Ausgabe 2 / 2008 Artikel von Ulrike Wagner-Rau

Ich glaube an Gott den Vater

Überlegungen zur Gottes(an)rede

Von Ulrike Wagner-Rau


In der Eremitage in St. Petersburg ist ein berühmtes Bild von Rembrandt van Rijn zu sehen. „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“ ist eines der  letzten Werke, die der Künstler vor seinem Tod 1660 gemalt hat.

Der Heimgekehrte – abgerissen, mit fast kahlem Schädel und nur einem Schuh an den Füßen – kniet vor dem Vater, der den Oberkörper des Sohnes liebevoll an sich zieht. Vater und Sohn bilden das helle Zentrum des Bildes, in dessen Hintergrund wenige weitere dunkle Gestalten stehen: rechts der skeptisch dreinblickende ältere Bruder, vielleicht eine Magd und ein Knecht des Vaters, ganz im Dunkel weit hinten eine zweite Frau. Es könnte die Mutter sein.

Das Gleichnis aus dem 15. Kapitel des Lukasevangeliums ist nach verbreitetem Verständnis die Kerngeschichte des Glaubens an Gott den Vater: So stellt Jesus uns Gott vor Augen. So liebt uns Gott – wie dieser Vater, der den Sohn fraglos und in Liebe bei sich aufnimmt, als er zu ihm heimkehrt. Kaum jemand, der es so nicht schon zu Hause, spätestens in der Schule, im Konfirmandenunterricht vermittelt bekommen hat. Dieses Gleichnis stellt für viele christlich sozialisierte Menschen so etwas wie die Heimat ihres Glaubens dar. Wenn die Heimat in Frage gestellt wird, reagiert man leicht irritiert und ängstlich. Nicht zuletzt deshalb wird die Auseinandersetzung um die Gottesbilder rasch heftig und emotional, wenn die Rede von Gott dem Vater problematisiert wird.


In Bildern sprechen

Der Maler Rembrandt hat in seiner Bildersprache die Vaterliebe auf besondere Weise ins Bild gesetzt. Die Hände des Vaters, die auf dem Rücken des Sohnes liegen, sind grundverschieden: Die eine, aus der Sicht der BetrachterInnen die rechte, ist breit und kräftig. Es liegt nahe, sie als die Hand eines Mannes zu identifizieren. Die andere Hand ist schmal und zart, sie könnte gut zum Körper einer Frau passen. Auch der Kopf zeigt sich in einer auffälligen Spannung: Bart und schütteres Haupthaar gehören deutlich einem alten Mann, die seitliche Neigung des Kopfes und die durchsichtige Augen- und Stirnpartie hingegen sind überraschend „weiblich“, geben dem Bild eine  Vieldeutigkeit, die genauer hinschauen lässt.

KünstlerInnen haben ein waches Gespür für die Mehrschichtigkeit von Bildwelten, denn ein Kunstwerk lebt davon, dass es auf viele Weisen wahrgenommen und mit Bedeutung versehen werden kann. Wäre nur eine Sichtweise möglich, würde es schnell uninteressant. Hier haben Kunst und Religion etwas gemeinsam: Sie wollen ausdrücken und darstellen, was nicht bestimmt eingeholt werden kann. Sie kreisen um das Unsagbare, das nicht in einem Bild  aufgeht, sondern in den Zwischen- und Spannungsräumen vieler Bilder aufleuchtet. Dorothee Sölle hat geschrieben: „Man muss Gott lassen können um Gottes willen. Falls du wirklich Gott meinst, musst du den, den du schon kennst, vergessen. Weil er es sicher nicht ist.“(1) Gott, so meint dieser Satz, ist anders, als unsere Bilder von Gott es erfassen können. Gottesrede ist metaphorische Rede, denn sonst würde sie Gott verdinglichen.

Metaphorische Redeweisen übertragen Bedeutungen aus einem kulturell vertrauten Bedeutungszusammenhang in einen anderen, in dem sie zunächst fremd und auffällig erscheinen. Gerade durch diese Spannung aber erzeugen sie neuen Sinn: Wenn wir z.B. von einer Adlernase sprechen, dann wissen wir, dass es nicht um die Nase eines Adlers geht (der ja auch gar keine Nase hat), aber wir können ganz selbstverständlich in dieser – buchstäblich genommen – unsinnigen Redeweise dennoch einen Sinn erschließen, der anders nur schwer auszudrücken wäre.

Ähnlich ist es, wenn wir von Gott Vater reden: Aus der Welt der Familie übertragen wir die Vorstellung des Vaters in die Welt des Glaubens. Wir wissen, dass Gott nicht identisch ist mit den irdischen Vätern, und finden dennoch Sinn in dieser Redeweise. Allerdings: Die Welt der Familie hat sich verändert durch die Jahrtausende – und damit auch die Wirklichkeit der Väter. Die Gesellschaft, in der Jesus seine Gleichnisse erzählt hat, war patriarchal strukturiert: Der Vater, wenn er denn ein freier Mann war, war das Familienoberhaupt. Er hatte die Autorität, über alle anderen Familienmitglieder und Sklavinnen und Sklaven zu bestimmen bis dahin, dass er über Leben und Tod seiner Kinder und Sklaven verfügen konnte. In diesem gesellschaftlichen Kontext wurde das Gleichnis vom liebenden Vater mit Sicherheit anders gelesen als im 21. Jahrhundert.


Um neue Bilder ringen

Feministische Theologinnen haben seit den späten 60er Jahren die metaphorische Verbindung von Gott und Vater – und vor allem ihre Dominanz im christlichen Glauben – scharf kritisiert. Ihre Kritik ist Teil einer grundlegenden  Veränderung der Geschlechterordnung: Was Frauen und Männer unterscheidet und wie sie zueinander in Beziehung stehen, wird bis heute neu durchbuchstabiert. Nachdem die Situation der Frauen sich durch wachsende Bildung und die Möglichkeit einer zuverlässigen Geburtenkontrolle gegenüber den vorhergehenden Generationen fundamental verändert hatte, suchten die Frauen Befreiung von der Dominanz der Väter, Ehemänner und Lehrer in jeder Hinsicht. Die realen Lebensverhältnisse in der Familie und im Beruf sollten sich verändern. Das Wissen der Gesellschaft wurde mit dem gut begründeten Verdacht befragt, dass es nur Einsichten einer männlichen Lebens- und Welterfahrung repräsentiere und die Leistungen der Frauen darin verschwiegen oder vergessen worden wären. Und nicht zuletzt unterlagen christlicher Glaube und Theologie, in denen die männlich bestimmte religiöse Metaphorik auf so unübersehbare Weise beherrschend ist, der feministischen Kritik.

Wie können die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sich ändern, wenn auf der Ebene der Religion nur das Männliche repräsentiert ist? Liegt in der beständigen Rede von Gott als Vater und Herr nicht die Gefahr einer konkretistischen Verwechslung von Gott und Mann? Das ist die eine Fragestellung, die feministische Theologinnen aufwarfen. Weil sie den weiblichen Lebenszusammenhang stärken, die Lebenswelt der Frauen mit dem Transzendenten in Verbindung bringen  wollten, haben sie – in der Bibel, in ihrer eigenen religiösen Erfahrung, teilweise auch in fremden Religionen – andere Gottesbilder gesucht. Es lassen sich ja aus vielen Lebenswelten Bedeutungen übertragen, um von Gott zu sprechen und um Gott anzureden. So sind neue Redeweisen entstanden: Freundin der Menschen, Quelle des Lebens, Mutter Gott …

Eine andere Perspektive der feministischen Theologie macht aufmerksam dafür, dass die christliche Gottesrede verarmt, wenn nur wenige und nur auf die männliche Wirklichkeit bezogene Gottesbilder gebraucht werden. Durch die beständige Wiederholung – wenn z.B. im Gottesdienst Gott Vater und der Herr allgegenwärtig sind in Gebeten, Liedtexten, liturgischen Formeln, biblischen Lesungen – geht das Gespür dafür verloren, dass Gottes Wirklichkeit in diesen Bildern nicht aufgeht. In der metaphorischen Rede spielt es eine wichtige Rolle, dass wir bestimmte Wörter individuell und kulturell mit bestimmten Assoziationen verbinden. Sammelt eine Gruppe spontane Assoziationsreihen zu den Wörtern „Vater“ und „Mutter“, tauchen auch heute noch erstaunliche Unterschiede in diesen Reihen auf, in denen sich die traditionellen Rollenzuschreibungen fortsetzen: Mit den beiden Elternfiguren verbinden sich verschiedene Eigenschaften und oft getrennte Lebensbereiche. Die Spaltung der Wirklichkeit, die sich als Spaltung von männlich und weiblich in vielen Spiegelungen durch die Geschichte des Abendlandes zieht, löst sich durch die Veränderungen der gesellschaftlichen Situation in wenigen Jahrzehnten nicht auf. Immer noch reimen sich Geist, Öffentlichkeit, Wille, Unabhängigkeit, Tatkraft, Licht leichter auf das Männliche, werden Gefühl,  Körper, Einfühlungsvermögen, Abhängigkeit, Passivität, Dunkelheit schneller mit dem Weiblichen verbunden. Die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser rechnet mit einem kollektiven  Unbewussten, in dem die traditionellen Geschlechterbilder ein deutlich zäheres Leben führen, als Teile der gesellschaftlichen Realität vermuten lassen.(2) Auch wenn Männer und Frauen in vieler  Hinsicht völlig anders leben als ihre Eltern und Großeltern, tragen sie offenkundig nach wie vor kulturelle Muster in sich, die traditionell geprägt sind und sich nur langsam verändern.

Kulturelle Muster bilden sich auch in unseren Gottesvorstellungen ab. Wer immer nur den Vater anruft, blendet mit hoher Wahrscheinlichkeit große Bereiche der Wirklichkeit aus, die in der Gottesbeziehung dann nur schwer ihren Ort finden. Die Menschen in meiner Generation – ich bin 1952 geboren – und die, die älter sind als ich, wurden geprägt durch die Erfahrung der abwesenden Väter: Abwesenheit über Jahre durch Krieg und Gefangenschaft.  Abwesenheit durch intensives berufliches Engagement. Abwesenheit in der  Kinderwelt, weil Männer damals noch nicht mit ihren kleinen Kindern spielten. Emotionale Abwesenheit, weil man als Mann nicht zeigte, was man fühlte, und nicht über das sprach, was einen freute oder quälte. In Gebeten oder Predigten aus den 50er, 60er und 70er Jahren bleibt Gott – ähnlich wie die Väter in dieser Zeit – oft fern und ungreifbar und seine liebevolle Beziehung zu den Menschen eigentümlich körperlos. Auch heute klingen viele Formulierungen im Gottesdienst und in der Theologie lebensfremd und hölzern. Die Sehnsucht danach, dass Gott uns nahe kommt, dass er die Tochter als geliebtes Kind ebenso bestätigt und wertschätzt wie den Sohn, hat in der feministischen Theologie manchmal zu neuer Einseitigkeit in der Gottesrede geführt. Man muss dem nicht kritiklos gegenüberstehen. Aber die Herausforderung ist nicht wieder aus der Welt zu schaffen: Lebendige religiöse Sprechweisen müssen dem gerecht werden, dass Gott größer, weiter und vielfältiger ist, als es die  traditionell dominierende Gottesrede vom Vater und Herrn nahe legt.

Rembrandt hat es verstanden, mit seinen künstlerischen Mitteln die irritierende wie faszinierende Vieldeutigkeit Gottes in sein Bild einzuzeichnen. Allmächtig und ohnmächtig, stark und zart, unabhängig und ebenso zutiefst verbunden und damit auch abhängig von den  Kindern: In Gott haben diese paradoxen Zuschreibungen alle ihren Ort.

Sind nicht auch die neuen Väter schon vielseitiger geworden? Sie schieben die Kinderwagen und nehmen (manchmal) Elternzeit. Sie wickeln und kosen,  manche können weinen und viele würden gern sehr viel mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, als die beruflichen Zwänge es ihnen erlauben. Kann man unter diesen Bedingungen nicht auch anders von Gott, dem Vater, sprechen? Vielleicht ist es heute tatsächlich leichter, mit dem Vater auch „weibliche“ Seiten zu verbinden und dem Sprache zu geben, z. B. so: „Gott Vater, ohne dich ist es kalt auf der Welt, wärme uns im Mantel deiner Barmherzigkeit, nähre uns mit deiner Liebe, nimm uns auf, wenn wir einsam sind.“ Man könnte Gott dem Vater gewissermaßen wie Rembrandt verschiedene Hände geben in der Art und Weise, wie von ihm und zu ihm gesprochen wird. Aber wichtig ist es vor allem, dass die Metaphorik der Gottesrede überhaupt vielfältiger wird und damit Vater nicht der einzige oder wichtigste Name Gottes bleibt. Das könnte nicht zuletzt für die realen Väter eine Entlastung bedeuten und ihnen mehr Freiheit schenken, auch mütterlich, kindlich, freundschaftlich – überhaupt immer wieder anders zu sein.


Für die Arbeit in der Gruppe


Zeit: 1,5 – 2 Stunden


Material:

– Abbildung des Gemäldes „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“ von Rembrandt van Rijn (für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet)
– Moderationskarten und Pinnwand, Filzschreiber; evtl. Papier und Ölkreiden


Ablauf:

1 In zwei (oder mehr) Kleingruppen Assoziationen zum Stichwort „Vater“ bzw. „Mutter“ sammeln (pro Gruppe ein Stichwort) und auf Moderationskarten notieren

2 Die Moderationskarten an einer Pinwand sammeln und vergleichen: Welche Unterschiede und Überschneidungen werden sichtbar? Was haben die Beobachtungen zu tun mit unseren Erfahrungen von Vätern und Müttern bzw. unserem Verständnis der Geschlechterrollen?

3 Gemeinsame Betrachtung des Rembrandt-Gemäldes: Welche Beobachtungen sind in der Darstellungsweise des Vaters zu machen? Welche Gottesvorstellung des Künstlers wird darin sichtbar?

4 Welches Gottesbild ist / welche Gottesbilder sind für mich wichtig? Wie würde ich Gott darstellen? Bedenken der Frage bei leiser Musik. Austausch über die verschiedenen Gottesbilder. Wenn mehr Zeit als zwei Stunden zur Verfügung steht, können die Gottesbilder auch gemalt werden.

5 Abschluss: Jede, die mag, formuliert ein zweizeiliges Gebet, in dem Gott in der je eigenen Metaphorik angesprochen wird. (Falls das zu schwierig ist, kann die Leiterin ein Gebet sprechen, in dem Gott als Mutter, Freundin, Quelle des Lebens o.ä. adressiert wird.)


Prof. Dr. Ulrike Wagner-Rau, geb. 1952, hat nach Theologiestudium und Vikariat als Pastorin in  Bramstedt und Hamburg gearbeitet und war dann, nach Promotion und Habilitation, Studienleiterin am Prediger- und Studienseminar der Nordelbischen  Kirche. Seit 2002 ist sie Professorin für Praktische Theologie in Marburg.


Anmerkungen:

1 D. Sölle, Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, 1987, dtv 10835, S. 158.
2 Vgl. C. Rohde-Dachser, Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, 1991

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