Ausgabe 2 / 2010 Material von anonym

Ich bin eine Täterin

Von anonym


Ich bin 37 Jahre alt, normalerweise friedlich bis ins Knochenmark. Ich habe etwas getan, das einem anderen schmerzvoll geschadet hat. Es blieb ungeahndet – aber Scham und Schuldgefühle begleiten mich bis heute.

Als frisch examinierte Krankenschwester war ich auf einer Station für onkologische Patient/innen tätig. Wir waren ein junges, engagiertes Team, hatten viel Zeit für individuelle Pflege, Gespräche, sogar für Spaziergänge. Eigentlich optimale Arbeitsbedingungen. Eines Morgens musste ich einem Patienten eine Trachealkanüle einsetzen, ein kleines Metallröhrchen, das in die Luftröhre gesetzt wird, um das Atmen zu erleichtern. Ich hatte das noch nicht oft gemacht, war also unbeholfen. Minutenlang versuchte ich, drehte ein bisschen in die eine Richtung, dann in die andere, das Ding wollte nicht so wie ich. Natürlich hätte ich eine Kollegin holen können, aber ich wollte mir nicht diese Blöße geben. Also probierte ich einfach weiter, bis es irgendwann klappte. Kleinlaut frage ich den Patienten, ob es sehr schlimm gewesen sei. Seine Antwort ließ mich frösteln: „Stellen Sie sich vor, jemand steckt Ihnen minutenlang den Finger in den Mund und dreht ihn hin und her. Genau so war das.“

Was ist in diesen Minuten passiert? Habe ich den Patienten gehasst? Nein – ich habe mich gut mit ihm verstanden. Ich kam einfach mit der Krankheit und ihren Begleiterscheinungen nicht zurecht.

Bin ich ein brutaler Mensch? Normalerweise nicht. In dieser Situation war ich schlichtweg überfordert und zu stolz, meine fachliche Inkompetenz einzugestehen und Hilfe anzunehmen. Ich bin nicht wirklich brutal – auch wenn mir diese Szene zeigt, dass das Potential zu Brutalität in mir steckt. Beides finde ich wichtig zu wissen und auch anzuerkennen.

Mittlerweile weiß ich: Krankenschwester war nicht der richtige Beruf für mich. Er konfrontierte mich mit Situationen, in denen ich überfordert war und unangemessen reagiert habe. Darum habe ich den Beruf gewechselt. Damit geht es mir wesentlich besser – und sicher auch den Menschen, mit denen ich arbeite.

Name der Autorin ist der Redaktion bekannt

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang