Alle Ausgaben / 1999 Frauen in Bewegung von Regina Seifert

Henriette Goldschmidt

Ein Leben für die Frauenbildung

Von Regina Seifert

Am 23. November 1825 wurde Henriette Benas im deutsch-polnischen Krotoschin in der Provinz Posen geboren. Ihr Vater, der jüdische Großkaufmann Levin Benas, war politisch und sozial sehr interessiert. Er erzog seine Tochter im Geist der Sturmjahre 1848/1849. Henriette las Werke von Goethe, Schiller und Lessing. Später befaßte sie sich mit Kant, Fichte, Hegel und Rousseau. Ihr ganzes Leben lang wandte sie sich den Dichtern und Denkern der Klassik zu und auch deren Idealen von Freiheit und Humanität.

1853 heiratete sie den Prediger Abraham Meyer Goldschmidt, der an der deutsch-jüdischen Gemeinde in Warschau amtierte. Er brachte aus erster Ehe 3 Söhne mit. Die glückliche Verbindung mit Henriette währte bis zu seinem Tode.
1859 zogen sie nach Leipzig. Abraham Goldschmidt wurde Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde.
Durch einen Zufall, wie sie sich später erinnerte, fand Henriette Goldschmidt ihre eigentliche, sie ganz erfüllende Lebensaufgabe. Während eines Morgenspaziergangs durch Leipzigs Straßen entdeckte sie einen „Kindergarten“. Sie betrat das Haus und staunte über das fröhliche Spiel der Kinder. Die Kindergärtnerin erklärte ihr dann die hier angewandten Fröbelschen Beschäftigungsmittel. Daraufhin studierte sie Fröbels Schriften und erkannte in ihnen den Schöpfer eines Bildungswesens, das mit den Zielen der Frauenbewegung übereinstimmte.
„Der Erziehungsberuf ist der Kulturberuf der Frau.“ Um diese ihre Überzeugung in die Realität umzusetzen, unternahm Henriette Goldschmidt zahlreiche Anstrengungen.
Sie war Mitbegründerin der bürgerlichen Frauenbewegung 1865 in Leipzig. Gemeinsam mit Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt gründete sie den Leipziger Frauenbildungsverein unter dem Motto: „Leben ist Streben“. Die Angebote richteten sich an Frauen und Mädchen auch ärmerer Volksschichten.

Ziel der Abendveranstaltungen und Sonntagsunterhaltungen war es:
1. den Gesichtskreis der Frauen zu erweitern
2. das Denken in ethischen Fragen anzuregen und
3. die Förderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit.

Es war der erste Verein in Deutschland, der sich der Frauenbildung annahm und kein Wohlfahrtsverein war. Eine Initiative des Vereins ist besonders hervorzuheben: die Einberufung einer Frauenkonferenz über die Stadtgrenzen hinaus. 120 Frauen versammelten sich im Oktober 1865 zur ersten deutschen Frauenkonferenz. Männer wurden lediglich in beratender Funktion zugelassen. In den Diskussionen wurde das Recht der Frauen auf Erwerbsarbeit erörtert.
Höhepunkt der Konferenz war die Gründung des Allgemeinen deutschen Frauenvereins. Die jährlichen Mitgliederversammlungen sollten an unterschiedlichen Orten als Deutsche Frauentage durchgeführt werden.
1871 gründete Henriette Goldschmidt den Verein für Familien- und Volkserziehung zu Leipzig. Die Arbeit des Vereins war sehr erfolgreich und erstreckte sich über 50 Jahre. Er zählte in kürzester Zeit 500 Mitglieder.
Durch viele Vorträge verbreitete Henriette Goldschmidt Fröbels Erziehungsideen und bestimmte in Leipzig maßgeblich die Bildungslandschaft mit. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts engagierte sie sich für Erwerbsarbeit von Frauen. Sie eröffnete eine Kinderlesehalle, vier Volkskindergärten, ein „Seminar für Kindergärtnerinnen“ und das „Lyzeum für Damen“.
Wegen fehlender finanzieller Mittel besaß der Verein kein eigenes Haus. Erst 1889 konnte durch großzügige finanzielle Spenden jüdischer Bürger ein Vereinshaus in der Weststraße 16 (heute Friedrich-Ebert-Straße) erworben werden. Nun war es möglich, die Institutionen des Vereins unter einem Dach zu beherbergen. In Leipzig entstand damit eine Begegnungsstätte für Frauen. Vorträge, kulturelle und gesellige Veranstaltungen mit Leipziger Persönlichkeiten ließen das Haus zu einem kulturellen Mittelpunkt der Stadt werden. Henriette Goldschmidt wohnte 31 Jahre in diesem Haus, ebenso andere Damen des Vereine wie die Lehrerin Anna Zabel.
Henriette Goldschmidts Lebensleistung fand ihren krönenden Abschluß mit der Eröffnung der Hochschule für Frauen zu Leipzig. Im Eröffnungsjahr 1911 war sie bereits 86 Jahre alt. Für sie wurde ein Lebenstraum wahr. Für Frauen vom Kindergarten bis zur Hochschule gab es nun Bildungsmöglichkeiten in Leipzig.
Sie konnte „ihre Hochschule“ noch fast ein Jahrzehnt begleiten. Als sie am 30. Januar 1920 starb, war sie 94 Jahre alt.
Für die deutsche Frauenbewegung ist ihre Arbeit von unschätzbarem Wert. Frauenbildung, die für uns heute eine Selbstverständlichkeit bedeutet, mußte erst erkämpft und durchgesetzt werden. Henriette Goldschnidt hat durch ihr Engagement Geschichte geschrieben.

Zuletzt möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, wie ich „Bekanntschaft“ mit Henriette Goldschmidt machte.
Als wir die Veranstaltungen der Frauenwerkstatt zum Leipziger Kirchentag 1997 planten, meinte eine junge Frau, daß wir auch für das Henriette-Goldschmidt-Haus, eine Aktion starten sollten. Sie informierte uns, daß das Henriette-Goldschmidt-Haus nach den Plänen der Stadt Leipzig für den Abriß vorgesehen sei. Denn man wolle aus verkehrstechnischen Überlegungen heraus die Straße, an der es steht, verbreitern.
Nun gibt es, seit diese Pläne mehrheitlich vom Stadtrat beschlossen wurden, immer wieder Proteste gegen diese Entscheidung. Verschiedene Vereine und besonders Leipziger Frauen haben wiederholt gegen diesen Beschluß der Stadt Leipzig protestiert. Sie fordern den Erhalt des Hauses, denn es ist ein Ort traditionsreicher Geschichte – jüdischer Geschichte und Leipziger Frauengeschichte. Leider wurde bis zum heutigen Tag der Beschluß nicht geändert. Auch unsere Aktion zum Kirchentag direkt vor dem Henriette-Goldschmidt-Haus hat in dieser Hinsicht nichts bewirkt.
Ich bedaure sehr, daß die Verantwortlichen der Stadt Leipzig nicht gewillt sind, über eine andere Lösung des Problems nachzudenken – eine Lösung, die das Henriette-Goldschmidt-Haus erhält und es vielleicht zu einem neuen kulturellen Mittelpunkt für Frauen und jüdische BürgerInnen der Stadt Leipzig werden läßt. Ich meine, das sind wir Henriette Goldschmidt schuldig.

Regina Seifert, Leipzig

Verwendete Literatur:
Kämmerer, Gerlinde & Pilz, Anett (Hrsg.): Leipziger Frauengeschichten. Ein historischer Stadtrundgang. Leipzig: KuKuC e. V. 1995
Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidt – Ein Leben für Frauenbildung und Volkserziehung. In: Frauen in der Geschichte e. V. (Hrsg.), Doppelheft 1 und 2, Leipzig 1993
Wohlrath, Kerstin: Hausarbeit zum Thema: Frauenbildung in Leipzig (1832-1914), Universität Leipzig, Fakultät Erziehungswissenschaften 1995

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