Nach längerer Zeit kommt Jesus in seine Heimatstadt Nazareth zurück. Alle kennen ihn. Als kleiner Junge war er lange nach der Volkszählung aus Ägypten zurückgekehrt. Er bekam Schwestern und Brüder. Jesus hatte wie sein Vater Zimmermann gelernt, in Nazareth gearbeitet und vor einiger Zeit seine Heimatstadt verlassen.
Jetzt ist er plötzlich wieder da. Am Sabbat geht er in die Synagoge. Dort ist er offenbar gern gesehen. Ihm wird zum Lesen die Rolle des Propheten Jesaja gereicht. Nachdem Jesus aus dem 61. Kapitel gelesen hat, setzt er sich wieder. Alle warten gespannt auf seine Auslegung. Dann passiert es: „Das, was ihr gehört habt, heute ist es eingetroffen“. Die Zuhörer sind angetan, geradezu begeistert. Sie finden seine Worte mutig. Sie staunen und bewundern ihn. Aber: Das ist doch Josefs Sohn Jesus, den sie von klein auf kennen, ein netter, fleißiger, kluger Junge! Wieso kann er von sich sagen, dass heute mit ihm die Worte des Propheten Realität werden? Sicher, dem Propheten muss man Glauben schenken – aber ist Jesus tatsächlich der, mit dem sich all das erfüllen soll, was beim Propheten Jesaja steht?
Jesus hält dagegen: Die aus Nazareth gehören sowieso nicht zu denen, die bereit und in der Lage sind, einem aus ihren Reihen zu glauben, wenn er vom Reich Gottes spricht, auf das alle warten. Solange es unverbindlich ist, jubeln sie mit ihm. Wenn es konkret wird, wollen sie nichts mehr wissen. Als Jesus dann auch noch als Beispiele die Prophetengrößen Elia und Elisa aufbietet, jagen ihn die Zuhörer aus der Synagoge und aus ihrer Stadt. Eigentlich waren sie neugierig, vielleicht auch etwas stolz, dass von einem Mann aus ihrer Stadt in der Umgebung und in Galiläa so viel erzählt wird. In anderen Orten ist man begeistert von seinen Textauslegungen und die Menschen verehren ihn. Er heilt sogar Kranke und es gibt inzwischen Männer, die mit ihm gehen.
Eine ambivalente Geschichte ist das. Da kommt einer nach Jahren wieder in seine Heimatstadt, geht in den Gottesdienst, wird geehrt, indem er den Propheten lesen und interpretieren darf. Und dann stellt er sich über die Propheten mit dem absolut höchsten Anspruch: „Der Herr hat mich erwählt, heute ist die Voraussage, die ihr soeben gehört habt, eingetroffen.“ Seit Jahrhunderten warten die Israeliten auf den Beginn des Reiches Gottes. Die Zeichen sind ihnen allen bekannt. Und ausgerechnet mit ihrem Jesus aus Nazareth soll es beginnen? Unglaublich ist das, phantastisch – und genau deshalb kann es so nicht sein. Das Reich Gottes kann doch nicht einfach so beginnen mit der Behauptung: Jetzt ist es soweit!
Das Bittere ist, dass über das, was das Reich Gottes ausmacht, gar nicht gesprochen wird. Arme, Gefangene, Blinde, Zerschlagene gibt es auch in Nazareth. Die Gemeinde kümmert sich, denn Wohltätigkeit gehört zu ihrem Auftrag. Aber das, was der Prophet Jesaja schreibt und Jesus jetzt verkündet, verändert alles. Vor allem das ausgerufene Gnadenjahr betrifft alle. Denn jede und jeder in Nazareth hat etwas freizugeben. Das würde alles ändern, die Verhältnisse womöglich auf den Kopf stellen. Auch das eint Jesus mit Elias und Elisas Geschichte. Die Witwen und die Aussätzigen, zu denen beide Propheten geschickt waren, und denen sie geholfen haben, gehörten nicht zur Synagogengemeinde. Sie waren Ausländerinnen und Ausländer.
Wie ist das heute mit dem Reich Gottes? Sind Anzeichen auszumachen? Es fällt schwer, sie zu finden. Die Nachrichten im Fernsehen und die Meldungen in den Zeitungen erzählen andere Geschichten. Es gibt mehr Anzeichen dafür, dass Christen aller Zeiten sich so verhalten haben wie die Menschen aus Nazareth, genau genommen sogar schlimmer. Ich nenne nur die Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen, die Waffensegnungen, den Holocaust, die Ausbeutung der so genannten „Dritten Welt“, das Verhältnis des reichen Nordens gegenüber Flüchtlingen, Vertriebenen, Emigranten… All das geschah und geschieht durch das „christliche Abendland“, mitten unter uns.
Vielleicht ist es auch deshalb so schwer die Anzeichen zu entdecken, weil wir das Reich Gottes als fertiges Ganzes, perfekt und hundertprozentig suchen? Aber es gibt sie, die Anzeichen des Reiches Gottes. Es sind die Frauen und Männer und Gruppen, die den Friedensnobelpreis bekommen haben. Es sind die Konventionen der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Kinderrechte, Flüchtlinge und Kriegsgefangene. Es sind auch viele kleine Gruppen, Verbände, Vereine, die sich vor Ort für eine gerechtes und solidarisches Miteinander einsetzen.
Jesus hat mit dem Satz „Heute ist die Voraussage, die ihr eben gehört habt, eingetroffen“ den Beginn des Reiches Gottes deutlich gemacht. Dann bedeutet das für uns heute, zweitausend Jahre später, dass immer noch und immer wieder an diesem Reich gebaut werden muss. Es ist nicht da von jetzt auf gleich, es fällt auch nicht vom Himmel. Es muss erarbeitet werden, wir müssen uns darum bemühen. Das bedeutet aber auch, es gibt keine Ausreden mehr. Wir können nicht darauf warten, dass es einen Knall gibt, und die Welt ist erlöst. Sprüche wie „Alles wird gut!“ oder „Du musst nur positiv denken!“ gehören nicht zum Reich Gottes. Christen können und sollen, einzeln und gemeinsam, das tun, was Not wendend ist. Die Verantwortung dafür ist nicht teilbar, hier die Mächtigen, die Verantwortlichen in Staat und Kirche, und da die so genannten einfachen und kleinen Leute. Die Verantwortung liegt bei allen, die sich auf Gottes guten Geist berufen, die sich zu seiner Gemeinde zählen, die wissen, dass Ungerechtigkeit, Gewalt und Kriege nicht Schicksal sind, sondern von Menschen gewollt und gemacht werden. Das heißt: Wir können es ändern. „Ich allein kann doch nichts tun! Wer hört schon auf mich?“ Die Sätze zählen nicht, weil sie nicht stimmen. Sie gelten schon gar nicht in Deutschland. Das hat die Geschichte in jüngster Zeit gezeigt. Solche Sätze sind beliebte Ausreden für das Weg-Sehen, das Nichts-Tun und für die, die Veränderungen fürchten. Es ist richtig: Veränderungen machen nicht nur Mühe, sondern auch Angst. Deshalb ist es gut, nicht alleine zu handeln.
Wenn wir über unsere Vorstellungen vom Reich Gottes reden, kommt sofort unsere Realität in den Blick. Nach dem Lukasevangelium nennt Jesus die Wirklichkeit der Armen, der Blinden, der Zerschlagenen. Wenn es für die Armen die Gute Nachricht gibt, für die Gefangenen die Entlassung, für die Blinden das Licht, für die Zerschlagenen die Freiheit, dann sind das Zeichen für das Reich Gottes. Für wen stehen die Gruppen heute?
Den Armen wird die Gute Botschaft gebracht
Gibt es sie überhaupt, die Gute Botschaft für die Armen? Wenn wir an die Nachrichten über Hunger, Armut und Krieg denken, dann können wir kapitulieren. Immer wieder wird deutlich, dass Geld die Welt regiert. Also Einmischen: Fehlanzeige? Wir gehören zu denen, die die Mächtigen durch ihr Verhalten stark machen, zum Beispiel beim Einkaufen. Wir wissen heute, welch hohen Preis Frauen und Kinder zahlen müssen, die in lateinamerikanischen Ländern „langstielige“ Rosen für Europa produzieren. Sie werden krank durch Pestizide und Insektizide, welche die Rosen makellos wachsen lassen. Wir müssen in Deutschland wenig Geld ausgeben für Kaffee und Baumwollpullis. Dabei verdienen die, die für uns auf den Kaffee- und Baumwollplantagen hart arbeiten, kaum genug, um ihre Familie zu ernähren. Unser Konsumverhalten kann das ändern, wenn wir uns auf „faire Pro¬ dukte“ und „fairen Handel“ einlassen. Die deutsche Politik tut das durch Entwicklungszusammenarbeit. Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher haben, am Ende der Kette, ebenso viel Einfluss.
Den Gefangenen wird die Entlassung prophezeit
Diebe, Mörder, Kriegsgefangene, Kriegsverbrecher, Sexualtäter, politische Gefangene: Sollen sie alle entlassen werden, einfach so freikommen ohne Prüfung des Sachverhalts? Ist das zumutbar für alle anderen, die Gesellschaft? Mit dieser Verheißung des Reiches Gottes habe ich große Schwierigkeiten. Natürlich bin ich für die sofortige Freilassung von politischen Gefangenen. Natürlich bin ich für die Möglichkeit „Strafen und Therapien“ bei Sexualstraftätern und Männern, die Frauen Gewalt angetan haben. Aber Kriegsverbrecher und Massenmörder müssen in einem rechtsstaatlichen Prozess, zum Beispiel vor dem Internationalen Strafgerichtshof, verurteilt werden. Von welchen Gefangenen reden die Propheten und Jesus? Reden sie von Menschen, die im Gefängnis sitzen oder von Menschen, die „gefangen“ sind von einer bestimmten Art zu leben oder vom Alltagsstress, von Strukturen, von Schulden, von Arbeitslosigkeit, von zu viel Arbeit…? Dann bedeutet „Entlassung“ die Möglichkeit zur Veränderung in einer Gesellschaft, die das auch zulassen muss, oder „Umkehr“ des Einzelnen, die dann auf andere wirken kann.
Den Blinden wird das Augenlicht gegeben
Martin Luther übersetzt: Den Blinden wird das Gesicht wiedergegeben. Das bedeutet, Menschen, die blind waren, können nicht nur andere und anderes sehen und erkennen, sie können auch sich selbst wieder sehen. Manchmal sehen sie dann sich und andere in einem ganz neuen Licht. Aber es gibt auch vermeidbare Blindheit. Für viele Menschen Afrikas sind Augenerkrankungen, die zur Blindheit führen, fast alltäglich. Vor allem Kinder sind betroffen. Die Gefahr der Erkrankung steckt im verseuchten Wasser. Das müsste nicht sein, wenn Hilfe und Veränderung in der Wasserversorgung vorhanden wären. Dazu gehört auch Information über das, was im Wasser steckt und krank macht. Um sich zu informieren, müssen Menschen lesen und schreiben können. Für Bildung und für sauberes Wasser wird zu wenig Geld zur Verfügung gestellt. Womöglich sind die mit „Blindheit“ geschlagen, die das Geld und die Macht haben, diese Katastrophen zu verhindern. Entschuldung durch die reichen Länder des Nordens ist ein Schritt, aber eben nur einer. Wichtiger ist es, konkrete Veränderungen in Bildung und Ausbildung zu fordern und zu fördern. Jede und jeder kann mithelfen, zum Beispiel durch Mitarbeit oder Spenden bei „Unicef“, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, bei der „Kindernothilfe“ oder der „Christoffel-Blindenmission“.
Die Zerschlagenen sollen frei und ledig sein
Wenn wir von „Zerschlagenen“ reden, ist es treffender, von den Frauen zu reden. Weltweit sind Frauen und Mädchen häufiger Opfer von brutaler Gewalt als Männer. Sie sind zu Tausenden in Kriegen vergewaltigt und so als „Mittel“ der Kriegsführung benutzt worden. Frauen und Mädchen werden gehandelt wie eine Ware. Mit ihnen wird inzwischen weltweit durch organisierte Kriminelle mehr Geld verdient als durch den Drogenhandel. Menschenhandel, Zwangsprostitution und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse zerschlagen Frauen und Mädchen. Obwohl die Frauen etwa 52 Prozent der Weltbevölkerung umfassen, haben sie in vielen Ländern dieser Welt schlechtere Zugänge zu Medizin, Bildung und abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Sie werden oft Mehrfachopfer: weil sie Frauen sind, sind sie arm, Analphabetinnen und können sich aus patriarchalen Strukturen kaum befreien. In den vergangenen fünfzehn Jahren, und vor allem seit der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, ist für die Frauen viel erreicht worden. Die Aktionsplattform von Peking haben viele Länder unterzeichnet. Durch die Förderung der Frauen vor Ort mit Schul¬ bildung, Mikrokrediten, AIDS – Bekämpfungsprojekten können wir eine menschlichere Welt für Frauen schaffen. Dann werden nicht nur Teile des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen jegliche Diskriminierung von Frauen (CEDAW) erfüllt. Wir haben den Frauen das Reich Gottes eröffnet.
Zuletzt verkündet Jesus den Beginn des „Gnadenjahres Gottes“. Im dritten Buch Mose, Kapitel 25, wird dieses Gnaden- oder Jubeljahr beschrieben. Nach sieben mal sieben Jahren sollte das Jahr kommen, das von allen Banden, Schulden und Verpflichtungen gegeneinander frei macht. Sklaven sollten frei sein, Abhängige ihre eigenen Wege gehen können. Neuanfänge werden möglich sein. Solch ein Jahr beginnt mit der Rede von Jesus vor den Menschen aus Nazareth.
Das Jubeljahr ist für uns etwas Ungewohntes. Vielleicht haben wir schon einmal jemanden getroffen, der ein „Sabbatjahr“ für sich genommen hatte. Frei von der Arbeit, aber mit Bezahlung, vielleicht einer bestimmten Idee oder Aufgabe verpflichtet, frei für sich selbst. Das ist wohl gut für alle, die Arbeit bzw. zu viel Arbeit haben. Das Jubel– oder Gnadenjahr geht weit darüber hinaus. Es bedeutet nicht nur Freilassen und Freigeben, Gehen können, wohin man will, sondern auch Ablassen, Vergeben und Neu-beginnen-Können. Altes ist vergangen. Ungeahntes bekommt Raum. Das Jubeljahr ist Freude über die Freiheit. Deshalb ist das Reich Gottes: arbeiten und verändern, frei sein und Notwendiges tun, Gerechtes groß werden lassen, feiern und jubeln über das „Er – REICH – te“.
Die Vielfalt der Vorstellungen vom Reich Gottes sammeln und erkennen:
Einfälle, Assoziationen sammeln zum Begriff „Reich Gottes“: Das können Sätze, Begriffe, Sprichworte, Vergleiche, eigene Erfahrungen sein; alles wird auf ein großes Plakat geschrieben, auf dem schon zu lesen ist „Reich Gottes?“ Wichtig ist, dass zunächst nicht miteinander über die Aussagen diskutiert wird.
Die Ambivalenzen nachempfinden:
Text Lukas 4,14-30 verteilen, miteinander lesen; herausfinden, wo sich die Leserinnen wiederfinden, Gespräch dazu
Die in Lukas genannten Merkmale des Gottesreiches aktualisieren:
Arbeit in fünf Gruppen zu je einem Merkmal (als fünftes auch das „Gnadenjahr Gottes“ einbeziehen): Einsichten erarbeiten und für die Gesamtgruppe darstellen (dabei freie Methodenwahl); die Ergebnisse einbringen und mit den eigenen Assoziationen des Anfangs vergleichen
Verabredungen treffen:
Was ist unser gemeinsames Tun für das Reich Gottes heute? Nach Möglichkeit in den vorherigen Gruppen je eine konkrete Verabredung treffen, was die Gruppe tun kann, um in diesem Bereich am Reich Gottes weiter zu bauen
Christel Riemann-Hanewinckel, Jg. 1947, ist Pfarrerin. Sie hat sich zu DDR-Zeiten aktiv in der Friedensbewegung engagiert und ist seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2002 bis 2005 war sie Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Seit Beginn der 16. Wahlperiode ist sie Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Informationsquellen:
1. Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen für fairen und gerechten Handel und menschenwürdige Produktionsbedingungen:
gepa Fair Handelshaus: www.gepa.de
Brot für die Welt: www.brot-fuer-die-welt.de
TransFair e.V.: www.transfair.org
International Labour Organization (ILO): www.ilo.org
2. Informationen zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit:
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): www.bmz.de
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): www.bmfsfj.de
zahlreiche Organisationen, Verbände und Vereine,
z. B: Evangelischer Entwicklungsdienst (www.eed.de), Caritas (www.caritas.de), Gemeinsame Konferenz ¬ Kirche und Entwicklung (www.gkke.org),
Marie-Schlei-Verein e.V. (www.marie-schlei-verein.de), medica mondiale e.V. (www.medicamondiale.org), Aktionsbündnis gegen Aids (www.aids-kampagne.de)
3. Informationen zu den genannten Konventionen der Vereinten Nationen:
UN-Menschenrechtskonvention, UN-Kinderrechtskonvention, CEDAW – Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Woman
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der ¬ Diskriminierung der Frau:
www.unric.org
www.institut-fuer-menschenrechte.de
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