Ausgabe 1 / 2006 Material von Charlotte Perkins Gilman

Herland

Von Charlotte Perkins Gilman


Drei junge Amerikaner der Jahrhundertwende, mit allen Vorurteilen ihres Geschlechts und (nicht nur) ihrer Zeit behaftet, dringen als Forschungsreisende in ein fernes, seit zweitausend Jahren nur von Frauen bewohntes Land vor, in dem Frieden, Kinderliebe und weiser Gemeinschaftssinn herrschen. Nicht nur äußerlich, auch innerlich werden die drei Abenteurer zu Gefangenen der freundlichen Frauengesellschaft: ihre herablassende Kavaliershaltung wirkt komisch, ihr männlicher Überlegenheitswahn schmilzt dahin …

„Es sind jetzt sechshundert Jahre vergangen, seit es bei uns zum letztenmal das gab, was ihr ‚Kriminelle' nennt. Es war damals natürlich unsere wichtigste Aufgabe, diese Charakterschwächen durch Fortpflanzungskontrolle und Erziehung so weit zu korrigieren, wie es eben möglich war.“
„Aber ich dachte, Mutterschaft sei für jede von euch…“
„Ja, Mutterschaft in dem Sinne ein Kind zu gebären. Aber Erziehung ist bei uns die höchste Kunst, und die darf nur von unseren größten Künstlerinnen ausgeführt werden.“
„Dann trennt ihr ja Mutter und Kind voneinander!“ stieß ich ganz entsetzt hervor.
„Gewöhnlich nicht“, erklärte sie geduldig. „Für fast jede Frau ist die Mutterschaft das wichtigste im Leben, jede denkt oft und mit Freude daran, betrachtet es als die größte Ehre überhaupt, als etwas Intimes, Persönliches und überaus Kostbares. Daraus folgt eben, dass bei uns die Kindererziehung eine Kultur und Wissenschaft geworden ist, die mit soviel Feingefühl und Können ausgeführt wird, dass wir, je mehr wir unsere Kinder lieben, desto weniger gewillt sind, diese Aufgabe ungeübten Menschen zu überlassen, unter Umständen also auch nicht uns selbst.“
„Aber Mutterliebe…“, versuchte ich einzuwenden.
Sie sah mir ins Gesicht und versuchte, eine klare und für mich verständliche Erklärung zu finden.
„Du hast mir von euren Zahnärzten erzählt“, sagte sie schließlich, „diesen geschickten, hochspezialisierten Leuten, die ihr Leben damit verbringen, kleine Löcher in den Zähnen anderer Menschen zu füllen, auch bei Kindern. Bedeutet Mutterliebe also, dass die Mütter die Zähne ihrer eigenen Kinder füllen? Oder würden sie das gerne tun?“
„Aber natürlich nicht“, sagte ich ganz empört. „Aber das ist ja auch ein hochspezialisierter Beruf. Aber einen Säugling kann doch wohl jede Frau pflegen, jede Mutter.“
„Wir denken da anders“, antwortete sie sanft. „Diesen Beruf üben bei uns nur besonders Tüchtige aus, und die Mehrheit der Mädchen bewirbt sich darum. Ich versichere dir, dass wir dafür die Geeignetsten aussuchen können.“
„Aber die arme Mutter – ihres Babys beraubt…“
„Aber nein“, beruhigte sie mich ernsthaft. „Kein bisschen beraubt. Es bleibt natürlich ihr Baby, es ist bei ihr, sie hat es nicht verloren. Sie ist nur nicht die einzige, die sich um das Kind kümmert. Da sind andere, von denen sie weiß, dass sie noch besser für diese Aufgabe geeignet sind. Gerade um des Kindes willen ist sie froh, es in bestmöglicher Pflege zu wissen.“
Das überzeugte mich nicht. Außerdem waren es auch nur Worte. Von den Müttern in Frauenland musste ich erst selbst einen Eindruck gewinnen.

aus: Herland
Rowohlt Taschenbuch  Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1980

„Herland“ („ihr Land“, „Ihrland“) erschien 1915 als feministische Utopie der 1860 in Connecticut  geborenen Autorin.

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