Ausgabe 2 / 2017 Andacht von Birgit Reiche

Gott, unterwegs mit den Menschen

Andacht zum Buch Ruth

Von Birgit Reiche

Lied:
Du bist meine Zuflucht, du bist meine Hoffnung – Strophe 1

Es war nicht immer leicht gewesen in dieser Ehe. Ihr Mann kam aus dem Ausland. Obwohl er nicht ganz gesund war, hatte sie ihn geheiratet. Er war damals mit seinen Eltern und seinem Bruder in ihr Land gekommen. Wo er herkam, hatte es eine schwere Hungersnot gegeben und seine Eltern waren ausgewandert, um die Söhne zu retten. Sein Vater war schon früh gestorben, so dass seine Mutter mit den beiden Söhnen im fremden Land allein war. Beide heirateten sie Frauen von hier.

Sie hatten auch gute Jahre gehabt, im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Schwiegermutter und Schwager und Schwägerin. Der unterschiedliche Glaube, die unterschiedliche Kultur waren nur manchmal ein Problem. Sie lernte, die ausländischen Speisen zu kochen, die ihr Mann so mochte. Sie lernte auch ­seine Sprache. Mit der Schwägerin und der Schwiegermutter verstand sie sich gut. Ihr Mann und sein Bruder waren aber immer wieder krank. Vielleicht lag das an der Mangelernährung in ihrer Kindheit, vielleicht vertrugen sie auch das fremde Klima nicht. Was alle sehr bedrückte: Beide Ehen blieben kinderlos. Dabei wussten sie alle, dass nur ­Kinder eine gute Zukunft bedeuten konnten. Eine Rentenversicherung gab es bei ihnen nicht. Weil die Männer ­immer wieder nicht arbeiten konnten, konnten sie auch nichts zurücklegen. Sie machte sich mehr und mehr Sorgen um ihre Zukunft. Und – wie sich zeigen sollte – zu Recht: Innerhalb kurzer Zeit starben beide Brüder. Zurück blieben die drei Frauen, ohne Kinder, ohne Pers­pektive, ohne Hoffnung.

Sie hing sehr an ihrer Schwiegermutter. Ihre eigene Familie hatte sich nie damit abgefunden, dass sie einen Ausländer geheiratet hatte. Der Kontakt war schon lange abgebrochen. Viel hatte sie in den letzten Jahren von dieser Frau gelernt, die ihr näher stand als ihre eigene Mutter. Auch ihr Glaube faszinierte sie und sie wollte immer mehr über diesen Gott lernen, über den Glauben, der ihrer Schwiegermutter Halt gab. Die erklärte ihr die Gebote, die auch Witwen, Waisen und Fremde ­unter den Schutz der Gemeinschaft stellten.

Ihre Schwiegermutter hatte Heimweh. Den Mann und die Söhne hatte sie zwar im Ausland beerdigt, aber auf ihre alten Tage wollte sie zurück in die Heimat. Sie hatte gehört, dass die wirtschaftliche Situation dort wieder gut sein sollte. Sie hoffte als kinderlose Witwe in ihrer Heimat mehr Chancen zu haben.

Also nahm sie eines Tages ihre Schwiegertöchter auf die Seite und schlug ­ihnen vor, zurück in ihre Elternhäuser zu gehen. Das kam für sie nicht in Frage. Diese Frau war jetzt ihre Familie, ihren Glauben hatte sie angenommen, zu ­ihrem Volk wollte sie gehören. Deshalb sagte sie – nachdem sie lange miteinander geweint hatten – jene berühmten Worte: „Bedränge mich doch nicht, dich zu verlassen, mich von dir abzuwenden. Denn wo auch immer du hingehst, da gehe ich hin, und wo auch immer du übernachtest, da übernachte auch ich. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich, dort will ich begraben werden. Gott tue mir alles Mögliche an, denn nur der Tod wird dich und mich trennen!“
(Ruth 1, 16f, BigS)

Lied:
Du bist meine Zuflucht, du bist meine Hoffnung – Strophe 2

Sie haben die Geschichte sicherlich erkannt: Ich habe Ihnen das erste Kapitel aus dem Buch Ruth nacherzählt. Es ist eine Geschichte, wie sie bis heute millionenfach geschieht: Menschen verlassen ihre Heimat, häufig sind es ganze Familien, die keine Perspektive mehr sehen. Manche fürchten um das nackte Überleben, andere möchten es fern der Heimat zu Wohlstand bringen, einem Wohlstand, den sie zu Hause nie erreichen könnten. Diese Menschen werden heute oft Wirtschaftsflüchtlinge genannt. Ihnen wird das Recht abgesprochen, z.B. aus Albanien zu uns nach Deutschland zu kommen, weil sie sich für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft erhoffen. Wer kann es ihnen verdenken, wenn sie Wege in eine bessere Zukunft suchen für ihre Kinder und sich?

Die Bibel ist voller Geschichten über Menschen, die fliehen. Fliehen vor Hunger wie Alimelech und Noomi im Buch Ruth; fliehen vor dem Zorn Gottes wie Kain; fliehen vor der Sklaverei wie das ganze Volk Israel; fliehen vor dem grausamen Herrscher wie Maria, Josef und Jesus. Biblische Geschichten sind oft Flucht­geschichten, Vertrei­bungs­­ge­schich­ten und Fremdheitsgeschichten. Biblische Gebote sind häufig Gebote, um Fremde und Arme zu schützen.

Von diesen Geboten erzählt uns auch das Buch Ruth. Boas, der Verwandte von Ruths Schwiegervater Alimelech, wird als heldenhaft und vermögend ­beschrieben. Er hielt sich außerdem an die Gebote, indem er die liegengebliebenen Ähren für die Witwen, Waisen und Fremden bestimmte (vgl. 3. Mose 19, 19 und 5. Mose 24,19). Ruth und Noomi waren so arm, dass sie auf diese Wohltaten der Reichen angewiesen ­waren. So ging Ruth hinter den Arbeiterinnen des Boas her und sammelte Getreideähren. Boas hielt sich aber nicht nur an die Gebote, er tat mehr, als das Gesetz von ihm verlangte. Er unterstellte Ruth dem Schutz seiner Arbeiterschaft und sorgte dafür, dass sie viele Ähren zum Nachernten fand. Die gesamte Erntezeit hindurch sammelte Ruth, was die Arbeiterinnen des Boas auf dem Feld übrig gelassen hatten.

Sie wissen, wie die Geschichte weiter geht: Noomi, Ruths Schwiegermutter erkannte, dass Boas ihre und Ruths Chance auf ein besseres Leben war. Sie hatte eine Idee und Ruth führte sie aus: Sie machte sich schön, ging zu Boas auf die Tenne und legte sich zu dem schlafenden Mann. Die beiden trafen in dieser Nacht die Vereinbarung, dass er sie zur Frau nehmen würde. War es eine Liebesheirat? Darüber schweigt die ­Bibel.

Auch heute noch ist für viele Frauen, die ihre Heimat verlassen müssen, die Ehe mit einem Einheimischen die einzige ­Sicherheit im neuen Aufenthaltsland. Frauen, die ohne den Schutz ihrer Familien migrieren, sind in vielen Ländern der Welt noch genauso schutzlos wie Ruth und Noomi damals. Und auch bei uns in Deutschland macht die Ehe mit einem Einheimischen vieles leichter: Frauen bekommen eine Arbeitserlaubnis, haben eine Krankenversicherung, können ihre Kinder aus der Heimat nachholen, müssen keine Angst mehr vor Abschiebung haben …

So wie Maria: Vor über 20 Jahren ist sie als Touristin aus Peru gekommen. Sie wollte nur wenige Monate in der Erdbeerernte in Deutschland arbeiten. Ihr Mann war gestorben und sie wollte ­etwas Geld in Europa verdienen, um ihre vier Kinder zur Schule schicken zu können. Sie ist geblieben, die ersten Jahre hat sie schwarz in Haushalten ­gearbeitet, immer in Angst vor der ­Ausweisung. Dann hat sie nach fünf ­Jahren einen Deutschen geheiratet. Endlich konnte sie ihre Kinder holen. „Die Ehe war die Hölle“, mehr sagt sie nicht zu dieser Zeit. Aber es hat sich ­gelohnt, sie hat ihre Kinder großge­zogen, allein. Sie hat als Haushaltshilfe gearbeitet, inzwischen legal. Alle Kinder haben in Deutschland studiert, haben gute Anstellungen, sie ist inzwischen Oma und kümmert sich um die Enkelkinder und ist stolz. Maria putzt immer noch die Wohnungen fremder Menschen, aber nicht mehr 60 Stunden die Woche. Ihre Kinder sind ihr Segen!

Auch auf der Ehe von Ruth und Boas lag Segen: Gott ließ Ruth schwanger werden. Sie bekamen einen Sohn, den Obed. An die Geschichte von Ruth erinnert die Bibel bis heute. Beim Schawuot oder Wochenfest, dem jüdischen Erntedankfest, wird das Buch Ruth im Synagogengottesdienst gelesen. Ihr Versprechen an die Schwiegermutter wird zum Trauspruch bei so mancher Liebesheirat. Und – das wissen nur wenige: Ruth steht als Urgroßmutter von König David als eine von fünf Frauen namentlich im Stammbaum Jesu, wie er im Matthäus-Evangelium aufgeschrieben ist. Sie, die Ausländerin, die Moabiterin, gehört zur Familie Jesu und damit auch zu unserer Familie.
Amen.

Lied:
Du bist meine Zuflucht, du bist meine Hoffnung – Strophe 3

Gebet:
Barmherziger Gott, du hast uns Barmherzigkeit geboten, gerade auch gegenüber den Fremden, die nicht von hier kommen. Weil uns als Einzelnen und als Gesellschaft die Barmherzigkeit oft so schwer fällt, bitten wir dich:
Hilf uns, unsere Trägheit, unsere Angst, unsere Vorurteile und unseren Eigennutz zu überwinden.
Hilf uns, denen zu helfen, die unserer Hilfe bedürfen.
Hilf uns, denen ins Wort zu fallen, die Unbarmherzigkeit predigen.
Hilf uns, an einer Gesellschaft mitzubauen, die weltoffen und barmherzig ist, nach innen und nach außen. Amen.

Segen:
Gott ist ein mitgehender Gott. Und so bitten wir um Gottes Segen für alle Menschen auf der Flucht und für uns:

Gott, unterwegs mit den Menschen, berge uns alle unter deinem Schutz.
Jesus, Flüchtling und Migrantenkind, gib uns Mut zu deiner Nachfolge.
Heilige Geistkraft, stärke uns auf dem Weg, den wir im Namen Gottes gehen. Amen

Birgit Reiche ist Verbands-Pfarrerin bei der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V., Bildungsreferentin und Leiterin der Fachberatungsstellen Nadeschda, Theodora und Tamar.

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