Original – eine Bezeichnung für Sonderlinge, für Menschen mit ureigenen Gewohnheiten, mitunter mit auffälliger Kleidung, mit abwegigen, aber auch erstaunlichen Begabungen. Sie überraschten, amüsierten die Menschen, jedes auf eine andere Weise – mit komischen Auftritten in den Straßen, in Gaststätten und auf Messen.
Etwa um 1900 wurde von „Originalen der älteren Zeit“ gesprochen. Denn die damalige moderne Zeitströmung duldete die Typen nicht mehr, die Sonderlinge, die in den engen Straßen, in den alten Fachwerkhäusern nicht selten ein erbärmliches Leben führten.
Ein Ort, eine Stadt, wird geprägt von den Menschen, die in ihr leben. Und zu diesen gehören auch die Originale – die meist ein schweres los zu tragen hatten. Waren es bei den Bürgern die Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft, und der Literatur, die das Interesse weckten, so kann man sagen, dass die Originale für die unteren Schichten der Einwohner oft für beliebten Gesprächsstoff sorgten. Und so kommt es wohl auch dass so manche Anekdoten über sie bis heute unvergessen blieb. Man liebte sie ihrer Schwäche wegen.
Eines dieser Originale war in Braunschweig die Harfen-Agnes. Bis heute erzählt man von ihr, und es kommt auch noch vor, dass ältere Frauen bei Festen auftreten. Gitarre um den Hals und breitkrempigen Strohhut auf dem Kopf und singen: „Mensch, sei helle“.
Und so wird von der Harfen-Agnes auf einer Schallplatte sinngemäß erzählt: In der geruhsamen Atmosphäre der guten alten Zeit konnten sich die Braunschweiger Originale ungestört entfalten. Es waren schrullige Gestalten, die einfach zu Braunschweig mit seinen Fachwerkhäusern und den krummen Kopfsteinpflasterstraßen dazugehörten. Man schließt die Augen, kommt ins Träumen und sieht sie im Geiste vorüberziehen. Da ist die gute Harfen-Agnes. Sie hieß Agnes Glindemann und wohnte bei dem Kohlenhändler Meyer auf der Weberstraße. Stets ging sie durch die Straßen mit selbstgestrickten, rotgeringelten Strümpfen, blankgeputzten, schwarzen Halbschuhen, angetan mit einem langen Mantel, an dem an der einen Seite eine große Tasche saß, in die sie das gespendete Kleingeld tat. Manchmal trug sie auch einen mit roten Rosen geschmückten, breitkrempigen Strohhut, ein Grund mehr, sie anzuulken. „Nee, nee Agnes du trägst so schöne rote Rosen, da muss ich mich doch mächtig wundern,“ riefen die einen ihr nach. „Ich muss mich doch wundern, dass so ein alter Stock noch Rosen trägt“, riefen andere. Dann schimpfte Agnes aber los, sie blieb keine Antwort schuldig. Und wenn Agnes so schimpfte, drückte man ihr ein Geldstück in die Hand, denn man hörte sie lieber singen, als schimpfen – und singen, das konnte Agnes.
Viele ihrer Texte regten zum Schmunzeln an.
Agnes war auch nicht lange böse auf die frechen „Latters“ oder „Lökes“, wie sie in ihrem Platt die Jungen schimpfte. Sie durfte es sich mit ihren Geldgebern nicht verderben. Agnes griff dann schnell zu ihrer stets verstimmten Gitarre und sang eines ihrer Lieder. Sang Agnes irgendwo in der Braunschweiger Innenstadt, blieben die Leute stehen. Sie witterte dann ihr Geschäft und kam nächtig in Fahrt. Flossen die Spenden reichlich und Agnes wurde von den Zuhörenden aufgefordert weiterzusingen, dann kam die Attraktion, ihr Leib- und Magenlied: „Mensch, sei helle“.
Da wär anst an Studente,
Der ging von Vätern wat,
Er wollte viel studieren,
Un werden sähr geschat.
Der Väter tät ihn segnen
Un Geld ihn geben äll.
Da sägt der Sohn: „Ach Väter,
den letzten Vers noche mäl“.
Mensch, sa hella,
Un wenn's auch duster is,
Mensch, sa hella.
Un wenn's an Schuster bis.
Aan Jüngling liebt an Mädchen,
War ihr von Herzen gut.
Die bis an frühen Morgen
In sanen Armen ruht.
Doch als dänn schant in Zimma
Der erste Sonnensträhl –
Da sägt sie: „Lieba Hanrich,
Den letzten Vers noche mäl!“
Mensch, sa hella,
Un wenn's auch duster is,
Mensch, sa hella,
Un wenn's an Schuster bis.
Was nützt mick Gold und Rachtum,
Wenn ich nich fröhlich bin,
Das Geld kann ich verliern,
Nich äber manen Sinn.
Un wenn ich anmäl sterwe
Un steh in'n Himmelssääl,
Dänn sägt Gott: „Agnes, sing uns
Den letzten Vers noche mäl!“
Mensch, sa hella,
Un wenn's auch duster is,
Mensch, sa hella,
Un wenn's an Schuster, Schneider bis.
Hatten sich bei ihrem Singen zu viele Kinder angesammelt und in den Vordergrund gedrängt, dann wurde sie ärgerlich (denn die Kinder drängten die Geldgebenden zurück) und rief: (aus dem Platt sinngemäß übersetzt) „Ihr Lökes macht, dass ihr zu Muttern nach Hause kommt und pinkelt ihr auf den Käse, damit er cremig wird.“
Als ihr Vater noch lebte, zog sie mit ihm und dem Flöten-Bosse durch die Lokale, um Geld zu ersingen.
Noch lange nach dem Tod des Flöten-Bosse zog man Agnes mit dem schrulligen Liebhaber auf, und das machte Agnes fuchtig. Dann lief sie auf die Bengels zu, hielt drohend ihre Gitarre hoch und schrie: „Ihr Lökes, ihr Latters, passt auf, dass ich euch nicht mit Päärdeschiete smiete.“ Eigentlich aber war Agnes ein gutmütiges, harmloses Menschenkind.
„Hoffentlich hat sie von Petrus einen guten Platz im Himmel angewiesen bekommen und erheitert mit ihrem Gesang die Engelscharen“, so endet ein Bericht über die Harfen-Agnes.
Einen guten Platz im Himmel, das wünscht man der Harfen-Agnes, denn neben den fröhlichen Auftritten in der Innenstadt oder bei der Braunschweiger „Masch“ gab es viel tragisches im Leben der Frau. Von Kind an litt Agnes an epileptischen Anfällen – aber man nahm dies nicht ernst – man hielt sie für betrunken, brachte sie in die Ausnüchterungszelle statt ins Krankenbett.
1936 kam Agnes in das Landeskrankenhaus in Königslutter und mit ihr ist etwas Besonderes, ein Stück des alten Braunschweig aus dem Straßenbilde verschwunden. Sie hat eine Lücke hinterlassen – das sei mit Wehmut festgestellt.
Am 2. September 1939 verstarb Agnes im Alter von 73 Jahren in Königslutter. Man vermutet, dass sie ein Opfer einer Euthanasieaktion des Nazi-Regimes geworden ist.
Auch ihre Ankunft im Himmel hat sie sich genau vorgestellt: „Und wenn ich anmäl sterwe un steh in Himmssääl, dann sägt Gott, Agnes, den letzten Vers noche mäl! Mensch, sei hella …“.
Die Harfen-Agnes hat nicht die Welt bewegt, sie ist nicht in die große Geschichte eingegangen. Aber in Braunschweig lebt sie noch, als eins unserer Originale. Jede Stadt, jeder Ort hat seine Originale und die Geschichte der Agnes soll anregen, im eigenen Ort zu forschen. Einmal von ihnen zu erzählen, kann ein amüsant-nachdenklicher Abend werden – ein wenig kann die Seele dabei baumeln!
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024 erschienen.
Der Abschluss eines Abonnements ist aus diesem Grund nicht mehr möglich.
Leicht&Sinn - Evangelisches Zentrum Frauen und Männer gGmbH i. L. | AGBs | Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen | Kontakt
Wenn Sie noch kein Passwort haben, klicken Sie bitte hier auf Registrierung (Erstanmeldung).