Kein Klischee war der Tanzkritik der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu billig, keine Formulierung zu euphorisch, wenn es darum ging, ihre Verdienste um den Tanz und ihr Talent zu feiern. Als „deutscheste Tänzerin“ tanzte sie 1936 bei der Eröffnung der Olympiade, in der DDR wurde sie offiziell verehrt und als Legende gefeiert.
Gret Palucca wird am 8. Januar 1902 in München als Margarethe Paluka geboren. Ihre Leidenschaft ist der Tanz, zunächst versucht sie es ganz klassisch mit Ballettunterricht, den die Mutter widerwillig gestattet. Ballettmeister Heinrich Kröller kommt allerdings nach mehrjährigen Bemühungen zu dem Schluss, dass Margarethe vollkommen unbegabt und für die Laufbahn einer professionellen Tänzerin nicht geeignet sei.(1)
Der entscheidende Wendepunkt in Paluccas Tanzkarriere ist der Besuch eines Tanzabends von Mary Wigman. Wigman hatte Anfang der 20er den Ausdruckstanz, ein speziell deutsches Tanzprodukt, entwickelt. Nicht Anmut und Leichtigkeit sind es, die da im Mittelpunkt stehen. Stattdessen attestieren die Dresdner Nachrichten der Wigman „eine kautschukartige Gelenkigkeit, eine fast akrobatische Kraft der Glieder, die die Übergänge von der aufrechten zur kauernden, knienden oder liegenden und wieder aufrechten Stellung mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit“ überwinde.
Paluccas Entscheidung für die Tanzausbildung bei Wigman steht fest, auch diesmal setzt sie sich gegen die Widerstände der Familie durch. Ab 1923 tanzt sie in der ersten Mary Wigman Tanzgruppe – damals schon unter ihrem Künstlerinnennamen Gret Palucca. Das Ensemble-Glück ist nicht von langer Dauer: Palucca hat entschieden Probleme, sich in die Choreografie Wigmans einzufügen. Nach einem nicht vorgesehenen Extrasprung Paluccas, der vom Publikum mit Szenenapplaus bedacht wird – ihre Sprungkraft ist einfach unglaublich – kommt es zum Bruch mit Wigman. Palucca macht sich selbstständig und beginnt einen ganz eigenen Stil des Tanzens zu entwickeln. Ihr geht es, wie sie selbst formuliert, um reine Bewegungskunst: „Meine Tänze haben keinen anderen Inhalt und Sinn als eben den Tanz, die natürliche Bewegung, gestaltet im Gleichklang mit der Musik.“ Es werden nicht Geschichten erzählt, sondern Stimmungen ausgedrückt. Scheinbar unabhängig voneinander bewegt Palucca Torso, Kopf und Gliedmaßen, sozusagen eine tänzerische Verfremdung des Körpers, vergleichbar dem, was KünstlerInnen wie Münter oder Kandinsky in der Malerei versuchten. Ganz neu am Tanz der Palucca: sie improvisiert öffentlich.
„Ich beginne. Ich stehe im Saal und höre eine Musik, mehrer Musiken. Ich habe nicht die Absicht, dieses oder jenes zu tun. Ich bewege mich wie von selbst. Dann gibt es einen Punkt, wo der Körper auf einen Rhythmus, ein Stück Melodie reagiert, im Gleichklang oder im Gegensinn. Eine Musik erweist sich als verwendbar, nicht im Sinne der Ausdeutung, sondern in dem der musikalischen Begleitung eines Eigenen. Es ist durchaus nicht immer eine vorher gehörte Musik, mit der ich mich bereits auseinander gesetzt habe. Der Tanz bleibt dabei primär. Seine innere Form verbindet sich mit der inneren Form der Musik und die Arbeit am Tanz ist die Durchführung des thematischen Materials im Einklang mit der Musik. So entsteht eine Zwei-Einheit, das, was für mich der neue Tanz ist.“ (Gret Palucca, 1948)
Ein festes Engagement an einem Theater gibt es nicht: heute hier und morgen dort bereist Gret Palucca ganz Europa – keine Bühne ist ihr zu klein. Sie feiert Erfolge, von manchen wird ihr Tanzkonzept aber auch gnadenlos verrissen.
Die Machergreifung der Nazis setzt der künstlerischen Entfaltung drastische Grenzen – auch in Sachen Tanz. Die nationalsozialistische Kulturpolitik sucht nach einem „arteigenen“ arischen Tanz. Er soll national sein, sich an die germanische Kultur und nordische Volkstänze anschließen. Gewünscht sind gemessene Bewegungen, langsames Schreiten und das alles natürlich zu deutscher Musik.
Die Resonanz auf Paluccas Auftritte ist zunächst zwiespältig und bleibt das auch, aber sie arrangiert sich mit den Machthabern. Höhepunkt ihrer Karriere in den 30ern ist ihr Soloauftritt bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu den Olympischen Spielen in Berlin. Mary Wigman choreographiert das Spektakel, Palucca tanzt und Leni Riefenstahl – ebenfalls ehemalige Wigman-Schülerin – versucht sich an der filmischen Umsetzung.
Aber Paluccas Erfolg ist nicht von Dauer, denn überraschend stellt sich heraus: die als die „deutscheste Tänzerin“ gefeierte Palucca ist „Halbjüdin“. Ihre Schule wird 1939 geschlossen. Mit einer Sondergenehmigung darf sie jedoch weiter tanzen – bei „üblichen, privat veranlassten öffentlichen Veranstaltungen“. Das hindert Palucca nicht daran, die Zahl ihrer Auftritte weiter zu steigern. In der Spielzeit 1942/43 sind es immerhin 99 Gastspiele. Schließlich wird auch Palucca vom Krieg eingeholt: Auftritte sind nicht mehr möglich, bei den Bombenangriffen der Alliierten auf Dresden verliert sie buchstäblich das Dach über dem Kopf.
Schon im Juli 1945 kann sie ihre Schule wiedereröffnen. Palucca bleibt in Dresden. 1950 beendet ein Verkehrsunfall ihre Tanzkarriere. Palucca ist 48, als sie sich schweren Herzens zum Abschied von der Bühne entschließt. Allerdings nicht, ohne noch einmal auf der von ihr so sehr geliebten Insel Sylt getanzt zu haben. Es ist das Ereignis der Saison, in Sonderzügen werden die Tanzbegeisterten in den Norden der Insel, nach List, zur Stätte des Auftritts verfrachtet. Ein Kapitel deutscher Tanzgeschichte geht damit zuende.
Aber Paluccas Einsatz für den Tanz und ihre Arbeit als Pädagogin gehen weiter. Die 1925 von ihr in Dresden gegründete Schule ist bis an ihr Lebensende unter dem Namen „Palucca“ eine der wichtigsten Tanzhochschulen der DDR. Dazu ist die eine oder andere Auseinandersetzung mit den Kulturfunktionären der DDR notwendig. Aufgrund der Orientierung an der Sowjetunion, die sich auch im Bereich des Tanzes auswirkt, soll Palucca das Fach Klassischer Tanz nicht nur in die Ausbildung einbeziehen, sondern zum Hauptfach machen. Ihrer Weigerung verleiht sie Nachdruck mit der Drohung, in den Westen zu gehen. Mit Erfolg: Niemand möchte Palucca ziehen lassen, ist sie doch eine der Persönlichkeiten, die der DDR zu internationalem Ansehen verhelfen. Erich Honecker bringt es auf den Punkt: „Mit ihren Leistungen trugen Sie zum wachsenden Ansehen der Deutschen Demokratischen Republik bei.“
Mit Nationalpreis und Professorentitel geehrt, stirbt sie 1993. Ihre letzte Ruhestätte fand sie, wie sollte es anders sein, auf einer Insel – auf Hiddensee. Paluccas Schule lebt weiter: Die „Palucca Schule Dresden“ ist heute eine staatliche Hochschule des Freistaates Sachsen, die einzige eigenständige Tanzhochschule in Deutschland.
Dr. Claudia Eliass ist Öffentlichkeitsreferentin der Ev. Frauenhilfe in Deutschland.
Anmerkung
1 Dieses Porträt wurde erstmals in der Ausgabe 2/02 der Zeitschrift frauen unterwegs der EFHiD veröffentlicht. Nachdruck in gekürzter Fassung mit freundlicher Genehmigung.
Ralf Stabel: Tanz, Palucca. Die Verkörperung einer Leidenschaft, Berlin 2001
www.palucca-schule-dresden.de
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