Ausgabe 1 / 2018 Frauen in Bewegung von Andrea Blome

Ich habe mich neu erfunden

Besuch bei Renate Augstein

Von Andrea Blome

Vor drei Jahren verabschiedete sich Renate Augstein von ihrem Leben in Berlin und in der deutschen Politik und begann ein neues – in Cornwall, der südwestlichsten Ecke Englands. Besonders mutig fand sie das nicht. „Ich hatte ja keine Ängste oder inneren Widerstände zu überwinden.“ Sie erfüllte sich einen Traum.

„Ich habe es gekauft! Ich habe das Haus wirklich gekauft! Jetzt wird es wahr!“ Noch heute läuft Renate Augstein ein Schauer über den Rücken, wenn sie von dem Tag erzählt, an dem der Kauf perfekt wurde:„Sale agreed!“

Seit dem 30. März 2015 wohnt sie hier, in einem schmalen, aber hohen viktorianischen Haus in Cornwall. Genauer: „Im Städtchen Penzance, in der St. Marys Terrace, einer ruhigen Seitenstraße. Gegenüber ist ein wunderschöner Park, Morrab Gardens, ab der ersten Etage sieht man auf das Meer und auf die Hafeneinfahrt von Newlyn.“

Und so sieht ihr Leben heute aus:
Gäste empfangen, bewirten und Reisebegleiterin sein, Folk Musik machen, Flöte spielen, trommeln, Harfe lernen, in die cornische Kultur eintauchen, Straßenparaden in Kostümen feiern, im Chor singen, Glockenläuten, Gespräche über Literatur, Spaziergänge, Freundschaften pflegen, einen Reiseführer schreiben…

Es sind vor allem die Menschen, von denen Renate Augstein begeistert erzählt und deren Bilder sie zeigt, wenn sie ihr neues Leben beschreibt. Skurrile Leute, die wie sie von einer großen Liebe zu Cornwall erfüllt sind, von seiner Kultur und Geschichte, der eigen- und urtümlichen Landschaft, der allgegenwärtigen Musik und Menschen, die ihr Leben freigeistig leben, ohne auf Erlaubnisse zu warten – selbst in einer Gegend mit der höchsten Arbeitslosigkeit Englands.

1981 war Renate Augstein zum ersten Mal in Cornwall – „und ich habe mich verliebt“. In die Landschaft, in das Meer, in die Weite, das Licht, die Farben, in die Kultur. „Am Anfang war es so, dass ich am liebsten direkt ausgewandert wäre. Aber als Juristin ging das natürlich gar nicht. Und mit Schafzucht wollte ich lieber nicht anfangen. Also habe ich gedacht, wenn du mal pensioniert bist …“

Damals war sie 30, die Pensionierung in weiter Ferne. Doch der Gedanke, hier leben zu wollen, war nie ganz weg. „In jedem Urlaub war das so: Wie wäre es, hier zu leben, vielleicht ein B&B zu haben? Oder ein kleines Café? Bei allem, was ich sah, dachte ich: Das könnte ich vielleicht auch machen … Aber dann war es wieder weg.“ Und so lebte sie ihr Leben in Deutschland.

„Zuletzt fühlte ich mich wie ein Fossil“

Renate Augstein ist Menschen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Feld der Gleichstellungspolitik tummelten, ein Begriff. Als „Urgestein der deutschen Frauenpolitik“ wird sie schon mal bezeichnet. „Grässlich“, sagt die Juristin dazu, „aber irgendwie stimmt es wohl auch. Zuletzt fühlte ich mich wie ein Fossil oder ein Dinosaurier.“

Zuletzt – da war sie Leiterin der Abteilung Gleichstellung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, einer Abteilung mit 70 Mitarbeiter_innen. „Mein Ministerium“ sagt sie, wenn sie von ihrem alten Arbeitsplatz spricht. Seit Anfang der 1980er Jahre hat sie die Politik der Bundesregierungen in der Gleichstellungspolitik entscheidend mitgeprägt. „Ich habe sicher die größten Schritte im Bereich Gewalt gegen Frauen gemacht“, sagt sie.

Renate Augstein erarbeitete zahlreiche Gesetzentwürfe der Bundesregierung, so zum Schwangerschaftsabbruch, zur Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe und sexuellen Übergriffen in der Therapie, zum Gewaltschutzgesetz und zum Prostitutionsgesetz. Sie war beteiligt an der Abschaffung des Paragrafen 175 und am Gesetz zur Frauenquote in der Wirtschaft. Sie brachte Modellprojekte und Forschungsvorhaben auf den Weg, sie machte sich stark für die Frauenhäuser, Notrufe und Beratungsstellen sowie für die Gleichstellungsstellen in Kreisen und Kommunen, sie begleitete die Umsetzung der Gender Mainstreaming-Strategie der Bundesregierung. Sie blickt auf Erfolge zurück – und auch auf viele Kompromisse. „Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gehört zu den Gesetzen, wo ich am liebsten die Mutterschaft verleugne, auf das Endprodukt mit seinen vielen Kompromissen bin ich nicht stolz. Auch beim Prostitutionsgesetz blieb vieles zunächst ungeregelt.“

Sich von all dem zu verabschieden, fiel ihr zuletzt nicht mehr schwer. Die Gefahr sei groß, mit zunehmendem Alter und nach einer langen Dienstzeit „Griffe in die Geschichtskiste“ zu tun. „Ich habe in den letzten Jahren gespürt, ich muss jetzt bald gehen, sonst werde ich zur Erzählerin meiner eigenen Geschichte. Das mag manche interessieren, aber die meisten sicher nicht. Immer mehr Kolleginnen sagten mir: ‚Da war ich noch gar nicht geboren!‘ – jetzt sind sie dran. Sie werden die Arbeit anders tun, vielleicht nicht so emotional getragen und von der Frauenbewegung inspiriert wie wir früher, aber sie werden weiter an der Gleichstellung arbeiten. Ich habe erreicht, was möglich war, und blicke durchaus freundlich auf diese Zeit zurück. Manchmal hat es Jahrzehnte gedauert, Legislaturperioden. Das war eine anstrengende Zeit, und ich war davon auch müde.“

„Hier hat das Leben von mir Besitz ergriffen“

In den drei Jahren, die sie jetzt in Cornwall lebt, hat sie sich weit von der politischen Welt entfernt. „Ich schaue nicht mehr regelmäßig die Nachrichten und lese kaum Zeitung. Man kann auch nachrichtenfern leben und muss sich nicht mehr ständig aufregen.“

Es ist ein vollkommen neues Lebensgefühl für eine, die ihr ganzes Leben lang immer bestens informiert war – es von Berufs wegen einfach sein musste. „Hier in Cornwall hat das Leben von mir Besitz ergriffen, das Politische hat darin nicht mehr die Bedeutung.“ Nur manchmal habe sie ein etwas schlechtes Gewissen, wenn Freunde aus Deutschland sie nach ihrer Meinung zum Tagesgeschehen fragen und sie nicht immer weiß, worum es gerade geht. „Aber ich brauche dafür keine Erlaubnis. Das ist ein Teil, der nicht mehr sein muss.“

Was von außen betrachtet wie ein riesengroßer mutiger Schritt aussieht – alle Zelte in der Heimat abbrechen, ganz neu in einem anderen Land anfangen, sich allein auf den Weg in ein neues Leben machen – das klingt in der Erzählung von Renate Augstein fast unspektakulär. „Ich wusste irgendwann, dass ich es will“, sagt sie. „Und ich wusste, dass ich es kann.“

Strategie für den Neuanfang

Als sie im Jahr 2000 mit dem Ministerium nach Berlin umzog, war das für sie wie eine Generalprobe. „Zwar zogen viele Kolleginnen und Kollegen mit, und ich hatte auch zuvor schon viele Projekte in Berlin gemacht, aber ich wollte mir dort auch eine neue Welt erschließen und nicht nur in politischen Kreisen rumwandern.“ Sie suchte gezielt Kontakte zu kulturellen Einrichtungen, schloss sich einer Theatergruppe in Moabit an, lernte Leute kennen, die mit Politik so gar nichts
zu tun hatten, und sagt heute: „Das hat mich wunderbar geerdet.“

Und sie hatte eine Strategie für ihren nächsten Neuanfang. „In Penzance habe ich das genauso gemacht und bin sehr planvoll vorgegangen. Ich habe in die örtlichen Zeitung geschaut: Was läuft hier so? Und dann bin ich los und habe geguckt: Ist das was für mich?“

Was sie dann erlebte, war ein Schneeballeffekt: „So lernte ich meinen Chor kennen, über den Chor mit Mittelschichtsdamen kam ich in die Folk-Szene, ein buntes Völkchen aus Hippies und Barden. Noch bunter wird es dann in der Cornish Culture Association, wo das Keltische und Spirituelle gepflegt wird.“

Über jede ihrer unterschiedlichen Aktivitäten lernt sie wieder neue Kreise und Schichten kennen. Eine bunte Welt, in der es keine Rolle spielt, wer woher kommt
oder was bedeutet.

„Spiel mit. Sing! – und dann: Applaus!“

So strategisch und wohlüberlegt Renate Augstein ihren Umzug und den Neuanfang geplant hat, so sehr lässt sie sich doch überraschen von diesem neuen Leben. „Ich wusste, dass ich als unbeschriebenes Blatt komme“, sagt sie. „Kein Mensch kennt mich, kein Mensch weiß, was ich vorher gemacht habe. Kein Mensch politisiert groß mit mir.“ Dadurch, dass die Engländer grundsätzlich sehr zurückhaltend seien, könne das auch ziemlich lange so bleiben.

Wie sich das anfühlt, wie gerade diese Haltung ihr Leben bereichert, das wusste sie allerdings vorher nicht. „Ich konnte mich hier sozusagen neu erfinden. Das ist ganz anders als in Deutschland, wo ja geradezu investigativ nachgefragt wird, wenn Menschen einander begegnen, die sich nicht kennen. Das macht man hier nicht – man spricht übers Wetter. Wie gefällt es Ihnen hier? Wie gefallen Ihnen die Leute hier?“

Sie erlebt eine große Offenheit, ein tiefes Interesse, für alle eine Tür offen zu haben. Die soziale Gemeinschaft ist wichtig, Community Building, alle sollen mitmachen. Sie schildert, wie sie in die Raffidy Dumitz Folk Band  aufgenommen wurde und das Tambourin schlagen durfte. Inzwischen ist sie bei den Flöten angelangt – dass sie ihre alte Barockflöte aus Jugendzeiten beim Umzug eingepackt hatte, erwies sich als Glücksfall.

Eine ebenso große Offenheit erlebte sie, als sie zum Dawn Chorus kam und die Chorleiterin sie nicht nach ihrer Stimmlage fragte, sondern: Singst du eher tief, mittel oder hoch? „Es hätte ja sein können, dass ich die Begriffe Sopran oder Alt nicht kenne. Engländer tun alles, um dich nicht zu beschämen. Jeder soll dabei sein können, du musst dich nicht beweisen. Du musst nicht perfekt sein, kannst auch mal den Liedtext vergessen oder dich in der Melodie verhauen. Spiel mit. Sing! und dann: Applaus fürs Mittun!“

Dabei sein – auf der Straße in schrillen Kostümen, mit einem ausgeprägten Hang zur Hässlichkeit – das macht Renate Augstein, die im Rheinland mit dem Karneval aufgewachsen ist, eine unbändige Freude. Ihre Halskrause aus einem Kindertutu mit einer Lichterkette trägt sie mit fröhlichem Stolz. Sie ergreift jede Chance, um Neues zu entdecken, neuen Leidenschaften zu folgen. So lernt sie Harfe spielen und das Glockenläuten. Sie erinnert sich, wie sie schon früh das Läuten der englischen Kirchen liebte, nicht wissend, dass hinter jeder Glocke ein Mensch steht. Noch sei sie blutige Anfängerin im Kreise derer, die sich wöchentlich zum Üben und zum Läuten treffen, aber sie ist schon so weit geschult, dass sie in allen Kirchen Englands anfragen und mitläuten darf. Inspector Barnaby lässt grüßen…

In Penzance ist Renate Augstein längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Bekannt ist sie als „die Deutsche, die mitmacht und mithilft“ – und immer viele Gäste hat. Denn das ist aktuell eine ihrer liebsten Rollen: Gastgeberin sein und Menschen den Ort zeigen, in den sie sich verliebt hat.

„Ich werde nie satt von diesem Blau“

Warum es sich lohnt nach Cornwall zu kommen? Und warum sich die meisten tatsächlich verlieben? „Wir haben diese faszinierende Urlandschaft mit Feldanlagen und Siedlungen noch aus der Eisenzeit, wollte man einen Film über diese Zeit drehen, man müsste nichts verändern“, beginnt sie ihre Hymne auf die Wahlheimat. „Wir haben die dichteste Ansammlung prähistorischer Überreste – Steine mit Löchern, Steinkreise, Monolithe, alte Gräber, unterirdische Gänge und Räume, von denen man nicht weiß, wofür sie genutzt wurden.

Dann diese Wahnsinnsküste, dieses blaue blaue blaue Meer – ich werde nie satt von diesem Blau. Für diese Farben und dieses Licht ist Cornwall so berühmt, und darum gab es hier so viele Maler_innenkolonien. Das subtropische Klima, tolle Gärten, wir haben in Penzance einen wundervollen Skulpturen-Garten. Die Bergbaugeschichte mit ihren Industriedenkmälern, den alten Minen, deren Stollen zum großen Teil unter dem Meer verliefen. Der faszinierende Küstenwanderweg. Dann Galerien über Galerien, Studios, Museen, Kunst. Wir haben in Penzance eine wunderbare alte Bibliothek – allein schon der Geruch der alten Bücher! – die Morrab Library. Dort inmitten der alten Bücher zu sitzen und aufs Meer zu schauen … Dann die Feste, das Keltische und Musik Musik Musik – Folk Music jeden Tag in einem anderen Pub, wenn man will.“

Mit jedem Gast, bei jedem Besuch teilt sie ihre Begeisterung. Sie nimmt sie  mit zu den Proben der Band oder zum Chor, zum Writers‘ Cafe oder Speakeasy, in die Kirche zum Glockenläuten …

„Ich höre nicht eher auf, bis sie sich in Cornwall verlieben“, sagt sie lachend. „Und das ist noch immer geglückt.“

Und so erlebt sie als Gastgeberin in Cornwall noch etwas Überraschendes, was sie nicht erwartet hatte: Aus der ursprünglichen Idee, vielleicht ein kleines Bed & Breakfast zu gründen, wurde ein Haus, in dem sie alte Freundschaften pflegt und neue gründet. „Mein ganzes Berufsleben hatte ich keine Zeit, um meine Freundschaften intensiv zu pflegen. Als ich mich in Berlin verabschiedete, haben wir gesagt ‚Auf Wiedersehn in Cornwall‘, aber mir war nicht klar, ob etwas und was daraus wird. Das Haus war noch nicht fertig renoviert, da meldeten sich schon die ersten an.“ Heute kommen Freundinnen und Freunde, ehemalige Kolleginnen, Kollegen und sogar Ministerinnen. Eine Woche oder zwei – mit Zeit für Land, Leute und füreinander.

„Da so viele kommen und auch wiederkommen, habe ich den ursprünglichen Plan mit dem professionellen B&B aufgegeben und bin nur für Freunde, Freundinnen und gute Bekannte da. Das gibt eine ganz neue Intensität. Alte Freundschaften, zum Beispiel aus Schulzeiten, werden wieder aufgefrischt, Bekannte werden zu Freundinnen und Freunden, das ist etwas sehr Besonderes!“ Und dann wird nachvollziehbar, warum sie auf die Frage, was sie in Deutschland zurückgelassen habe, antwortet: „Nichts – außer meinen Beruf und vielleicht meine ‚Bedeutung‘ –aber meine Freunde und Freundinnen und auch meine Familie kommen ja her, von ihnen habe ich hier mehr als je zuvor.“

„Es ist einfach, ein neues Leben zu beginnen“

Was ihre Gäste beim Besuch in Cornwall auch entdecken: Dass es möglich ist, sich Träume zu erfüllen. Dass es nicht schwer ist, etwas einfach zu machen. „Es war ja durchaus riskant, den Plan auszuwandern so lange aufzuschieben“, sagt Renate Augstein. „Es kann ja immer mal was dazwischen kommen.“ Aber es sei nicht verkehrt, Träume zu haben – und sie zu bewahren.

Nach fünf Jahren will Renate Augstein eine erste Bilanz ziehen, entscheiden, wie es weitergeht. Ob das Freund_innen-Konzept mit ihrem Haus so fortgesetzt werden kann. Wie sie ihr Leben in Cornwall weiter gestalten will. Es gibt einen Plan B, sagt sie. „Sollte ich gesundheitliche Probleme bekommen, dann werde ich wieder in Deutschland leben. Die englische Regierung fährt das Gesundheitssystem gerade an die Wand. Vielleicht vergesse ich auch mein Englisch, wenn ich dement werde …“ Vielleicht sei irgendwann ein neuer Schritt notwendig.

„Ich weiß, dass ich wieder zurück kann. Das wäre keine Niederlage. Ich weiß jetzt: Es ist einfach, ein neues Leben zu beginnen.“

Renate Augstein (*1950) ist Juristin und war seit 1981 Mitarbeiterin im Bundesministerium für Gleichstellung, zuletzt als Leiterin der Abteilung Gleichstellung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin. Ihre Arbeitsschwterpunkte waren insbesondere Gewalt gegen Frauen und Gender Mainstreaming. Sie brachte zahlreiche Projekte, Forschungsvorhaben und Gesetze auf den Weg. Seit März 2015 ist sie im Ruhestand und lebt in Cornwall/England.

Andrea Blome hat Sozialwissenschaften, Theologie und Niederländisch studiert und war Leiterin der Arbeits- und Forschungsstelle Feministische Theologie an der Universität Münster. 2016/17 hat sie vier Ausgaben der ahzw als Redakteurin betreut. Sie arbeitet mit einem eigenen Redaktionsbüro als Journalistin und Moderatorin. Mehr unter www.andrea-blome.de.

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