Wir können nur dort wirklich in den Raum und das Selbstverständnis der anderen Religion eindringen, wo wir jemanden haben, der uns gleichsam an die Hand nimmt und in die fremde Gesellschaft einführt, bis ein Vertrauensverhältnis entsteht, das die gegenseitige Akzeptanz ermöglicht. So gab es beispielsweise in manchen Kulturen die feste Institution des „Fremdenführers“, der im Auftrag des Häuptlings oder des Fürsten sich des Fremden annahm, ihn begleitete und dafür sorgte, dass das Gastrecht nicht angetastet wurde.
Wir brauchen in der Kirche „Grenzgänger“ und „Grenzgängerinnen“, die sich in der Kraft der Liebe Christi und unter der Leitung des Heiligen Geistes zwischen den Religionen bewegen, die die Fremden zu uns einladen und sie begleiten, so dass sie sich inmitten der fremden Religionsgemeinschaft sicher fühlen. Solche Grenzgänger und Grenzgängerinnen sollten sich aber auch ihrerseits stellvertretend für die eigene Gruppe in die fremde Religionsgemeinschaft begeben und diese von innen heraus kennen lernen, so dass man sich ihnen als Fremdenführer in der anderen Religion anvertrauen kann, wenn diese nicht selbst einen solchen bereitstellt.
Es waren oft das Charisma und das Engagement einzelner, die den Prozess der Verständigung zwischen verschiedenen Konfessionen und Religionen vorangetrieben haben. Wie tief waren die konfessionellen Gegensätze im Vorkriegsdeutschland! Erst dadurch, dass sich nach dem Krieg in fest umgrenzten konfessionellen Gebieten Angehörige der jeweils anderen Konfession als Flüchtlinge ansiedelten, entstand ein Verständnis für die andere Konfession, das schließlich auch zu neuen kirchlichen Stellungnahmen führte.
Obwohl sich der innerchristliche Dialog auf einer prinzipiell anderen Ebene vollzieht als interreligiöse Gespräche, brauchen wir auch in der Begegnung mit dem Islam heute solche Grenzgänger zwischen den Kulturen und Religionen. Wir brauchen die teilnehmende Erfahrung von Menschen, die durch eine religionsverschiedne Ehe oder aus dem Dialog des Lebens heraus in einer doppelten Heimat leben und uns durch ihre Erfahrungen helfen können.
aus: Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
© Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2000
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