Alle Ausgaben / 2009 Material von Sarah Kuttner

Ich bin überhaupt nicht traurig

Von Sarah Kuttner


Ich bin wirklich fasziniert vom Popstarpsychiater. Er ist abgebrüht. Er scheint ein Fan von sich zu sein. Ich bin es auch. Er ist ungewohnt hart und sehr direkt. Er packt feste an, behandelt mich grob, lässt sich nicht einlullen von mir. Ich sage ihm das. Dass ich ihn interessant, aber auch anstrengend finde.
„Glauben Sie mir, ich finde es auch anstrengend mit Ihnen. Ich bin nicht zu jedem Patienten so. Es ist enorm schwer, an Sie heranzukommen.“ Findet er. „Ich habe das Gefühl, Sie mit einem Schlagbohrer bearbeiten zu müssen, damit Sie sich öffnen. Sie sind eine Wand aus Beton. Dauernd lenken Sie ab, machen Witze, versprühen Charme.“
„Wie lautet Ihre Diagnose?“ Ich möchte Klartext.
„Ich bin noch nicht sicher, dazu haben wir nicht genug gesprochen, aber ich denke, Sie haben eine ordentliche Depression. Und ich könnte mir vorstellen, dass Sie die vielleicht schon sehr lange haben, dass sie über die Jahre vielleicht sogar chronisch geworden ist. Ihre Depression versteckt sich nämlich sehr gut. Sie haben einen fantastischen Schutzschild aufgebaut.“
Ich bin überrascht. Das wollte ich nicht hören. Ich habe keine Depression! Ich hatte vielleicht ob der Umstände eine depressive Verstimmung, aber ich bin doch nicht depressiv!
„Das glaube ich nicht“, sage ich deshalb mutig. „Ich bin überhaupt nicht traurig, ich grüble nicht viel, ich habe keine Schlafprobleme, und ich habe keinen gestörten Antrieb!“, leiere ich die typischen Symptome für eine Depression herunter.
„Frau Hermann, in der halben Stunde, die Sie jetzt hier sitzen, haben Sie dreimal angefangen zu weinen, und ich habe in dieser Zeit dreimal das Wort Depression in meinen Notizen unterstrichen!“
Als Beweis zeigt er mir die Notizen. Es stimmt. Ich habe geweint, und er hat unterstrichen.
„Und in den Momenten, in denen Sie weinen, wirken Sie ungewöhnlich traurig. Sie verströmen eine Traurigkeit, die einem die Schuhe auszieht! Wenn Ihre Depression herauskommt, dann nur für kurze Zeit, und wenn man mal nicht hinsieht, ist sie auch schon wieder weg. Sie versteckt sich. Zum Beispiel hinter Ihrer Angst.“

Textauszug aus: Mängelexemplar, © S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009

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