Alle Ausgaben / 2008 Artikel von Franziska Müller-Rosenau

Grenzgebiet

Annäherungen an ein vieldeutiges Bild

Von Franziska Müller-Rosenau


Wenn wir uns auf die Jahreslosung 2009 einlassen, beginnen wir recht bald mit einer inneren Auseinandersetzung mit dem Thema „Grenze“. Eine Grenze, die durch die Stichworte „unmöglich“ und „möglich“ scharf markiert wird. Eine Grenze zugleich zwischen Mensch und Gott, zwischen menschlichen Unmöglichkeiten und göttlichen Möglichkeiten. Nun gibt es sicherlich unterschiedliche Weisen, mit einer Grenze oder Demarkationslinie umzugehen. Manche möchten vielleicht sofort dagegen anrennen oder protestieren, andere sind eher geneigt, sich zu fügen und einzuschränken.

Was es mit einer Grenze auf sich haben kann, habe ich in meiner Kindheit immer wieder erlebt, wenn in der Vorweihnachtszeit Päckchen für die Familie meiner Mutter in der DDR gepackt  wurden. Ich erinnere die Freude und Zufriedenheit meiner Mutter, wenn sie einen schönen Pulli für ihre Mutter, etwas Praktisches für ihren Vater oder ein schönes Geschenk für ihre Schwester gefunden hatte. Liebevoll wurde alles zusammen mit dem Kaffee und der Schokolade, den Backzutaten und dem Marzipan in einem Karton verstaut. Ich erinnere mich aber auch daran, dunkel Mutters unausgesprochenen Kummer und ihre Schuldgefühle gespürt zu haben. Wie sie eingezwängt war zwischen ihrem eigenen Leben hier im Westen und dem der „armen Verwandten“ dort in der „Ostzone“. „Grenze“ – das war damals eine Staatsgrenze, die Menschen in unserer Familie voneinander trennte, die sich liebten, und die nur ein oder zweimal im Jahr mit Herzklopfen und großem Unbehagen überschritten werden konnte.

Nun gibt es ja nicht nur Staatsgrenzen, sondern „Grenze“ ist eine vieldeutige, weiträumige Metapher. Da sind die Grenzen zwischen Menschen, Grenzen des Anstands, Grenzen der Geduld, Grenzen der Erfahrung und des Wissens, Grenzen der Kompetenz, Grenzen der Zuständigkeit und Verantwortung. Manche dieser Grenzen fordern uns im positiven Sinne heraus, wecken Neugier und Lust auf Entdeckung. Andere  Grenzen dagegen hüten und achten wir sorgfältig.


Spielräume entdecken

In der Seelsorge liegt eine Hauptaufgabe darin – gewissermaßen in der Schule Jesu – Menschen dabei zu helfen, dass sie ihre Wünsche sondieren und angesichts von Grenzen neue Spielräume in ihrem Leben entdecken können. Nicht umsonst wird Jesus in den Evangelien als Rabbi, als ein Lehrer dargestellt, der die Menschen seiner Umgebung diese neuen Spielräume sehen und nutzen lehrt.

Wenn wir heute Frauen dabei begleiten, neue Spielräume in ihrem Leben zu  entdecken, so bedeutet das zunächst einmal, sich ihre konkreten Lebensgeschichten erzählen zu lassen, in denen häufig genug Grenzen vorkommen, und wahrzunehmen, wie sie mit  Grenzen umgehen. Viele Frauen werden dann in einem vertrauensvollen Gespräch von unsicheren Grenzen erzählen oder davon, wie schwer es war, Grenzen zu erweitern und zu  übersteigen.


Grenzen markieren

Da sind zum einen jene Grenzen, die sich so unsicher angefühlt haben, weil sie von anderen immer wieder überschritten worden sind. Manche Frauen berichten dann von Erlebnissen aus der Kindheit oder aus den Jugendjahren, in denen es darum ging, wie schwer und manchmal unmöglich es war, sich selbst abzugrenzen. So erzählte eine Frau von typischen Szenen mit ihrer Mutter, mit der sie alleine aufwuchs: „Statt mit meiner Freundin am Nachmittag draußen spielen oder lernen zu können, musste ich jeden Tag einkaufen gehen, putzen und kochen, während Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und schlief. Wie ich das gehasst habe, schon ihre Gerüche, wenn sie so von der Nachtschicht kam! Ständig tönte sie: ‚Wo gehst du jetzt schon wieder hin? Mit wem bist du heute zusammen? Was habt ihr vor? Kannst du nicht zu Hause bleiben?' Und wenn ich widersprochen habe, gab es ein sagenhaftes Theater: sie wolle mich nie wieder sehen, mit Tränen und allen drum und dran.“

Und dann gibt es ein Niederreißen von persönlichen Grenzen, es gibt Einbrüche ins Leben, die einen Menschen fürs ganze Leben schwer beschädigen  können: ein Unfall, eine Operation, eine schwere Krankheit in jungen Jahren oder die Erfahrung von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der Familie. Wenn innere Grenzen durch solche heftigen Erlebnisse erschüttert werden, spricht man heute von einem „Trauma“, das die psychischen Bewältigungsmöglichkeiten eines Menschen überfordern und bleibende Spuren in der Seele hinterlassen kann. Solche Wunden  können oft nur mit der Hilfe einer therapeutischen Begleitung oder einer Selbsthilfegruppe geheilt werden.(1) Weil es immer noch so viele Frauen gibt, die mit den Folgen traumatischer Erfahrungen und unsicheren Grenzen in ihrem Leben ringen, sollte es gerade in der Kirche kleine Nischen geben, in denen sie über ihre Situation sprechen können und in denen auch respektiert wird, wenn sie ihre Grenzen sorgsam schützen müssen und wenig von sich erzählen mögen.


Grenzen überschreiten

Wer früh erlebt hat, dass die eigenen Grenzen unsicher waren, und nicht die Erfahrung hat, sich durch eine eigene Grenze gut schützen zu können, wird vermutlich auch Schwierigkeit haben, die eigenen Grenzen zu erweitern. Wie viel Mut, wie viel Selbstvertrauen und wie viel Vertrauen in andere Menschen muss damals für meine Mutter dazu gehört haben, als 16-jähriges Mädchen die „Ostzone“ zu verlassen und in den Westen zu gehen, wo sie niemanden kannte. Es war im Übrigen der Halt durch kirchliche Jugendgruppen oder einzelne Christinnen und Christen, der damals vielen Jugendlichen diese „Grenzüberschreitungen“ ermöglichte und ihnen dabei half, sich neue Spielräume, neue persönliche oder berufliche Freiheiten zu erobern und die Folgen durchzustehen.

Neue Spielräume entdecken, das geht häufig nur um den Preis einer Grenzüberschreitung, einer Trennung von bisher Gewohntem und Vertrautem, eines Auszugs aus Sicherheiten. Da möchte sich jemand verabschieden von den Ansichten und Lebensgewohnheiten der Elterngeneration, von dem, was man so tut und denkt, und das eigene Leben in die Hand nehmen. Die Ablösungsprozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind deshalb zu allen Zeiten schmerzhaft und heftig gewesen. Viele Menschen, die besonders feinfühlig reagieren, kennen ein Leben lang ein Trennungs-Schuldgefühl, welches sich bei solchen Grenzüberschreitungen und Ablösungen einstellt.


„Nichts ist unmöglich“

Als Bill Clinton bei einer Rede in Berlin voller Pathos ausrief: „Nichts ist unmöglich!“, schallte es ihm tausendfach aus der Menge entgegen: „Toyootaa!“ So richtig glauben mag wohl kaum jemand die Werbung der Autofirma. Aber klingt sie nicht dennoch ungeheuer verführerisch? Verlockender jedenfalls als die Rede von den begrenzten menschlichen Möglichkeiten, von denen die Jahreslosung spricht: „Was beim Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich.“

„Nichts ist unmöglich!“ Es könnte das geheime Motto sein, dem in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen versucht haben nachzuleben. „Nichts ist unmöglich!“ Da wird die Erweiterung persönlicher Grenzen an sich schon zu einem attraktiven Lebensziel. Schneller, weiter, besser, jünger, schöner. Das geheime Ziel  dieses Lebensstils sei – so die dänische Theologin Anna-Maria Aagaard –  „Perfektionsträume zu Strickmustern des Lebens zu machen“.

Bereits in den 80er Jahren beobachtete sie: „Die gesamte ‚Bewusstseinsrevolution' der siebziger Jahre mag Menschen vom emotionalen Winterschlaf befreit haben und besonders Frauen ein neues Gefühl für ihren eigenen Wert gegeben haben. Aber die Schattenseite der  gleichen Münze enthält alle Ideale einer vollkommenen Person, die wir niemals sein werden – Ideale, mit denen wir uns selbst und andere peitschen: Sei eine totale Frau; sei eine befreite Frau; pflege deinen Selbst-respekt; nimm deinen Ärger an und ebenso deine geheimsten Wünsche; sei, was immer du erträumen magst, aber sei immer du selbst, Frau.“(2)


„Eine Grenze hast du bestimmt“

In den Worten der Theologin Aagaard deutet sich bereits etwas von einem Mentalitätswandel an, den die Kategorie „Grenze“ inzwischen in vielerlei Hinsicht erfahren hat. Sehr prägnant beschreibt dies Jürgen Ebach in einer Bibelarbeit zum Psalm 104: „Am Ende der 60-er Jahre war es unsere Leitvorstellung, immer mehr Lebensbereiche aus dem Bunker des vorgeblich Unabänderlichen, das nun einmal so sei, zu befreien und Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Nicht nur aus den Universitäten wollten wir den Muff vertreiben, auch aus Schulen und Kirchen, den Elternhäusern, der Presse, der Gesellschaft als ganzer. … Ging es damals darum, Grenzen zu erweitern und zu überschreiten, so ist es in immer mehr Bereichen heute angesagt, Grenzen zu achten und auch Grenzen neu zu bestimmen. Gentechnologie, Apparatemedizin, pragmatischer, wenn nicht interessegeleiteter Definitionszugriff auf die Grenzen von Leben und Tod, Grenzenlosigkeit als Schamlosigkeit der Medien, die Grenzenlosigkeit globaler Ökonomie – die Stichworte mögen genügen. In der Wahrnehmung von Grenzen hat sich etwas geändert.“(3)


Jesch gvul! – Es gibt eine Grenze!

„Jesch gvul“ ist der Name einer Gruppe innerhalb der israelischen Friedensbewegung, die darauf aufmerksam machen möchte, dass es für alles eine Grenze gibt, auch für den Machtanspruch jüdischer Siedler in den von Israel besetzten Gebieten. „Es gibt eine Grenze!“ Dieses Motto ließe sich heute auch über den Umgang mit Grenzen in vielfacher Hinsicht stellen. Dabei ist von dem hebräischen Begriff für Grenze „gvul“ etwas Wichtiges zu lernen: Die hebräische Bibel spricht nämlich immer wieder dann von „gvul“, wenn es um die Grenzen geht, die in besonderer Weise zu achten sind: die Grenzen der Schwachen, z.B. die Grenzen der Witwen und Waisen (Sprüche 23,10). „Gvul“ heißt immer beides zugleich: „Grenze“ und „Gebiet“. Dort, wo von „gvul“ die Rede ist, geht es um ein Gebiet, das in besonderer Weise vor den Ansprüchen der Mächtigen und  Stärkeren zu schützen ist. „Gvul“ signalisiert in der Bibel Gottes Eintreten für die Armen und Schwachen.

Und wie können wir unterscheiden  zwischen den Grenzen, die es zu überwinden gilt, und jenen, die einzuhalten oder gar neu zu errichten sind? Für die Unterscheidung erscheint mir das Motto „Jesch gvul!“ hilfreich: Es gibt eine Grenze, es gibt einen Schutzraum für das, was in der Welt, im Zusammenleben der Menschen, aber auch in uns selbst besonders schutzbedürftig ist und sich nicht selbst zur Wehr setzen kann.


Für die Arbeit in der Gruppe

1  Assoziatives Gespräch
Die Gruppenleiterin breitet auf dem Boden oder auf dem Tisch einige Fotos aus, die mit dem Thema „Grenze“, „Begrenzung“ oder „Freiheit“ zu tun haben, und lädt ein zu einem assoziativen Gespräch, in dem eine Annäherung an die vieldeutige Metapher „Grenze“möglich ist. In der offenen Atmosphäre einer Gruppe werden die Teilnehmerinnen sehr rasch persönliche Erlebnisse zur Sprache bringen, die ihre Erfahrungen mit Grenzen zum Thema haben. Die Gruppenleiterin sollte dabei im Blick behalten, dass es für jede Teilnehmerin ein großes Wagnis bedeutet, wenn sie von eigenen unsicheren Grenzen erzählt. Darauf sollte eine Gruppe mit Takt und Feingefühl reagieren.

2  Malübung
Für jede Teilnehmerin liegt ein großes Blatt zart getöntes Papier bereit  (mindestens 40×60 cm). Aus vielen bereit gestellten Fingerfarben wählt jede sich nur zwei Farben. Nach einer kurzen Stille, in der die Teilnehmerinnen ihren eigenen Einfällen folgen, versuchen sie zu Papier zu bringen, was sich in ihnen zum Thema „Ich und meine Grenzen“ regt. Dabei kann eine leise meditative Musik gespielt werden.

3  Übung zur Lebensplanung
Dieser Übung bin ich im Rahmen meiner eigenen Ausbildung zur Pastoralpsychologin begegnet, und sie hat in mir entscheidende Impulse für meine  weiteren beruflichen und persönlichen Lebensziele freigesetzt. Ich halte es für möglich, damit auch mit einer sehr heterogen zusammengesetzten Gruppe von Frauen zu arbeiten, die über ihren Umgang mit Grenzen reflektieren möchte. Besonders eignet sie sich für jüngere Frauen, die versuchen müssen, verschiedene Lebensbereiche wie Beruf, Familie, Freundeskreis und Ehrenamt miteinander zu vereinbaren. – Für die individuelle Beschäftigung mit den  Fragen sollten mindestens 45 Minuten eingeplant werden. Gut ist es, wenn die Teilnehmerinnen sich dafür an einen ruhigen Ort zurückziehen können. Hier sind die Fragen:

– Wann fühle ich mich (in meinem Leben/Ehrenamt/Beruf) ganz glücklich? Welche Dinge, Ereignisse oder Tätigkeiten vermitteln mir das Gefühl, dass es sich wirklich lohnt zu leben?
– Was beherrsche ich wirklich gut? Welche Fertigkeiten oder Fähigkeiten habe ich bis zu einer gewissen Vollkommenheit ausgebaut? Was tue ich für meine eigene Entfaltung und  Zufriedenheit?
– Was muss ich in meiner gegenwärtigen Situation noch lernen, um meinen Vorstellungen näher zu kommen?
– Welche Wünsche sollte ich jetzt in Pläne umsetzen? Gibt es Träume, die ich früher als unrealistisch abgetan habe, die ich eigentlich wieder aufgreifen sollte?
– Welche unterentwickelten oder falsch angewandten Mittel und Möglichkeiten habe ich (Talente etc.)?
– Womit sollte ich jetzt gleich anfangen? Womit sollte ich jetzt gleich aufhören?


Franziska Müller-Rosenau ist Pastorin und Dipl. Psychologin. Sie arbeitet als Leiterin des Frauenwerks im Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und als Psychoanalytikerin in freier Praxis.


Anmerkungen:

1 Vgl. Cornelia Faulde: Wenn frühe Wunden  schmerzen. Glaube auf dem Weg zur Traumaheilung, Mainz 2002
2 Anna-Maria Aagaard, Gottes verwundbare Liebe – Heiliger Geist: Meditationen, München 1982, S. 54f.
3 Jürgen Ebach, Bibelarbeit: Eine Grenze hast du bestimmt, dass sie die nicht überschreiten, in: http://www.ekd.deprint.php?file=predigten/?ekd-synoden

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