Ausgabe 2 / 2022 Artikel von Cornelia Radeke-Engst

Gott schaut genau hin – in diesem Blick Gottes übe ich mich mit Focusing

Von Cornelia Radeke-Engst

Entlehnt wurde Focusing aus der klientenzentrierten Gesprächsführung von Carl Rogers. Sein Schüler Eugene T. Gendlin machte in der Therapie die Erfahrung mit seinen Klient*innen, dass diejenigen, die beim Sprechen „in sich hineinhörend“ nachspüren, schneller Fortschritte machen.


Da ist ein Gedanke in meinem Kopf, der mich kurz stoppt und an mehr erinnern will, aber er entgleitet mir. Da ist ein Kloß in meinem Hals, der sich unangenehm anfüllt. Beides sind Gefühle, die mir etwas erzählen könnten, wenn ich jetzt nicht einfach weitermache. Focusing hilft mir, Achtsamkeit für diese vagen Gefühle und Gedanken zu entwickeln und genau hinzuschauen.

Focusing ist eine körperorientierte Methode der Achtsamkeit für den im Verstand noch unklaren, aber in unserem Körper gefühlten Sinn = felt sense. „In jedem von uns liegt wesentlich mehr ‚Wissen‘, mehr Information bereit, als wir in jedem Moment bewusst wahrnehmen können. Nur, dieses innere Wissen steht uns nicht ohne weiteres zur Verfügung, es ist nicht einfach abrufbar […] Focusing ist ein Weg, dieses in uns verborgene Informationsreservoir aufzufinden und ‚anzuzapfen‘. Im Focusing nennen wir dieses verborgene Informationsreservoir das Implizite, denn es ist gleichsam eingefaltet, noch zugedeckt, nicht sichtbar. Aber es ist in uns schon da, sozusagen in unserem Körper unaufgedeckt vorhanden.“1


In einem Trainingsvideo der DAF – Die Akademie für Focusing – sagt Gendlin: „Überraschend weiß das körperliche Gefühl mehr über die Situation als ich.“ Um diese vorsprachliche Empfindungsebene anzapfen zu können, braucht es tastende Wahrnehmung, genaues Hinsehen auf mich und meine Gefühle. Der Körper speichert noch unreflektierte Erlebnisfetzten und bewahrt in sich den felt sense.

Schenken wir dem felt sense Aufmerksamkeit und wenden uns ihm liebevoll zu, dann kann sich dieser innerhalb des Focusing-Prozesses öffnen, entwickeln und verändern. Und dann zeigen sich oft neue, unerwartete Deutungen, es werden Energien freigesetzt und Veränderungen bewirkt. Diese Veränderungen sind im Körper spürbar und für die begleitende Person oft an Gesichtsausdruck oder Körperhaltung sichtbar. Ein gelungener Focusingprozess belebt und entkrampft. Gendlin hat diese Veränderung des Körpergefühls felt shift (= gefühlte Veränderung) oder body shift genannt. Das Gefühl eines felt shifts ist vergleichbar mit einem Aha-Erlebnis. „Der Felt Shift fühlt sich an wie frische Luft, die in ein Zimmer strömt, wie neues Leben, das sich innerlich regt […] Manchmal stellt sich ein deutliches Gefühl von Erleichterung und Befreiung ein. Oft verspürt man Klarheit und Frieden und einen gewissen inneren Halt […].“2


In der GKR-Sitzung höre ich im Nebensatz, dass ein treues Gemeindeglied ins Altersheim gekommen ist. In diesem Zusammenhang gebe es familiären Streit, sie würde wohl kaum noch von der Tochter besucht. Die Sitzung geht weiter. Es gibt mehrere strittige Punkte, eine heftige Auseinandersetzung über die Kita. In einer Atempause spüre ich ein flaues Gefühl in der Magengegend, das auch nach Abschluss der Sitzung anhält. Zu Hause überlege ich: Was liegt mir im Magen? War es die Kritik am Ablauf des Sommerfestes? Das Gefühl bleibt. War es die heftige Auseinandersetzung über die Kita, in der ich verletzt wurde? Auch hier antwortet mein Körper nicht. Später fällt mir ein, ich möchte dringend Frau A. besuchen. Hier reagiert mein Körper mit einem Aufatmen, einer Erleichterung – obwohl ich über das Gehörte traurig bin. Aber ich habe gefunden, was mein Körper für mich gespeichert hat. Das Gefühl in der Magengegend löst sich auf.

Jede*r kennt solche Aha-Erlebnisse im Körper – ein enormes Reservoir an Wissen, Sinn und Zielen. Focusing ist Empowerment. Indem ich mir selbst auf die Spur komme, sehe ich klarer und werde ich widerständiger. Klarheit und Widerständigkeit stärken dann gesellschaftliches Engagement.

Cornelia Radeke-Engst, geb. 1956, ist zertifizierte Focusing-Beraterin und Pfarrerin em., ehemals in der Nagelkreuzkapelle am Ort der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam. Zuvor war sie Dompfarrerin in Brandenburg/Havel und Landespfarrerin für Frauen- und Familienarbeit der EKBO. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn, vier Stiefkinder und neun Enkelkinder.

Anmerkungen
1)
J. Wiltschko, zit. nach A. Wild-Missong, Mit Focusing in Leben, Würzburg 1996, S. 58.
2) Zit. nach A. Weiser Cornell, Focusing – der Stimme des Körpers folgen, Reinbeck 1997, S. 65.

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Für die Arbeit in der Gruppe


Zeit / ca. 60 Minuten

Bei einer Focusing-Sitzung ist eine Begleitung sinnvoll. Die folgenden Übungen können aber auch als Einzelübungen durchgeführt werden.


Vom felt sense zum body shift
Um aus dem felt sense einen body shift hervorzubringen, gibt es sechs Schritte. Zur Vorbereitung gehört ein ruhiger Raum, in dem ich eine freundliche Haltung mir gegenüber einnehme. Folgende Aufforderungen (nach Damrath/Wolf) helfen:
Halte einen guten Abstand
  und fühle in Gänze.
Sei innerlich aufnahmebereit.
– Sei im Hier und Jetzt.
– Gehe geduldig mit dir um.
– Sei freundlich zu dir.


Schritt 1:
Freiraum schaffen [Clearing space]
Nach einer Entspannungsübung (bspw. 2 Min. Bauchatmung) fühle ich durch den Körper und schaue, was sich zeigt (body scan). Gibt es etwas, das jetzt meine Aufmerksamkeit verlangt? Ich nehme mir beim Antworten Zeit und vergewissere mich, dass meine Antworten nicht „aus dem Kopf“ kommen. Wie geht es mir im Moment? Was hindert mich daran, mich ganz wohlzufühlen?

Das, was sich zeigt, heiße ich willkommen und wende mich auch dann nicht ab, wenn es schmerzlich oder unangenehm ist. Ich dringe jedoch nicht in das Problem ein oder lasse mich davon überschwemmen, sondern schaue es an und „lege es zur Seite“. Dazu suche ich einen guten Ort, an dem es auf mich warten kann. So schaffe ich inneren Freiraum. Ich kann diesen Schritt mehrfach gehen. Dann spüre ich nach: Abgesehen von dem allem, fühle ich mich gut?

Schritt 2:
felt sense finden
Bei diesem Schritt wende ich mich dem Thema/Problem zu, das mir am meisten auf der Seele liegt. Ich versuche die Resonanz zu spüren, die es in meinem Körper auslöst, und beginne, mir und der begleitenden Person zu beschreiben, wie es sich anfühlt.
Ohne in das Problem einzudringen, leiste ich dem Gefühl aufmerksam und geduldig Gesellschaft.

Schritt 3:
einen „Griff“ finden
Das Körperempfinden, das zunächst nur ein vages Gefühl war, beginne ich jetzt ganz genau zu beschreiben. Ich probiere aus, was genau passt, damit ich den felt sense wieder greifen kann, ein Bild oder Symbol, ein Gegenstand. Beim eisernen Heinrich bspw. die Eisenringe um sein Herz.

Wenn ich den „Griff“ (handle) gefunden habe, der passt, kann es sein, dass sich der vage felt sense zu verändern beginnt. Bereits hier kann es zum body shift kommen.

Schritt 4:
vergleichen
Hier beginne ich zwischen dem felt sense und dem gefundenen Griff hin und her zu pendeln und spüre, ob es wirklich passt, oder ob sich noch etwas anderes zeigt. Auch hier achte ich darauf, dass die Antwort nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Körper kommt.

Schritt 5:
felt sense mit Fragen
in Bewegung bringen
Ich frage nach dem, was den felt sense ausmacht, der Gefühlsqualität, nach dem Kern des Problems oder nach dem, was das Beste daran ist. Fragen an den felt sense ermöglichen eine neue Sicht, Veränderung und Erleichterung. Direkte Fragen wie „Was würde helfen, was wäre ein Schritt vorwärts?“ lösen den felt shift aus.
Ich atme auf und spüren eine Erleichterung im Körper. Energie wird freigesetzt.
Vorsicht: Antworten, die ich mir selbst aus dem Kopf heraus gebe, bringen oft nur Altbekanntes.

Schritt 6:
annehmen und schützen
Das Neue ist ein zartes Pflänzchen, das Schutz braucht gegenüber gewohnten alten Bahnen, eingespielten Verhaltensmustern und Vergessen. Ein felt shift öffnet Türen, sie müssen aber offengehalten werden. Deshalb ist es wichtig, zunächst bei dem Neuen zu bleiben, um es zu spüren und zu genießen.

Nach Gendlin ist es hilfreich, den Weg vom felt sense zum shift zurückzuverfolgen. So wird der Prozess erneut erlebt und das Neue besser in mir verhaftet. Darüber hinaus kann in einem weiteren Schritt das Neue gegen Verblassen geschützt werden, indem man es bspw. aufschreibt oder aufmalt. Oftmals kommt es beim Malen zu einer weiteren Entwicklung, da neue Facetten daran entdeckt werden.

Wie kann ich das, was ich erfahren habe, in den Alltag integrieren? Mit dieser Frage schließe ich den Prozess ab. Genau hinschauen auf das, was in mir ist. Mich mit dem liebevollen Blick Gottes sehen, das ermöglicht Entwicklung und erfrischend Neues.


Cornelia Radeke-Engst, geb. 1956, ist zertifizierte Focusing-Beraterin und Pfarrerin em., ehemals in der Nagelkreuzkapelle am Ort der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam. Zuvor war sie Dompfarrerin in Brandenburg/Havel und Landespfarrerin für Frauen- und Familienarbeit der EKBO. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn, vier Stiefkinder und neun Enkelkinder.

 

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