Ausgabe 1 / 2023 Artikel von Hans-Jürgen-Benedict

Gott thront auf den Lobgesängen

Zur Bedeutung von Lob- und Dankliedern in schweren Zeiten

Von Hans-Jürgen-Benedict

„Hans-Jürgen, hast du dich auch bei Tante Tutti bedankt?!“ Ich bekam etwas geschenkt, war noch mit dem Auspacken oder dem ersten Spiel mit dem Geschenk beschäftigt, wurde aber sofort von den Eltern mit leicht drohendem Unterton ermahnt, mich auch bei der Geberin zu bedanken. Tante Tutti war eine Seele von Mensch, nur mochte ich mich nicht so gern bei ihr bedanken, weil sie einen immer mit feuchten Schmatzern an ihren großen Busen presste. Deswegen zögerte ich die Danksagung hinaus. Der Zwang zum Danksagen konnte einem als Kind das Glück des Beschenktseins vergällen.

Die eher ungute Erinnerung an die Zwangskultur des Dankens in der Kindheit bestimmt für mich auch die Liedzeile des Chorals „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank“ eg 451. Hier wird ja auch in einer Art verdecktem Imperativ das Danken als ein Grundgefühl des religiösen Menschen eingefordert. Der Text ist von Christian Fürchtegott Gellert, dem Professor der Dichtkunst und Beredsamkeit in Leipzig, zu seiner Zeit ein beliebter Dichter von Fabeln und Lustspielen.

Mein erst Gefühl sei Preis und Dank,
erheb ihn meine Seele.
Der Herr hört deinen Lobgesang,
lobsing ihm, meine Seele!
Gelobet seist du Gott der Macht,
gelobt sei deine Treue,
daß ich nach einer sanften Nacht
mich dieses Tags erfreue.

„Mein erst Gefühl sei Preis und Dank.“ Verstehen wir es nicht als eine Aufforderung, sondern als Einladung zum Dank, als eine Grundhaltung der Christ*innen gegenüber der sie tragenden Macht Gottes, des Schöpfers. Denn Lob- und Danklieder sind eine wichtige Gattung jüdisch-christlicher Selbstexpression. Sie machen das Wesen des Glaubens aus. In ihnen tritt der oder die Glaubende in Beziehung zu Gott, erschafft ihn gewissermaßen. Ihre Urtexte und Vorbilder sind die alttestamentlichen Psalmen, die zum ersten Liederbuch der Christ*innen wurden. „Halleluja. Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und sein Güte währet ewiglich.“ So beginnen die großen Dankpsalmen 106, 107 und 118.

Gott wird in den Gebeten erschaffen

Wir können Gott nicht beweisen, aber durch unser Lob können wir Gott wirklich machen. Indem wir zu Gott in Dank, Lob und Klage beten, erschaffen wir Gott sozusagen. Ein Gedanke, der für den älteren jüdischen Glauben zentral ist, wenn es im Ps 22 V.4 heißt: „Du bist heilig, der du thronst auf den Lobgesängen Israels.“ Gott thront auf den Lobgesängen Israels, welch ein gelungenes Bild – die Stimmen der Menschen als vokaler Thron des Allerhöchsten. Wenn Israel Gott lobt, ist Gott gegenwärtig. Ohne das Lob und den Dank vergeht Gott, zieht er sich zurück. Deswegen ist auch so wichtig, dass beim Totengebet, dem Kaddisch, zehn erwachsene Juden anwesend sind und der eine fehlende ersetzt wird. Gottes Gegenwart soll nicht geschwächt werden. Deswegen ist der älteste Sohn des Toten verpflichtet, das Kaddisch für den Vater zu sprechen und dafür zehn Mitbeter zu gewinnen.

Ähnlich denkt auch der Islam. In einem seiner Bücher erinnert Navid Kermani an den Satz des islamischen Mystikers Ibn Arabi: „Gott wird in den Gebeten erschaffen.“ Und er weist darauf hin, dass im Koran Unglaube, arabisch Kufr, Undankbarkeit heißt. Muslim*in sein heißt also, dankbar für das Leben zu sein und mit Gott im Gespräch zu bleiben. Es ist die Dankbarkeit der Gläubigen, die Gott zu Gott macht.

Die heutigen Kulturprotestant*innen sind im Gegensatz dazu der Meinung, es genüge, der Aufführung einer Bach-Kantate oder einer Bach-Passion beizuwohnen, um Gott zu danken und zu loben. Um dann ironisch wie der Philosoph Cioran zu kommentieren: „Gott verdankt Bach viel.“ Durch Bachs Musik ist Gott auch noch bei den distanzierten Christ*innen präsent. Aber ich denke, Gott wünscht sich die Lobgesänge von uns selbst gesungen. Auch in Bachs Kantatengottesdiensten in der Leipziger Thomaskirche sang die Gemeinde die Choräle mit. Oder wie es in einer Bachkantate heißt: „Auch mit gedämpften schwachen Stimmen wird Gottes Majestät verehrt.“ Es ist ja so: Weil die Choräle nicht mehr so gut bekannt sind, thront Gott auf den heutigen gottesdienstlichen Lobgesängen etwas wackelig. Aber immerhin, er thront noch!

Gott ist nicht das Gute, sondern das Ganze

Der Zustand der Welt ist oft katastrophal – wie gerade jetzt mit Klimakatastrophe, Corona-Pandemie, Hungersnöten und Ukrainekrieg. Wie spiegelt sich denn im Evangelischen Gesangbuch die Tatsache, dass der Mensch die Erhaltung wie die Zerstörung der Welt in die eigene Hand genommen hat? Kann man diese hochtönenden Danklieder noch so singen angesichts der schrecklichen Ereignisse? Ja, man kann! Vielleicht müssen wir es sogar tun. Denn wir möchten ja trotz der Katastrophen weiter für das Leben mit all seinen schönen Seiten danken, trotz der schrecklichen Dinge, die immer wieder geschehen. Deswegen wird der Wunsch nach gemeinsamer Erhebung im Lob- und Danklied weiter bestehen. Er gehört zum Menschsein. Wir lernen unter Schmerzen und Enttäuschungen, dass das Leben schön und schrecklich zugleich ist; wir begreifen, dass Gott nicht das Gute, sondern das Ganze ist, der tragende Grund der Welt, zu der auch das Negativ-Zerstörerische gehört.

Nun danket alle Gott mit Herzen Mund und Händen, der große Dinge tut an uns und allen Enden, der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an unzählig viel zu gut bis hierher hat getan. So die erste Strophe von Martin Rinckarts berühmtem Danklied eg 321. Es ist das beliebteste und am häufigsten gesungene Danklied in der Evangelischen Kirche. Bei feierlichen Anlässen, bei Taufen, Konfirmationen und Trauungen, bei der Silbernen und Goldenen Hochzeit wird es gerne gesungen. Angestimmt wurde es spontan im August 1914 vor dem Berliner Schloss, als ein Offizier die allgemeine Mobilmachung gegen Russland bekanntgab. Aber auch 1955, als im Durchgangslager Friedland die ersten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurückkamen, deren Freilassung Bundeskanzler Adenauer zuvor bei seiner Moskaureise mit der sowjetischen Führung ausgehandelt hatte. Manche Angehörigen lassen „Nun danket alle Gott“ sogar bei Trauerfeiern singen, als Zeichen der Dankbarkeit für ein langes gemeinsames Leben.

Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen

Ein beliebtes Loblied ist auch das 1680 von Joachim Neander verfasste „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ eg 316. Es gibt keinen Missklang in diesem Choral. Alles wird von dem herrlich regierenden Gott sicher geleitet. Er führt wie auf Adelers Fittichen, er breitet Flügel aus. Er garantiert Gesundheit, Notabwehr, sichtbaren Segen, regnet Ströme der Liebe. Es ist eine pietistische Begeisterung in diesem Lied. Das fromme Ich singt sich hier ungebrochen aus.

Ungebrochenes Lob lädt aber auch zur Parodie ein. Eine solche auf Neanders Choral ist Bertolt Brechts „Großer Dankchoral“ in der 1925 erschienenen Hauspostille, der so beginnt: „Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen. Kommet zuhauf. Schaut in den Himmel hinauf. Schon ist der Tag euch vergangen.“ Es ist eine Verkehrung des Gotteslobs. Der Blick in den gestirnten Himmel zeigt keine sinnhafte Weltordnung mehr, sondern nur die vergehende Zeit. „Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels. Und daß er nicht weiß euren Nam’ noch Gesicht. Niemand weiß, daß ihr noch da seid.“

Das ist harte Anti-Theologie. Denn dass Gott unserer gedenkt, ist Zentrum jüdisch-christlichen Glaubens: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Dieser große Dankchoral, der sich zum Lobe der Sinnlosigkeit erhebt, ist ein eindrucksvoller Gegentext zu Neanders berühmtem Loblied, das in feierlichen Stunden mit ebenso viel Gefühl wie Gedankenlosigkeit gesungen wird. Es hat daher auch etwas erheiternd Befreiendes, wenn man das Brecht-Lied gelegentlich gegen den volltönenden Neander-Choral singt.

Dank in Nebel

In der Kirche von Nebel auf der Insel Amrum liegt, wie in vielen anderen Kirchen, ein Buch, in das die Besucher*innen Dankgebete, aber auch Gebetsbitten eintragen können. Ich habe darin ein wenig geblättert, ja das mag indiskret sein. Aber ich habe das getan, weil es mich berührt, was Menschen vor Gott bringen – und ich habe auch selbst schon in solche Bücher Dank und Bitten eingetragen. Ich finde es anrührend, wie Menschen ihre Anliegen vor Gott ausdrücken. Kinder, die für die Aufnahme ihres gestorbenen Haustiers in den Himmel beten, Paare, die um Gelingen ihrer Beziehung bitten, Ältere, die ihre Trauer um den Verlust des oder der geliebten Partners oder der Partnerin in dem Buch anvertrauen, andere, die für ein langes Leben mit dem oder der Ehepartner*in danken.

Da sind manche, die nur sagen, dass eine Sorge von ihnen genommen wurde, viele, die einfach dafür danken, dass sie auf dieser schönen Insel ein paar Tage verbringen durften, die für das gute Wetter danken, ihre Freude über die schöne Kirche zum Ausdruck bringen oder für ein bewegendes Konzert danken. Auf schlichte Weise wird Gott gelobt. Das, was im anstrengenden Alltag verlorengeht, das Innehalten und Sichvergewissern, kann im Urlaub wieder zutage treten. Dazu gehören Naturerfahrungen wie der Blick auf das weite Meer und das Gebirge, das Erlebnis des Sonnenuntergangs und des Aufgangs des Mondes. Ja: Gott sei Dank dafür!

Beitrag zuerst am 15. Juni 2022 auf feinschwarz.net veröffentlicht; Nachdruck mit frdl. Genehmigung von feinschwarz Theologisches Feuilleton

Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Benedict ist Theologe, Friedensforscher und Diakoniewissenschaftler und hat an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg gelehrt. Seit seiner Emeritierung 2006 beschäftigt er sich unter anderem mit der Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Junge Kirche. Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. www.jungekirche.de

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