Seit einigen Jahren ist die Streitfrage (um das Hirntod-konzept, Anm. Red.) erneut in den Mittelpunkt der medizinethischen Diskussion gerückt. … Wesentliche Bedeutung kommt dem Verfassungsrecht zu, das verbindliche Vorgaben auch für die Regulierung der Biomedizin macht. Nun enthält die deutsche Rechtsordnung keine Definition des Todes. Doch das Grundgesetz enthält eine Garantie des Grundrechts auf Leben und damit eine verbindliche Vorgabe. Mit dem verfassungsrechtlich geschützten Gut „Leben“ benennt die Verfassung den Komplementärbegriff zur Kategorie des Todes. „Tod“ meint „Nicht-Leben“, genauer: „Nicht-mehr-Leben“. In diesem Sinne markiert dann der Tod die Scheidelinie, jenseits derer das Grundrecht auf Leben als Maßstabsnorm ausscheidet. Jeder Versuch einer Konkretisierung von „Leben“ im Grundgesetz muss sich dabei der Ausrichtung der beiden Eingangsartikel des Grundgesetzes – der Garantie der Würde des Menschen und des Lebensgrundrechts – bewusst sein. … Entstehungsgeschichtlich lässt sich nachweisen, dass die Garantien, die das Grundgesetz für den Schutz der Menschenwürde und des Menschenlebens bietet, gerade einer Unterscheidung zwischen Personen, die den Schutz ihrer Würde und Integrität beanspruchen dürfen, und defizitären Nur-Menschen widersprechen. Der Begriff des Lebens ist dementsprechend – wie auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont hat – weit auszulegen. Das Grundgesetz anerkennt jedes Mitglied der menschlichen Gattung unabhängig von seinem Entwicklungsstand, seinem Alter, seinem pathophysiologischen Zustand, seiner Todesnähe als Subjekt mit gleicher Würde und Integrität an. Leben meint insoweit lebendiges körperliches Dasein. Auf kognitive, kommunikative oder intellektuelle Fähigkeiten kommt es nicht an.
Nimmt man diesen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt ernst, so begegnet das herrschende Hirntodkonzept durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.
(1) Definiert man „Tod“ – in Übereinstimmung mit dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer – als Ende eines Organismus in seiner funktionellen Ganzheit, so wird man feststellen können, dass die Hirntodkriterien (das heißt: der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms) diesen Todesbegriff nicht abbilden. …
(2) Auf ganz fundamentale Einwände stößt ein anderer Begründungsversuch. Er stellt wesentlich darauf ab, dass ein Mensch im Zustand des diagnostizierten Hirntodes nichts mehr aus seinem Inneren und aus seiner Umgebung -heraus empfinden, wahrnehmen, beobachten und beantworten könne, nichts mehr denken und nichts mehr entscheiden (sog. Geistigkeitstheorie). Ein solcher Todesbegriff aber kollidiert mit dem grundgesetzlichen „Menschenbild“.
Folgt man dieser kritischen Perspektive, so stehen die Transplantationsmedizin und ihre Regulierung zweifelsohne vor einer großen Herausforderung. Die Ablehnung der Gleichsetzung von „Hirntod“ und Tod des Menschen bedeutet nämlich zugleich die Verabschiedung der dead-donor-rule jedenfalls für die Transplantation von Herzen und Lungen. In den USA wird insoweit auch vom „gerechtfertigten Töten“ (justified killing) gesprochen. Ist es aber legitim, den Tod eines Menschen durch Organentnahme herbeizuführen, um einen anderen zu retten? Aus verfassungsrechtlicher Sicht scheint es jedenfalls denkbar, dass das Hirntodkriterium lediglich als Entnahmevoraussetzung dient und auf der Grundlage einer informierten Einwilligung mit der Feststellung des Hirntodes die Behandlung eingestellt oder für kurze Zeit im Interesse der Organprotektion fortgesetzt und sodann explantiert wird.
Wolfram Höfling
aus:
Die Hirntodkonzeption.
Eine Kritik aus grundrechtsdogmatischer Perspektive
in:
Sibylle Sterzik (Hg.)
Zweites Leben
Organspende Ja oder Nein – Erfahrungen, Meinungen & Fakten
© Wichern, Berlin 2013
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