mit dem konkreten Protest gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Aufstehen als Widerstand gegen Kampfhunde und Polizeiknüppel heißt musikalisch: We shall not be moved!

Cheryl Kirk-Duggan zufolge sind die Spirituals „liturgische Lieder der Reformation und verlangten Reform, Veränderung, Befreiung“. Der Kontext der Unterdrückung hat sich nicht grundlegend verändert, und die Sehnsucht der Schwarzen Liturgie – Joshua fit the battle of Jericho, and the walls came tumblin' down – ist noch nicht eingelöst. Es scheint, dass insbesondere Schwarze Frauen die Hüterinnen dieser liturgischen Tradition sind. Sie mahnen, dieses Erbe der afrikanisch-amerikanischen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Afrikanisch-Amerikanerinnen wissen um die tiefe Kraft, die von den Spirituals ausgeht, und welcher Schaden entsteht, wenn die Schwarze Community sie vergisst.
In den Worten von Alice Walker: „Es sind die Lieder der Menschen, verwandelt durch die Erfahrung einer jeden Generation, die sie zusammenhalten, und wenn eines davon verlorengeht, nehmen die Menschen Schaden an ihrer Seele.“

Vgl. einen Beitrag der Autorin zum Thema in:
Sich dem Leben in die Arme werfen
hg. von Luzia Sutter Rehmann u.a.
München 32003

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