Alle Ausgaben / 2013 Artikel von Monika Korbach

Ich aber – pilgerte

Schritt für Schritt Gott näher kommen

Von Monika Korbach

Juli 2012. Es schüttet. Seit einer Woche sitze ich auf dem fix und fertig gepackten Rucksack. Der ist von Hanna geliehen – bereits gefüllt mit vielen guten Tipps. Denn Hanna war schon zweimal auf dem spanischen Jakobsweg unterwegs.

Am siebten Regentag gegen Mittag endlich ein Lichtblick. Um 14.00 Uhr sitze ich im Zug. Es kann losgehen. Ich kann losgehen. Mein Weg: der Elisabethpfad von Eisenach nach Marburg. Im Gepäck: keine Bibel, keine Tageslosungen. Dafür acht Kilogramm vermeintlich Notwendiges, zwei Päckchen Blasenpflaster, Pfefferspray und Wanderstöcke – nicht nur als Gehhilfe, sondern auch als Waffe gegen Hunde und andere potentielle Feinde in den thüringisch-hessischen Wäldern. Das Unternehmen „Monika allein unterwegs“ hat begonnen …

So kann es einfach nicht weitergehen

Nein, ich befinde mich nicht in einer persönlichen Lebenskrise. Ich benötige – außer dem normalen Bedürfnis nach Urlaub und Tapetenwechsel – keine Auszeit und überbrücke keinen biografischen Übergang vom Studium in den Beruf oder vom Arbeitsleben in den Ruhestand. Ich will keine Lebensbilanz ziehen, muss mich auch nicht von einer geliebten Person verabschieden. Und ich stehe vor keinem Neustart in einen anderen Job oder neue Erdteile.1
Vielmehr ist es so: Seit 2009 arbeite ich mit lieben Kolleginnen, engagierten Ehrenamtlichen und Netzwerkpartnern an und in unserem Projekt: „Pilgern in Lippe“. Ich aber – bin selbst noch keinen einzigen Meter allein gepilgert! Damit ist jetzt Schluss. In einer Woche kann ich endlich mitreden.

Mein Abenteuer beginnt …

… mit einem Latte Macchiato auf dem Marktplatz in Eisenach. Eine Frau kommt auf mich zu: „Sind Sie Elisabethpilgerin?“ „Ja, woher wissen Sie das?“ „Sie sind eine Frau, Sie tragen einen Rucksack und Sie sind allein unterwegs. Wenn Sie übermorgen in Röhrda ankommen, können Sie gern bei mir übernachten.“ Spricht's, drückt mir die Visitenkarte ihrer Frühstückspension in die Hand und verschwindet lächelnd. Was für ein Pilger-Marketing! Nein danke, erst einmal will ich aber – selbstbestimmt losgehen.

Der Weg beginnt auf der Wartburg. Weil die jedoch den Wortstamm „warten“ enthält und das dort nicht nur sprichwörtlich der Fall ist, starte ich lieber in der katholischen Pfarrkirche St. Elisabeth. Doch, erste Enttäuschung, Elisabeth ist leider nicht zu Hause – die Kirche ist geschlossen. Na gut, dann beginnt mein Weg eben mit Orgelmusik in der Stadtkirche St. Georgen, der Taufkirche Johann Sebastian Bachs, in der auch Luther schon predigte. Liegt mir ja sowieso näher.

Nun aber los. Nach einigem Suchen finde ich die Markierung des Elisabethpfades und den Weg in die thüringische Landschaft. Endlich gehen, aufatmen. Der Regen hat aufgehört, das Warten, auch die Arbeit, die ich gern tue, in der letzten Zeit aber etwas viel geworden ist. Einfach losgehen, nicht reden können, außer mit mir selbst, nicht reden müssen, außer mit mir selbst. Welche Freiheit!

Seit einiger Zeit sind die Töchter aus dem Haus. Keine tägliche Verantwortung mehr, viel Luft und freie, unstrukturierte Zeiten und Räume – doch eine Übergangskrise? Bei jedem Meter, den ich vorwärts komme, schießen mir hundert Gedanken durch den Kopf. Familienbilder, Szenen aus dem Berufsleben. Habe ich die Zeitung abbestellt? Was für ein schöner Bachlauf! Werde ich rechtzeitig wieder zu Hause sein? Schon ist es passiert: Ich habe seit einer gefühlten Stunde keine Wegmarkierung mehr gesehen. Verlaufen, jetzt schon? Ich bin verunsichert. Da, die zwei Joggerinnen, vielleicht können die mir helfen? Gottlob, ich bin noch auf dem richtigen Weg. Eine kritische Stimme beginnt zu mahnen: „Grübele nicht so viel 'rum, achte gefälligst besser auf den Weg!“ Eine fürsorgliche Stimme beruhigt mich: „Hab einfach Vertrauen, du bist nicht allein unterwegs.“

Abends dann ankommen in Creuzburg und nur noch – Schlafen, schlafen, nichts als schlafen! Kein Erwachen, keinen Traum!2

Nach einem weiteren durchregneten Morgen …

… gehe ich erst mittags weiter. „Was bist du nur für ein Weich-Ei! Ein richtiger Pilger geht auch bei Regen los“, bellt schon wieder der kritische Kopfbewohner. „Aber muss denn Pilgern weh tun?“, entgegnet die Warmherzige. Ich aber – pfeife die beiden zurück. Die wunderschöne Landschaft macht meinen Kopf frei, die Beine laufen, der Rücken trägt. Mein Weg führt mich über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Noch in Gedanken darüber, dass sich in meinem kleinen Leben 1989 Weltgeschichte ereignet hat, treffe ich einen jungen Mann bei der Autowäsche. „Viele Grüße von Frau H.“, ruft er mir im Vorbeigehen zu. Ich stutze und bleibe stehen. „Wie bitte?“ „Ja, ich soll Sie von Ihrer Pensionswirtin grüßen, die hat mir erzählt, dass Sie heute hier vorbei kommen.“ „Aber die wohnt doch drüben?“ „Ach, das mit dem Drüben, das ist doch schon lange vorbei.“ Da staune ich aber! Und freue mich ganz tief.

Nach einem wunderschönen Tag komme ich in Röhrda an und übernachte – natürlich bei der jungen Frau, die mir in Eisenach ihre Empfehlung gab. Weiter geht es auf dem Elisabethpfad. Die quirligen Gedanken kommen, und das Erleben der sanften, vielgestaltigen Mittelgebirgslandschaft hilft, dass sie auch wieder gehen. Und schon ist der Quengler wieder da: „Ist das eigentlich Pilgern, was du hier machst? So ganz ohne Gebetbuch und christliche Rituale? Reicht es nicht, wenn du das 'mal ganz bescheiden als Wandern bezeichnest?“ Was ist das eigentlich: Pilgern?

Stufenweg des Geistes zu Gott

Wenn wir auf dem lippischen Pilgerweg in Gruppen unterwegs sind, leitet uns meistens ein Thema oder spiritueller Gedanke. Und wir erleben Impulse durch kurze Texte, Lieder, Gebete, Gespräche und Schweigezeiten. Unsere 26 ehrenamtlichen PilgerbegleiterInnen haben spürbare Freude daran, diese Impulse auszuwählen und sie anderen im „Gottesdienst per pedes“ anzubieten. Eine zunehmende Zahl von Männern und Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen das „Pilgern vor der Haustür“ dem populären Jakobsweg vorzieht, genießt dieses Angebot und ist häufig nicht nur einmal dabei. Sie bekommen WegbegleiterInnen „an die Hand“ und Impulse, die es leichter machen, Abstand vom Alltag zu bekommen, über sich und die ureigenen Fragen nachzudenken und vielleicht dem Geheimnis des Glaubens Schritt für Schritt näher zu kommen. Begleitetes Pilgern eben. Aber was ist mit denen, die allein unterwegs sind – ohne BegleiterIn, ohne Impulse, vielleicht sogar ohne Ziel?

1990 waren es noch zwölf – inzwischen gibt es 430 Buchtitel, die sich mit dem Thema Pilgern beschäftigen3 und in denen eine Vielzahl von Definitionen beschrieben wird oder zwischen den Zeilen durchscheint, was Pilgern eigentlich heißt. Auf einer Akademietagung der Ev. Akademie Loccum begegne ich den Gedanken Bonaventuras, im 13. Jahrhundert Generalminister der Franziskaner Kardinal von Albano.4 In seinem Itinerarium mentis in Deum, dem „Stufenweg des Geistes zu Gott“ heißt es:

Hierzu wendet sie [die Seele] sich zunächst nach draußen, um in der Welt den Spuren des Schöpfers nachzugehen, sodann nach innen zum Geistigen in uns und schließlich über uns, um Gott in der ihm eigenen Wesenheit zu erkennen … hier kommt es zur Erfüllung, sodass nichts mehr zu erstreben bleibt … Dieser Weg kann aber nicht nachvollzogen werden, er muss selbst gegangen und erlebt werden.5

Kaum liegt Röhrda hinter mir …

… fuchtelt jemand mit etwas Länglichem in der Hand und ruft mir nach. Meine zweite Pensionswirtin trägt mir meine Wanderstöcke hinterher. Voller Dank über diese Aufmerksamkeit setze ich meinen Weg fort. Inzwischen kann ich aber gelassener gehen, die Felder und Wiesen genießen, das Patchwork an vielfarbigen Gedankenschleifen in meinem Kopf gewähren lassen und trotzdem rechtzeitig die Wegzeichen sehen und den Weg finden.

Immer noch melden sich die Kopfbewohner: das ängstliche kleine Mädchen, das bei jedem Eintauchen in die Wälder Rotkäppchen-Schauer bekommt. Auch der strenge Zensor ist noch da, wird aber ruhiger, seit ich die Kirchen am Wegrand aufsuche und in ihnen die Vielfalt unserer Glaubensvorstellungen entdecke. Dass es dort meistens Mineralwasser für die Pilgernden gibt, manchmal auch ein bisschen Gebäck, und dass ich mich gern in das ausliegende Gästebuch eintrage – ich habe
ja bisher noch keine einzige Pilgerin getroffen – braucht er ja nicht zu wissen. Langsam werden meine Gedanken klarer. Sie bestehen nicht mehr aus Eintragungen im Terminkalender, unerledigten Aufgaben, vernachlässigten Beziehungen. Sie klären sich wie Stoffe in einem Glas Wasser, die sich nicht darin auflösen, sondern oben oder unten absetzen. Manchmal geht es eine Weile nur noch darum: Wie weit werde ich heute gehen (können)? Werde ich rechtzeitig eine Unterkunft finden? Wie lange wird das mit der Blase am Fuß noch gut gehen? Wird mir auch wirklich nichts geschehen als Frau allein unterwegs? Streckenweise spüre ich eine wohltuende Leere, sehe und höre nur noch und empfinde und erlebe …

In einer Kirche entdecke ich das Bild der „Madonna von Stalingrad“ – welch ein Zufall, das hat mir Ria doch neulich erst geschenkt! Weit vor meinem Tagesziel rollen die ersten Tränen der Selbstüberforderung. Und siehe da, der ältere Herr, der eben noch die Rosen vor der Kirche geschnitten hat, holt spontan sein Auto und bringt mich in die nächste Stadt. Ich betrete eine Kirche, die nur für mich – ich bestehe darauf! – mit Rosen ausgestreut ist. Nach einer Woche komme ich heil und glücklich in der Elisabethkirche in Marburg an. Gerade rechtzeitig zur Mittagsandacht.

Weiß ich jetzt langsam, was Pilgern vom Wandern unterscheidet? Ich ahne es. Die Jahreslosung aus Psalm 73,28 für 2014 lautet: Gott nahe zu sein ist mein Glück. Bin ich Gott nahe gekommen? Der Natur – auf jeden Fall. Mir selbst – es ließ sich gar nicht vermeiden. Und Gott? Ich verdrehe die Buchstaben des kleinen Wörtchens nahe. Und, das kann ich sagen: Gott ahnen, das konnte ich. Was für ein Glück! Meine Freunde kommen langsam von ihren weiten oder nahen Urlaubsreisen zurück. Ich aber – pilgerte.

Für die Arbeit in der Gruppe

Pilgern geht überall – nicht nur in schönen Landschaften. Hier eine kleine Übung, ein „Probepilgern“ in mehreren Schritten zum Thema „Stadtwort trifft Bibelwort“.6

Mit einigen Gedanken zum Pilgern lädt die Leiterin ihre Gruppe zu einem Pilgerweg durch die Stadt ein. Der Weg beginnt nach dem dreifach gesungenen Lied „Schweige und höre …“ (alte Benediktinerregel).

Beim zunächst schweigenden Gehen ist die Aufgabe für jede Frau, ihr „Stadtwort“ zu finden (auf Plakaten, Leuchtreklamen, Straßenschildern …) und auf einem kleinen Zettel zu notieren.

Die Gruppe macht einen Halt (kleiner Park o.ä.) und singt erneut „Schweige und höre“. Je zwei Frauen tauschen sich im Weitergehen über ihr Stadtwort aus.

Nach einem erneuten Halt und Lied zieht jede Frau nun ihr Bibelwort (Wortschnipsel / Zeile eines Bibelwortes, z.B. Psalm 23 aus der Bibel in gerechter Sprache; s.S. 42f) aus einem kleinen Korb; nach einer erneuten Schweigephase erfolgt wieder Austausch zu zweit.

Ankommen in einer Kirche – Die Gruppe stellt sich im Altarraum rund um den Abendmahlstisch auf. Jede, die möchte, liest nun ihr Stadtwort und ihr Bibelwort vor und erläutert, was diese für sie bedeuten. Gibt es Zusammenhänge, Zusammenklänge, Widersprüche?

Abschließend wird Psalm 23 zunächst von einer Person, dann gemeinsam gelesen, das Vaterunser gebetet und im Hinausgehen noch einmal gesungen.

Übrigens: Mein Stadt-/Bibelwort hieß damals: „Höre auf dein Herz – jeden Tag deines Lebens!“

Monika Korbach ist Dipl. Sozialpädagogin und Transaktionsanalytikerin und arbeitet als Referentin für Evangelische Frauenarbeit und Erwachsenenbildung im Bildungsreferat der Lippischen Landeskirche – unter anderem im Projekt www.pilgern-in-lippe.de.

Anmerkungen
1) Der Sozialwissenschaftler Christian Kurrat hat die Motive von Menschen, die auf dem Jakobsweg unterwegs sind, untersucht und fand diese fünf biografischen Auslöser heraus: Pilgern gestern und heute, Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, Berlin 2012
2) Christian Friedrich Hebbel – aus dem Gedicht „Schlafen, schlafen …“
3) aus dem Vortrag „Pilger – Was für Typen sind denn das?“ von Christian Kurrat auf der 4. Pilgertagung der Ev. Akademie Loccum in Zusammenarbeit mit dem Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers im August 2013
4) aus dem Vortrag „Pilgern als Heilsweg?“ des Theologen Notger Slenczka auf derselben Tagung
5) Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Julian Kaup, München 1961; Teil 17 der Reihe „50 Hauptwerke der Philosophie“
6) Aus einem Workshop von Dr. Gerald Wagner und Monika Korbach beim 2. Pilgertag des Ev. Erwachsenenbildungswerkes Westfalen und Lippe am 8.10.2011 in Dortmund

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