Alle Ausgaben / 2016 Artikel von Antje Röckemann

Hora! Tanzen mit einem glücklichen Herzen

Wie ich Israelischen Volkstanz neu entdeckte

Von Antje Röckemann

Wir fassen uns an den Händen, bilden einen Kreis, wir tanzen einige Schritte nach rechts, wir bleiben stehen und wiegen uns hin und her mit erhobenen Händen, wir lassen die Hände los und drehen uns um uns selbst, die Arme begleiten dieses Drehen und dann fassen wir wieder durch und es geht gemeinsam im Kreis weiter. „Tzaddik kaTamar“ heißt der so beschriebene Tanz, ein israelischer Volkstanz. „Tamar“ bedeutet Palme – und wie eine Palme fühlen sich die Bewegungen auch an.

Biblischer Text in Bewegung

Ein Baum ist in der Bibel ein Bild für den Menschen. Dieses Bild wird in vielen Psalmen aufgegriffen, gleich schon am Anfang: Frauen und Männer, die sich an der Tora orientieren, „wie Bäume werden sie sein – gepflanzt an Wasserläufen“, heißt es in Psalm 1,3.

Der Text zu dem oben beschrieben Tanz lautet: „Die Gerechten werden emporschießen wie Palmen, wie Zedern auf dem Libanon werden sie wachsen“. (Psalm 92, 13). Und das wird auch in Tanzbewegung umgesetzt: Ich erlebe mich als aufgerichteter, aufrechter (gerechter) Mensch. Meine Wirbelsäule ist der Baumstamm, der sich im Wind hin- und herwiegt, meine Arme sind die Zweige, die sich dabei mitbewegen. Und ich kann mich in all meiner Lebendigkeit erleben, kann spüren, wie ich wachse – für mich und zugleich in der Gemeinschaft.
Mich fasziniert das ungemein, wie in diesem Tanz der biblische Text in Bewegung umgesetzt wird. Dadurch erschließt sich die Bedeutung der Worte für mich noch einmal in ganz neuer Weise, mit dem ganzen Körper, mit Geist und Herz, mit Verstand und Gefühl, eben ganzheitlich.

Die Erfahrung, dass im Tanz „Tzaddik kaTamar“ der Text und die Bewegung so gut zusammen gehen, war für mich ein wichtiger Impuls, mich mehr mit Israelischem Volkstanz zu beschäftigen. Denn natürlich erschließt sich der Zusammenhang nicht direkt. Als ich den Tanz kennenlernte, habe ich mich einfach nur an der eingängigen Melodie und den interessanten Bewegungen erfreut. Niemand konnte den Tanznamen, geschweige denn den Liedtext verstehen und übersetzen – wer kann hierzulande schon Hebräisch? Als neugierige Tänzerin und Theologin wollte ich es jedoch genauer wissen, habe mich an meine im Studium erworbenen Sprachkenntnisse erinnert und im Internet schnell weitere Informationen gefunden.

Seit einiger Zeit tanze ich nun regelmäßig Israelische Volkstänze. Es macht mir einfach großen Spaß und irgendwie wissen meine Füße fast von selbst, wie es geht. Und die Melodien habe ich oft auch Tage danach noch im Ohr, auch wenn ich sie nur einige Male gehört habe. Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich bereits in der kirchlichen Jugendarbeit einige Israelische Tänze und hebräische Lieder kennengelernt habe. Es hängt aber sicher auch mit der großen Musikalität der Tänze zusammen, Melodie, Rhythmus und Schritte sind gut aufeinander abgestimmt, und auch Bewegungen und Texte passen gut zusammen.
Einer der ältesten Tänze ist der Mayim-Tanz, den bestimmt viele kennen. Mayim heißt Wasser und die Schritte ahmen die Wellenbewegung des Wassers nach. Es ist wie seitwärts gehen, dabei kreuzt der rechte Fuß mal vor, mal hinter dem linken, dadurch ergibt sich eine Schlängelbewegung. In anderen Volkstänzen wird der Mayim-Schritt auch als Grapevine, also Weinrebe bezeichnet.
Dieser Tanz wurde 1937 von Else I. Dublon für ein Wasserfest im Kibbuz Na'an bei Ramla choreografiert, die Musik stammt von Emanuel Pugashov Amiran und der Text aus Jesaja 12,3
Es ist einer der ältesten Israelischen Volkstänze, genau 80 Jahre alt. Und an dieser Stelle sollte ich erklären, was Volkstanz in Bezug auf Israel meint.

Wurzeln der Israelischen Volkstanz-Tradition

Bei Volkstanz und Volksliedern denkt man meist an uralte Traditionen, deren Entstehung so lange zurück liegt, dass sie in Vergessenheit geraten ist. Der Staat Israel wurde jedoch erst 1948 gegründet – das ist nicht einmal 70 Jahre her. Woher kommen dann Israelische Volkstänze?

Bereits seit 1882 waren Jüdinnen und Juden in die Region Palästina immigriert, der Hauptgrund waren Verfolgungen in Osteuropa. Auch die zionistische Bewegung unterstützte die Idee der Einwanderung nach Palästina, später kamen dazu die Menschen, die vor der nationalsozialistischen Verfolgung flohen.
Bereits lange vor der Staatengründung lebten also Jüdinnen und Juden im Land – die natürlich zu ihren Festen auch tanzen wollten. Aber was? Die ersten Einwanderer brachten ihre eigenen Lieder und Tänze mit, vor allem aus Europa. Aus diesen ganz unterschiedlichen Inspirationen wurde dann eine neue, eine Israelische Volkstanz-Tradition entwickelt. Es entstand so eine neue Tradition, mit neuem Herzen und aus einem neuen Geist, die gleichzeitig vielfältige Traditionen einbezieht – und bis heute entstehen immer wieder neue Choreografien, die sich dem Israelischen Volkstanz verpflichtet fühlen.

Mit einem glücklichen Herzen tanzen

In den frühen Jahren musste die Musik zum Tanz natürlich oft selbst gesungen oder gespielt werden, es bot sich darum an, einfache, schon bekannte Melodien zu nehmen. Ein weltweit bekanntes Lied entstand in dieser Zeit: Hava nagila. „Lasst uns glücklich und fröhlich sein, lasst uns singen und fröhlich sein, erwachet Brüder, mit einem glücklichen Herzen.“ (In Frauengruppen kann man natürlich statt Achim = Brüder auch Achot = Schwestern singen.). Die Musik geht auf eine wortlose chassidische Melodie, ein Niggun, zurück und wurde von Abraham Zvi Idelsohn (1882–1938), vermutlich anlässlich der britischen Besetzung Palästinas im Ersten Weltkrieg, bearbeitet und mit Worten versehen.
Und zu Hava nagila kann man wunderbar die Hora tanzen. Die Hora kommt ursprünglich aus Rumänien und entwickelte sich zum israelischen Nationaltanz schlechthin. Die Hora ist ein Kreistanz, man fasst sich an den Händen (oder um die Schultern) und alle tanzen die gleichen, relativ einfachen Schritte. Alle können und sollen also mitmachen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem sozialen Status.

Kreistanz hat etwas sehr demokratisches, und bis heute sind die allermeisten Israelischen Volkstänze Kreistänze (neben einigen Paartänzen und Line-Dances). Das erleichtert auch das Mittanzen. Gerade bei der Hora kommt es nicht so sehr darauf an, ob ich die Füße richtig setze: Die Mittänzer_innen an der rechten und linken Hand nehmen mich schon mit, wichtiger als die richtigen Schritte zu setzen ist es, mit „einem glücklichen Herzen“ zu tanzen. Und darum geht es natürlich überhaupt im Tanz.

Mütter des Israelischen Volkstanzes

Als feministische Tanzpädagogin fand ich sehr spannend, als ich herausfand, dass am Anfang vor allem Frauen bei der Entwicklung der neuen Volkstänze beteiligt waren, heute dominieren Männer die Choreografen-Szene. Gurit Kadman (1897–1987) ist die „Mutter des israelischen Volkstanzes“. Sie wurde als Gertrude Löwenstein in Leipzig geboren und lernte dort den modernen Tanz kennen. Nach ihrer Heirat mit Leo Kaufmann immigrierte sie 1920 nach Paläs­tina, wo sie bald die Notwendigkeit erkannte, eigene hebräische bzw. israe­lische Traditionen für den Tanz zu entwickeln. Auf ihre Initiative gehen die Volkstanzfestivals zurück, deren erstes 1944 im Kibbuz Dalia stattfand. Ihre 1925 geborene Tochter Ayala Goren-Kadman führte die tanzpädagogische Arbeit ihrer Mutter fort – und tanzt auch im hohen Alter noch weiter.

Aus Deutschland kam auch eine engagierte Choreografin. Rivka Sturmann (1903–2001), gebürtig aus Warschau, machte in Leipzig eine Ausbildung als Pestalozzi-Erzieherin als auch in Ausdruckstanz, sie immigrierte 1929 nach Palästina-Israel. Ihr verdanken wir rund 150 Tänze! Viele davon hat sie auch selbst im hohen Alter in Deutschland ge­lehrt.

Zwischen Tradition und Popkultur

Die Tänze, überwiegend im Kreis, mit Handhaltung, betonen die Gleichheit aller, die Verbundenheit – und unterstützten die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses, einer neuen Identität – auch schon vor Gründung des Staates.
Viele der frühen Tänze basieren auf traditionellen Melodien mit biblischen und liturgischen Texten. Diese religiösen Texte und Lieder waren die gemeinsame Grundlage für die multikulturelle jüdische Bevölkerung, auch wenn viele der frühen Einwanderer_innen säkular waren.
Aber schon lange kommen die Lieder zu den Tänzen auch aus der Popkultur, die Texte sind dann ähnlich intelligent wie in deutschen Popsongs auch. Mein aktueller Lieblingstanz heißt „Bepundak katan“, hier geht es um einen Kapitän mit Holzbein, der in einer kleinen Hafenkneipe mit gleich drei Frauen zusammensitzt und viel Wein trinkt. Und immer wiederholt (im Refrain): Alles egal, morgen wird mich ein Boot raus aufs Meer bringen. Und beim Tanzen kann man das Holzbein hören, wie es auf den Boden knallt.
Ich selber tanze zu Popsongs genauso gerne wie zu biblischen Liedern, allerdings finde ich es wichtig wenigstens ungefähr die Bedeutung der Lieder als auch der Bewegungen zu kennen. Erfreulicherweise gibt es viele Internetseiten, die die Tänze und die dazugehörigen Liedtexte auflisten, so dass es leicht ist, Herkunft und Bedeutung der Texte zu recherchieren.

In Israel sind diese Volkstänze Teil des Alltagslebens. Schon im Kindergarten werden die Tänze gelernt, für Erwachsene ist es ein beliebter Ausgleichssport. Aber auch außerhalb Israels sind diese Tänze sehr beliebt, nicht nur in jüdischen Kreisen. Ich jedenfalls freue mich jede Woche aufs Tanzen – es erfreut mein Herz und meinem Körper tut es auch gut.

Antje Röckemann, geb. 1963, Leiterin des Gender-Referates im Ev. Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid, feministische Theologin und Tanzpädagogin (AfT, Bochum). Antje Röckemann gibt auch Workshops zu Israelischen Volkstänzen. 2017 sind neue Termine geplant.Hinweise auf Tanzkurse unter www.gender-kirche-gelsenkirchen.de

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