Ausgabe 2 / 2017 Bibelarbeit von Klara Butting

Gott liebt die Fremden

Bibelarbeit zu 5. Mose 10,18

Von Klara Butting

Wer die Bibel liest, bekommt es mit diesem Gott zu tun – und logischerweise mit Fremden. Das im Hebrä­ischen verwendete Wort ist ger. Es wird mit „Fremder“ oder „Gast“ übersetzt. Der Begriff bezeichnet Menschen, die durch Hunger oder Krieg gezwungen werden, sich an einem Ort aufzuhalten, wo sie keine Verwandtschaft und keinen Grundbesitz haben. Das Wort sagt – wie unser Wort „Flüchtlinge“ – nichts über die nationale Zugehörigkeit. Es kann Angehörige anderer Völker, aber auch Angehörige anderer isra­elitischer Stämme bezeichnen.

Gottes unbedingte Liebe

Von Gottes Liebe zu den Fremden ist im 5. Buch Mose in dem Abschnitt die Rede, in dem es zunächst um Gottes Liebe zu den Müttern und Vätern Israels geht (10,12-22). Gott hat die Mütter und Väter Israels und ihre Nachfahren aus allen Völkern zu seinem Volk erwählt, heißt es dort. Dann wird entfaltet, dass diese Zuwendung zu Israel universale Bedeutung hat. An Israel handelt der Gott, dem „die Himmel und die Himmel der Himmel, die Erde und alles, was in ihr ist, gehören“ (V.14). Der EINE, der Ursprung und Ziel des Himmels und der Erde ist, ruft Abraham und Sara und verbindet sich mit ihnen und ihren Nachkommen, weil – und jetzt wird der Sinn der ganzen Heilsgeschichte in dem unglaublichen Satz formuliert: weil Gott „den Waisen und Witwen Recht widerfahren lässt und die Fremden liebt“ (10,18).
Alle Menschen dieser Erde, die ihre Heimat verlieren, sollen in der Fremde unbedroht überleben können – darum geht es. Gottes Treue, die wir aus Israels Geschichte lernen, die Beharrlichkeit, mit der Gott immer wieder von Neuem beginnt, sein Volk zu rufen, die immer neue Zuwendung, die sich von Verfehlungen nicht entmutigen lässt, die wir als die bedingungslose Liebe Gottes in unseren Kirchen verkündigen – diese Leben schaffende Zuwendung Gottes zum jüdischen Volk und der christlichen Kirche hat einen tiefen Grund in Gott: weil Gott den Armen dieser Erde Recht widerfahren lassen will und die Fremden liebt. Wer mit Gott in Berührung kommt, wird berührt von der Sehnsucht Gottes nach einer Erde, auf der auch die, die ihre Heimat verloren haben, überleben können. Die Gotteserfahrung, geliebt zu werden, ist Berufungserfahrung und Auftrag: „Liebe die Fremden“ (V.19). Unsere Geborgenheit in der Gottesbeziehung, in einer „Liebe, ohne Wenn und Aber“ ist Teilhabe an einer Geschichte, in der wir einen Platz bekommen und gebraucht werden: Die Kirche ist dazu da, damit Menschen, die ihre Heimat verloren haben, in Deutschland heimisch werden können.
In unseren Erinnerungsvorräten finden sich plötzlich merkwürdige Sätze: „Meine Vorfahren waren umher­irrende aramäische Leute, sie zogen ­hinab nach Ägypten und lebten dort als Fremde in der Minderheit (5 Mose 26, 5). Heimatlosigkeit gehört zu unserer Identität und Geschichte. Als Flüchtlinge sind wir durch den Jordan ins Land gezogen. Sodass das Fremdenrecht auch mit dem Verweis auf eigene Erfahrungen begründet werden kann: „Liebt die Fremden, denn Fremde seid ihr im Land Ägypten gewesen (5 Mose 10,19). 

Über den Jordan ziehen

Den Wandlungsprozess, den die Gottes­liebe in Gang setzt, buchstabieren die Erzählerinnen und Erzähler des 5. Buches Moses nach. Ein Symbol dafür ist die Überquerung des Jordan. Das ist die Aufgabe, die sich dem Volk in der Erzählung stellt. Die Überquerung des Jordan ist Synonym zum Einzug in das Land, das Heimat bieten soll. So entsteht die Vorstellung, der Jordan wäre ein Grenzfluss, eine geographische Grenze des versprochenen Landes. Doch dem ist nicht so. Der Jordan fließt mitten durch das Land. Im Ostjordanland haben die Stämme Ruben, Gad und Halb-Manasse ihr Erbteil. Doch auch sie müssen über den Jordan in das Land einziehen. Ihre Lage spiegelt die der Hörerinnen und Hörer. Alle müssen über den Jordan in das Land einziehen! Auch die, die im Land leben.
Wir stoßen auf ein Phänomen, das den gesamten biblischen Kanon strukturiert. Eine Großfamilie sucht vor Hunger Zuflucht in Ägypten, wird dort ein großes Volk, flieht, entkommt durch die Wüste, und zieht schließlich durch den Jordan in das Land Kanaan. Archäologische Funde bestreiten diesen Vorgang. Historische Forscherinnen und Forscher behaupten, dass Israel im Land entstanden ist. Nomad/innen sind sesshaft geworden und haben sich mit Außen­seiter/innen der Stadtkönigtümer des Landes Kanaan zusammengetan. So ist Israel entstanden. Vielleicht sind einzelne Gruppen geflüchteter Sklavinnen und Sklaven dazu gestoßen. Vielleicht ist die gesamte Auszugstradition aber auch in Klassenkämpfen im Land entstanden. Und trotzdem! Ungeachtet der unterschiedlichen Geschichte und Herkunft derjenigen, die zu Israel ge­hören, sagen alle von sich: Wir alle
sind entlaufene Sklaven/Sklavinnen, die durch den Jordan gezogen sind, um in diesem Land ohne Unterdrückung miteinander zu leben.
Diese Bedeutung des Jordans prägt auch das Neue Testament. Die Evange­lien fangen an mit der Taufe im Jordan. In einem von römischer Besatzung und inneren Konflikten zerrütteten Land ruft Johannes dazu auf, noch einmal von vorne zu beginnen und die Verheißung zu ergreifen, dass gerechtes Zusammenleben gelingen kann. Die Menschen kommen zu ihm und vollziehen symbolisch den Durchzug durch den Jordan. Sie lassen sich taufen. Dieser symbolische Durchzug durch den Jordan ist Grunddatum christlicher Identität. Wir lassen uns die Gotteserfahrung, die die Flucht aus Ägypten ermöglicht hat, auf unseren Leib schreiben: Gott schiebt die Wasser beiseite und schafft Flüchtlingen einen Ausweg zum Leben. Diese Flucht-Erfahrung soll grundlegend sein für das Miteinanderleben, auch wenn unsere Familien schon seit Jahrzehnten ein Heimatland haben! Unser Miteinander Leben liegt jenseits des Jordan! Grundlegend für unsere Iden­tität ist nicht, dass wir schon immer irgendwo gelebt haben. Grundlegend für unser Zusammenleben ist die Erfahrung, dass Gott die bestehenden Verhältnisse aufbricht und verändert, um für Flüchtlinge Platz zu schaffen.

Den alten Adam ersäufen

Wo uns dieses biblische Selbstverständnis zu Leib rückt „Wir alle sind entlaufenen Sklaven und Sklavinnen und kommen nur durch den Jordan hindurch zu einem gerechten miteinander Leben“, verstummen andere Selbst- und Fremdbilder. Tauferinnerung, bei der wir einzig hören, „du bist geliebt, ohne Wenn und Aber“ braucht einen Schluck von Gottes Liebeselixier. Denn das Symbol der Taufe, das unser Untertauchen und Gerettet-Werden aus den Wassern darstellen will, hat noch eine andere Bedeutung. In Martin Luthers Katechismus heißt es zu der Bedeutung der Taufe: „Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben …“ Die biblische Erzählung erzählt nicht weniger gewalttätig. Der Einzug der fliehenden Sklavinnen und Sklaven in ihr Land wird nicht als eine friedliche Vermischung ­erzählt, sondern als eine Gewaltgeschichte. Von Bann ist die Rede, von ­Vernichtungsweihe. Die Urbewohner des Landes, die Gott selbst wegen ihrer Verbrechen aus dem Land vertreibt, (9,4.5), sollen vernichtet werden – und zugleich sind sie immer da und Israel soll mit ihnen keine Kompromisse eingehen (5 Mose 7). Die Texte sind schwer zu lesen, ihre Missbrauchbarkeit ist beängstigend, ihr Missbrauch im Konflikt um Land zwischen Israel und Palästina abstoßend.

Die Erzähler/innen des 5. Buches Moses geben in den Anfangskapiteln Lese­regeln, wie die Auseinandersetzung mit den Ur-Bewohner/innen zu verstehen ist. Israel muss diese Auseinandersetzung mit den eigenen Ur-Bewohner/­innen im Gespräch mit seinen Nach­barvölkern Edom, Moab und Ammon erlernen. Auf dem Weg aus der Wüste Richtung Jordan müssen die Heimat­suchenden das Gebiet der Nachbarn Edom, Moab und Ammon durchqueren. Bei der „Durchquerung“ der Territorien der Nachbarvölker wird durch das Leitwort avar, durchqueren (das in diesem 2. Kapitel 16 x vorkommt) die Durchquerung des Jordan vorbereitet und eingeübt. Die Richtlinie für den Umgang mit den Nachbarn ist klar und unmissverständlich: ‚Belagere sie nicht und lass dich auf keinen Krieg mit ihm, denn ich gebe dir nichts von ihrem Land zum Besitz' (5 Mose 2,5.9.11). Auf dem Territorium der Nachbarvölker hat Israel nichts verloren. Im Gegenteil. ­Diese Völker haben ihr Land von Gott bekommen und sind in ihrem Land zu einem Volk geworden, indem Ur-Bewohner, „groß und riesengestaltig wie die Anakiter“ (2,10.21) bekämpft und überwunden haben. Bedrohliche, mythische Dimensionen haben diese Ur-Bewohner. Riesengestalten sind es. ­Giganten oder „Gespenstische“, so die Übersetzung Martin Bubers von rephaim (2,11.20), denn das Wort hat auch die Bedeutung „Totengeister“ (z.B. Psalm 88,11). Die Ur-Bewohner werden „einer vergangenen Zeit und einer anderen Welt / der Totenwelt zugeordnet“ (Geiger 93). Es sind die Gespenster der eigenen Vergangenheit, die bekämpft werden müssen, damit Menschen beieinander als ein Volk leben können. Es geht nicht um Gewalt gegen Fremde, sondern um einen kri­tischen Blick auf die eigene Vergangenheit. Autonomie und Egalität sind in ­Israels Geschichte an Machtgläubigkeit und Ungerechtigkeit gescheitert. Von dieser Erfahrung des Scheiterns her wird erzählt. Das „Land Israel“, wo auch Fremde Rechtssicherheit und Zufluchtsorte finden, muss noch werden. Auf dem Weg dahin stehen die alten Machtverhältnisse wieder auf der Tagesordnung, die zu dem Scheitern geführt ­haben. „Gespenstische“ (3,11.13), „ein Volk groß und riesengestaltig, Anakiter“ (9,2). Die Ur-Bewohner sind „der alte Adam“, die Gespenster der eigenen Vergangenheit, die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse, die dazu geführt ­haben, dass in Israel Macht zu Recht wurde, ein altorientalisches Königtum entstand, das schließlich von Mächti­geren zerschlagen wurde.

Ein Recht für alle

Die erste und direkte Reaktion auf den Ruf zum Aufbruch in das versprochene Land zu Beginn des 5. Buches Mose (1,9-18) ist der Aufbau der Rechtsprechung. Sie hören den Ruf aufzubrechen, man erwartet, dass es losgeht, aber statt von Losgehen, ist von der Rechtsprechung die Rede. „Ein Recht für alle“ soll gewährleisten, dass Menschen, ob einheimisch oder fremd, Gerechtigkeit widerfährt. In dem „einen Recht für alle“ kommt das erhoffte Land, das Einheimischen und Fremden Freiheit und Gerechtigkeit gewährt, zum Vorschein.
Das gilt es heute immer wieder in Erinnerung zu rufen! Alle Menschen haben ein Recht auf Leben und Überleben, ­auf Familienleben, Unterbringung, Nahrung, medizinische Versorgung, Achtung ihrer Menschenwürde, auch Recht auf ein Ayslverfahren. Dieses Recht darf nicht durch Hindernisse praktisch ausgehebelt werden. Es muss legale Wege geben, zu kommen und einen Asyl­antrag zu stellen!

Wenn wir als Christ/innen und Kirchen für das „eine Recht für Fremde und Einheimische“ einstehen, hat das allerdings auch Folgen für uns selbst, nämlich für das Arbeitsrecht der Kirche. Kirche, die sich für Migrannt/innen engagiert, braucht muslimische Kindergärtner/innen, Krankenschwestern, Pfleger, Sozialarbeiterinnen. Unser Engagement für „ein Recht“ stellt uns vor die Frage, ob Muslime in evangelischen Einrichtungen mitarbeiten dürfen oder nicht.

Ich bin überzeugt, dass wir durch dieses Engagement für Rechtsgleichheit für Einheimische und Fremde dazu kommen, den Kern unseres christlichen Selbstverständnisses, unsere Rechtfer­tigung besser zu verstehen. Denn die Rechtfertigungsterminologie des Paulus hat genau dort ihren Kontext: in der Auseinandersetzung um die Stellung von Fremden in der Gemeinde. Die Grundfrage ist nicht, „wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, sondern „wie ertrage ich, dass Gott auch den mir fremden gnädig ist?“ Heute spüren wir etwas davon. Gemeinden, die in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind, machen die Erfahrung, dass Menschen mithelfen, die vorher nie aufgetaucht sind, die nicht zur Gottesdienstgemeinde gehören. Was passiert, wenn diese Leute plötzlich beim Abendmahl auftauchen? Was passiert, wenn sie die Gemeinde beim städtischen „Runden Tisch Flüchtlingsarbeit“ vertreten? Können sie das? Dürfen sie das? Was passiert, wenn die Aktiven der Flüchtlingsarbeit bei der nächsten Gemeinderatswahl eine Person für den Gemeinderat vorschlagen, die nicht Mitglied der Kirche ist? Ist das möglich? Die schwierigen Fragen, über die unter der Überschrift „Rechtfertigung“ zu Paulus Zeiten gestritten wurden, werden wir neu verstehen lernen, wenn wir erleben, dass G o t t Menschen in Dienst nimmt und dabei die Grenzen der Institution überschreitet.

Klara Butting leitet das Zentrum für biblische Spiritualität und gesellschaftliche Verantwortung an der Woltersburger Mühle, Uelzen. Sie ist eine der Herausgeber/innen der Jungen Kirche.

Für die Arbeit in der Gruppe

(von Simone Kluge)

Material
Kopie des Bibeltextes 5. Mose 10, 12-22, Flipchart-Papiere oder Moderationskarten und Eddings

Einstieg
Im Bibeltext aus 5. Mose 10, 12-22 geht es um die Frage „Israel, was will Adonaj, deine Gottheit von dir?“ Welche Antworten vermuten Sie auf diese Frage?
(sammeln, ggf. notieren)

Arbeit mit dem Text
Um tun zu können, was Adonaj erwartet, bedarf es, so legt der Text nahe, eines großen Wissens um das Wesen Gottes. Schließlich wird neben einer achtungsvollen und innigen Gottesbeziehung auch das Gehen auf ihren Wegen und das Arbeiten für sie mit Herz und Verstand und mit jedem Atemzug erwartet.

Ganzen Bibeltext gemeinsam lesen und dabei darauf achten:
Was wird über das Wesen Gottes gesagt? Was sind Gottes Wege und was kennzeichnet Adonajs Tun?
Zeit zum nochmaligen Lesen und Markieren. Antworten sammeln und auf Flipchart oder Moderationskarten festhalten.

Gespräch in Kleingruppen
Was heißt es, auf ihren Wegen zu gehen?
Worin könnte der ganzheitliche Arbeitseinsatz für Adonaj bestehen? Finden Sie konkrete Beispiele.
Stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor.
Ergebnispräsentation

Diskussion „Rechtfertigung“
Textabschnitt „Ein Recht für alle“ in der Bibelarbeit von Klara Butting lesen und darüber ins Gespräch kommen: Stimmen Sie mit Ihrem Verständnis, von dem, was RECHTFERTIGUNG heute bedeuten müsste, überein?

Adonaj, du Gott der Witwen und Waisen, der allen Recht widerfahren lässt,ohne Ansehen der Person. Lass auch uns ­deinem Beispiel folgen und die Fremden lieben wie uns selbst.

Adonaj, du Gott derer, die einst aus Ägypten ausgezogen sind,erinnere uns daran, dass auch wir Fremde gewesen sind. Lass uns die Not und Hilflosigkeit derer, die auf der Flucht sind, nicht vergessen und dankbar an alle Bewahrung denken, die uns bisher widerfahren ist.

Adonaj, du Gott des Himmels und der Erde und über alles, was auf ihr ist,sei du unser Lobgesangund lass uns die Vielfalt deiner Schöpfung preisen.

Material zum Download auf www.ahzw-online.de.


Literatur
Frank Crüsemann, Das Gottesvolk als Schutzraum für Fremde und Flüchtlinge. Zum biblischen Asyl- und Fremdenrecht und seinen religionsgeschicht­lichen Hintergründen, in: derselbe, Maßstab: Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloh 2003, 224-243.
Michaela Geiger, Gottesräume. Die literarische und theologische Konzeption von Raum im ­Deu­teronomium, Stuttgart 2010.

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