Sie rauchen nicht, sie trinken nicht, sie singen nur dem Herrn.
Wie 90 Roma-Familien in Berlin zu einem menschenwürdigen Wohnort kamen …
Benjamin hat einen Traum. „Einmal im Leben möchte ich zum Alexanderplatz fahren“, sagt der Neunjährige, und seine tiefbraunen Augen leuchten. Er träumt vom großen Spielplatz, den es dort geben soll, von Kindern, die auf Rollerskates herumrasen, vom großen Riesenrad. Doch seine Mutter, sagt er, habe kein Geld für die S-Bahnfahrt ins Zentrum von Berlin. „Ich war schon mal da“, erklärt sein zehnjähriger Bruder Josua. „Aber hier“, sagt er und breitet seine kleinen Arme weit aus „haben wirs ja jetzt auch sehr schön.“
Das war bis vor kurzem ganz anders. Benjamin und Josua wohnen in der Harzer Straße in Berlin-Neukölln. Sie stehen im Hinterhof eines Gründerzeitkomplexes. „Früher“, ruft Josua, „war hier hohes Gras, viel Dreck, sogar Ratten hatten wir, es war ganz ekelig.“ Die beiden Jungen zeigen stolz auf die inzwischen weißen Hauswände, die bunt bemalt sind. Auf den Balkons stehen gelbe Sonnenschirme, auch Deutschlandfahnen wehen da. Hinter den Häusern, wo Teppiche zum Trocknen aufgehängt sind, wird gegrillt. Josua rennt auf die Straße, zeigt auf die weithin sichtbare braun und ocker bemalte Seitenwand. „Hier, lies das mal“, sagt der Zehnjährige: „Herr, unsere Erde ist ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält“, steht da.
Furcht müssen die Menschen, die hier leben, sehr wohl gehabt haben. Im vorigen Jahr noch galt das Wohnprojekt aus der Gründerzeit als „Müllhaus“ der Stadt. Kinder lebten neben Ungeziefer, die Wände waren nass und grau, in so manchem Raum lagen 20 Matratzen. Überwiegend rumänische Roma waren hier eingezogen, gut 90 Familien insgesamt. Sie kamen aus Bukarest, mehrheitlich aber aus dem kleinen Dorf Fontanelle, 35 km nordwestlich der Hauptstadt. Doch mit irgendwelchen Klischees über Roma haben sie nichts zu tun. Im Gegenteil. Sie gehören allesamt derselben rumänischen Pfingstgemeinde an. Das heißt, sie sind Christinnen und Christen, die aus Überzeugung nicht rauchen, nicht trinken, aber auch nicht betteln oder fluchen. Und wenn sie vor Jahren noch zu Hochzeiten Musik gemacht haben, musizieren sie inzwischen nur noch zur Ehre des Herrn. In der nahegelegenen Martin-Luther-Kirche ist ihre Gemeinde zu Gast.
Sie kamen vor allem der Kinder wegen, wollten eine gute Bildung für sie, die ihnen in Rumänien als Roma oft verwehrt wird. Warum es sie hier in die Harzer Straße verschlug, weiß kein Mensch. Wer ihnen half, hier wieder menschenwürdig wohnen zu können, dagegen schon. Und nicht nur das.
„Kommen Sie Mittwoch wieder, dann ist er da“, sagt Maria, die Mutter der beiden Jungen Benjamin und Josuah. „Dann sitzt er hier unten im Parterre in seinem Büro und hat für uns ein offenes Ohr.“ Die 52-Jährige trägt über ihren blauschwarzen Haaren ein blaues Kopftuch und einen langen schwarzen Rock mit Stickereien aus Seide. Sie hat ein großes Buch von ihrer Heimat Bukarest aus ihrer Wohnung geholt, stolz steht sie auf dem Hinterhof und zeigt die bunten Bilder. „Mein Herz“, sagt sie, „schlägt aber nur ein bisschen noch dort. Jetzt schlägt es hier.“ Dann hat sie es plötzlich eilig. „Ich muss arbeiten gehen“, sagt sie und fegt mit einem Strohbesen den Durchgang zur Straße. 200 Euro im Monat bekomme sie dafür. Immerhin. Das ist nicht die Welt, aber eine Grundlage für das Überleben der Familie schon.
Benjamin Marx heißt der Mann, der den Roma-Familien hier nicht nur Arbeit verschafft hat, sondern vor allem ein menschenwürdiges Wohnen. Er ist Manager der Aachener Siedlungs-und Wohnungsbaugesellschaft mit Sitz in Köln. Seit 2006 ist er für das katholische Wohnungsunternehmen unterwegs in Berlin, um Häuser zu kaufen. Die Harzer Straße war ein Schnäppchen, der Vorbesitzer hatte die Gründerzeithäuser mit 7.500 Quadratmetern Wohnfläche verkommen lassen, die Roma-Siedlung hatte einen denkbar schlechten Ruf. Dem 57-jährigen Psychologen ging es um mehr als nur den Erwerb einer Immobilie. Die Miete der 137 Wohnungen sollte günstig bleiben, damit die Roma-Mieter bleiben konnten.
Auch Maria kann so hier leben, mit den meisten ihrer 16 Kinder und ihrem 56-jährigen kranken Mann. Viel Geld hat die Familie nicht. Das ersehnte Fußballspielen für die Jungen für acht Euro Mitgliedsbeitrag pro Monat kann sie nicht aufbringen. Doch immerhin: Maria ist stolz, dass ihre beiden Jungen die nahegelegene Hans-Fallada-Schule besuchen. Und sie ist auch stolz auf ihre blitzsaubere, große Wohnung.
Bunt bemalt ist der Hinterhof. Es riecht nach Farbe. Der Autodidakt Wolfgang Stadter ist den letzten Tag hier, die Arbeiten sind abgeschlossen. Der Tag, der Abend, die Nacht und der Morgen sind hier in symbolischen bunten Bildern zu sehen, Gewitter und Morgenrot. Über dem großen Eingang links ein großes Blasinstrument. Hier geht es zum Keller, wo auch ein Theaterkeller entstehen soll. „Für mich war das eine große Verantwortung, hier zu arbeiten“, sagt der 32-Jährige. „Schließlich müssen die Menschen hier dann jeden Tag mit meinen Bildern leben.“
Dort unten, wo es später auch mal Theater-und Musikveranstaltungen geben soll, gibt es nebenan schon fertige Räume. Etwa den gefliesten, wo Tische, Stühle, Sofas und ein Fernseher stehen. In einem anderen lernt Maria Deutsch, hier hat sie mit den anderen Roma-Frauen einen Nähraum. „Damit sie ihr Label entwickeln können“, lacht Benjamin Marx. Wenn er mittwochs zum „Marx-Tag“ aus Köln hier anreist, dann dreht er die Runde, berät die Menschen in seinem Büro im Parterre. Und weil er nicht Rumänisch kann und die meisten schlecht Deutsch, ist dann auch Anna-Maria Munteano hier. Sie ist dank Marx inzwischen bei der Wohnungsbaugesellschaft angestellt und so etwas wie die Kommunikationsgarantie für die Roma hier. „Ohne sie“, sagt Benjamin Marx, „könnte ich das alles hier gar nicht machen.“ Sie erklärt die Behördenpost, gibt Deutschkurse für die Erwachsenen und vieles mehr.
„Was haben wir hier schon Großartiges gemacht?“, sagt Benjamin Marx. Er hat nach dem Rundgang auf der Bank hinter den Häusern Platz genommen und blinzelt in die Sonne. Das klingt beim ersten Hinhören ein wenig selbstgefällig, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Benjamin Marx ist davon überzeugt, dass das Menschenrecht auf eine lebenswerte Wohnung auch bitteschön eingelöst werden muss. In unserem reichen Land zumal. „Wenn das hier nicht für die Roma-Familien wäre, hätte sich die Öffentlichkeit dafür sicher nicht interessiert“, sagt er. Und er selbst? Was verbindet ihn mit den Roma? Er zögert. Dann sagt er, dass er fasziniert von ihrer Sanftmütigkeit sei. „Sie sind so respektvoll – in dem Sinn, dass sie noch eine Achtung vor Werten haben, die in unserer Gesellschaft verloren gehen.“ Mit anderen Worten, diesen Menschen ist noch etwas heilig.
Darüber, wie es hier aussah, als er das Ganze im August vorigen Jahres übernahm, will er heute nicht mehr sprechen. „Ich habe lange gebraucht, um diese schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, jetzt ist das abgehakt.“ Nicht vergessen hat er die erste Begegnung mit den Menschen hier. Im Hof hatten die ersten Mieterversammlungen stattgefunden, es wurde gemeinsam beraten, wer was entrümpelt, welche Aufgaben für die Mieter anstehen. Da war auch Florin Nitzu dabei. Der wache Roma war in der Nacht zuvor aus Rumänien nach Deutschland gekommen. „Ich habe die ganze Zeit gebetet, dass ich hier eine Arbeit bekomme“, hat er bei seiner Ankunft der Hausgemeinschaft anvertraut. Benjamin Marx hat ihm bei einem der vielen Handwerkerbetriebe, die hier tätig waren, einen Job verschafft.
Der junge Mann klopfte kurz darauf an seiner Bürotür. In der Hand hatte er ein kleines weißes Büchlein. Es war das Gebetbuch für die Banater Schwaben – in Deutsch. „Das Paradies der Liebe“, stand auf dem Buchdeckel. Benjamin Marx hat dieses Büchlein immer und immer wieder aus der Tasche gezogen. Seither ist Florin Nitzu „mein kleiner Schutzengel“, wie er sagt.
Doch da wäre auch noch diese andere Geschichte, die zu seinem Tun hier nicht unmaßgeblich beigetragen hat. Da geht es um Arnold Fortuin, den Pfarrer aus seinen Kindertagen in den 50er Jahren im süddeutschen Illingen. Der hatte in der Nazizeit zahllosen Sinti und Roma das Leben gerettet, sie versteckt, ihnen bei der Flucht nach Frankreich geholfen und sie so vor dem sicheren Tod in Auschwitz bewahrt. Von den Sinti und Roma wird er seither wie ein Heiliger verehrt. Benjamin Marx hat ihn in der sechsten Klasse als Religionslehrer kennengelernt. „Er war ein liebenswürdiger, leiser, sensibler Lehrer“, erinnert er sich bis heute. An der Häuserfront in der Harzer Straße ist das Porträt von Arnold Fortuin nun überlebensgroß zu sehen. Marx hat die Bleibe der Roma hier in Neukölln nach ihm benannt. Der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki, der Marx kennt und schätzt und dem dessen Visionen imponieren, hat im September das „Arnold Fortuin Haus“ hier in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters eingeweiht.
Unter dem überlebensgroßen Bild von Fortuin steht in deutscher, rumänischer und arabischer Schrift der Text, den der kleine Josua so toll fand. Es ist das interreligiöse Gebet der Vereinten Nationen. Wie auch das große Bild an der Rückseite der Häuserfront soll es die Bewohnerinnen und Bewohner schützen und bewahren. Dort ist in bunten Farben die Geschichte vom Schätze-Sammeln aus der Bergpredigt aufgemalt. Das Bild erzählt davon, dass es hier in der Harzer Straße in Berlin Neukölln um viel mehr geht als Geld und Gut.
– Plakat oder Folie mit Einstiegssatz
– Beitrag von Bettina Röder als Kopie
– Schreibmaterial für die Gruppenarbeit
Kopiervorlagen für AbonnentInnen -unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet
– Stummer Impuls
Ein Plakat mit der Aufschrift „Auch in Deutschland leben Roma“ wird in die Mitte gelegt oder aufgehängt. – Kurzer Austausch erster Assoziationen, ohne Kommentare oder Diskussion
– Fragen und erste Antworten
Fragen, die sich bei dieser Aussage _stellen, sammeln und aufschreiben -(Plakat, Flipchart) – z. B.: Wo leben Roma? Wie viele leben in Deutschland? Wie leben sie? Was sind überhaupt Roma?
Austausch zu den Fragen und über Wissen zu Herkunft, Lebensraum und -weise, Kultur und Religion der Roma (evtl. in Kleingruppen)
– Begegnungen und Erfahrungen
Wir meinen einiges über Roma-Familien zu wissen – doch wer kennt tatsächlich eine? Dennoch haben wir häufig ein Bild im Kopf. Bettina Röder, Redakteurin der Zeitschrift „Publik-Forum“, hat Roma-Familien in Berlin-Neukölln besucht und hat dabei auch ein faszinierendes Wohnprojekt kennengelernt. Hören wir ihr einmal zu.
Bericht vorlesen oder gemeinsam lesen – Gesprächspausen einlegen
– Eigene Aktion planen
Benjamin Marx setzt sich mit seinen Möglichkeiten für die Einlösung des Menschenrechts auf eine lebenswerte Wohnung ein. Gibt es ähnliche Projekte in Ihrer/unserer Wohngegend? – Austausch
Welche Wohngebiete / Ortsteile bräuchten unser Zutun? Wie könnte es gelingen, mit den BewohnerInnen in Kontakt zu kommen und gemeinsam an einem lebenswerten Umfeld für alle zu arbeiten? – Austausch
Auch bei uns könnte manche Häuserfront, manche Betonmauer, manche Bushaltestelle … einen neuen Anstrich vertragen. Wählen Sie ein mögliches Gestaltungsobjekt aus und überlegen Sie gemeinsam, welche Motive und Schriftzüge das Objekt zieren könnten. Ihre Idee halten Sie in einem skizzierten Modell fest. – Kleingruppen, dann Austausch im Plenum und nach Mgl. Entscheidung für ein konkretes Projekt
– Gebet der Vereinten Nationen
Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung. Gib uns Mut und Voraussicht, schon heute mit diesem Werk zu beginnen, damit unsere Kinder und Kindeskinder einst stolz den Namen Mensch tragen. Amen.
– Lied
Gott gab uns Atem (EG 432)
Bettina Röder ist Redakteurin bei der Zeitschrift „Publik-Forum“ und verantwortet dort das Berliner Hauptstadtbüro. Sie hat Kunstgeschichte studiert und als Kunsterzieherin unterrichtet; vor der Wende arbeitete sie in der Ost-Redaktion der protestantischen Zeitung „Die Kirche“.
Vorschlag für die Gruppe: Simone Kluge, Referentin der Ev. Frauen in Mitteldeutschland und Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw
Auch in Deutschland leben Roma
Und auch in Deutschland leiden viele von ihnen, da sie in ärmlichen Verhältnissen wohnen, betroffen von Arbeitslosigkeit, Anfeindungen und sozialer Ausgrenzung. Angehörige der Volksgruppen Roma und Sinti haben hierzulande eine lange Geschichte: „Seit etwa 600 Jahren sind Sinti und Roma in Deutschland ansässig“, berichtet Wolfgang Miehle, Nationaldirektor für die Ausländerseelsorge bei der katholischen Deutschen Bischofskonferenz.
Das dunkelste Kapitel der Roma-Geschichte endete 1945: Roma und Sinti wurden während des NS-Regimes ab 1933 systematisch verfolgt und ermordet. Laut dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fielen 500.000 Menschen dieser Volksgruppen dem Holocaust zum Opfer.
„Heute sind sie eine anerkannte nationale Minderheit“, sagt Wolfgang Miehle. „Etwa 100.000 Roma und Sinti besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft.“ Hinzu kommen Roma-Gastarbeiter, die seit den 1950er -Jahren ins Land kamen, und etwa 50.000 Roma, die während des Kosovokrieges ab 1995 aus ihrer Heimat nach Deutschland flohen. Weitere Roma begreifen die EU-Ost-Erweiterung und das damit verbundene Recht auf Freizügigkeit als Chance, auswegloser Armut zu entkommen. Stets im Gepäck: die Hoffnung auf ein besseres Leben und die Sehnsucht nach einer Perspektive für die Zukunft.
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024 erschienen.
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