Ausgabe 2 / 2017 Frauen in Bewegung von Andrea Blome

„Ich hasse das Wort Integration“

Die Grafikerin und Autorin Luna Al-Mousli

Von Andrea Blome

„14 Jahre meines Lebens verbrachte ich in einer der ältesten Städte der Welt – in Damaskus. In 44 Geschichten aus meiner Kindheit erinnere ich mich an Orte, die nicht mehr existieren, und an Menschen, die nicht mehr sind, wo sie einmal waren.“

„Eine Träne. Ein Lächeln“ heißt das Büchlein von Luna Al-Mousli. Es ist ein Buch mit Erinnerungen an ihre Kindheit in Damaskus. Erinnerungen an den Sommer und den Garten des Groß­vaters, Stockschläge in der Schule, Melonen im Pool, von Amme Samiha geflochtene Zöpfe, politische Parolen, die Gebete der Großmutter, den Kronleuchter im Wohnzimmer … All das erzählt Luna Al-Mousli in winzig kleinen Geschichten und Zeichnungen in arabischer und deutscher Sprache. Und so kann man das Buch in beide Richtungen lesen, die Zeichnungen bergen so oder kopfüber lauter Entdeckungen.
„Mein Buch gibt es nur zweisprachig“, hatte Luna Al-Mousli dem Verlag gesagt, der sich für die Veröffentlichung ihrer Abschlussarbeit an der Universität für Angewandte Kunst in Wien inte­ressierte. Und so ist das zweisprachige Büchlein zugleich ein Spiegel ihrer po­litischen Haltung in der Debatte um Flucht und Integration. „Wenn ihr wollt, dass die Leute erfolgreich sind, dann müsst ihr beide Sprachen, beide Kulturen, das ganze Paket akzeptieren und respektieren, auch wenn man nicht immer alles versteht“, mit dieser Botschaft arbeitet Luna Al-Mousli. Nicht nur als Grafikerin und Autorin, sondern vor allem in der Bildungsarbeit mit zugewanderten und geflüchteten Jugendlichen in Wien. Sie initiierte das Projekt TANMU, ein Mentoring-Projekt mit Lernhilfen für junge Geflüchtete, sie unterstützt als ehemalige Stipendiatin des START-Stipendiums junge begabte Migrantinnen und Migranten, sie unterrichtet Kritische Partizipation und Kreativität am Jugend-College in Wien, wo Jugendliche unterrichtet werden, die nicht mehr schulpflichtig sind.

„Warum bist du so weiß?“
Luna Al-Mousli kennt das Gefühl, neu zu sein, fremd, unfreiwillig in ein Land gespült, das sie sich nicht ausgesucht hat. „Wir sind nicht aus Syrien geflohen“, betont sie, wenn sie die Geschichte ihres Umzugs von Damaskus nach Wien vor 13 Jahren erzählt. Die Eltern ihrer Mutter lebten bereits in Österreich, ihre Mutter war hier aufgewachsen. Als die Existenz der Familie in Damaskus gefährdet war, weil das Regime Grundstücke, die zum Unternehmen des Vaters gehörten, beanspruchte, da beschloss die Familie, das Land zu verlassen. „Meine Mutter hat dies sicher auch mit Blick auf das Bildungssystem in Österreich getan“, sagt Luna im Rückblick. Sie selbst war 14 Jahre alt, als sie gemeinsam mit den Eltern und zwei Geschwistern in Wien ankam – die Kinder in der Erwartung, nur einige Wochen auf Urlaub zu sein. „Das Kind in mir hat meiner Mutter nicht verziehen, dass wir zu Hause nicht wirklich Abschied nehmen konnten.“
Damals sprach in Österreich kaum jemand über Syrien. Luna beantwortete so absurde Fragen wie „Warum bist du so weiß? Du kommst doch aus Afrika.“ Heute muss sie nicht mehr erklären, wo Syrien liegt. „Es ist nicht mehr wie früher. Heute wissen die Menschen mehr über Syrien oder den Irak. Jetzt kommen andere Fragen.“ Mit ihrer Lebens- und Alltagserfahrung aus Syrien und Österreich erlebt sie sich immer wieder in der Rolle der Vermittlerin und „Übersetzerin“. „Ich kann mit Neuankömmlingen sprechen und sie stärken. Ich kann erklären, dass sie auch in Syrien lesen und schreiben lernen und nicht nur Wüste und Kamele kennen, ich kann erklären, dass sie vor dem Krieg ein normales Leben lebten mit Computern und Musik, dass es auch im Krieg Alltag gibt.“ Aus eigener Er­fahrung weiß sie: „Man sehnt sich am meisten nach ganz normalen Dingen, wenn man irgendwo neu ist, nach Freundschaft und Kontakt, dass jemand Tee mit einem trinkt – wenn auch schweigend. Man muss sich nicht immer hinsetzen und miteinander arbeiten und Deutsch lernen, es muss nicht alles mit so einer Anstrengung verbunden sein.“ Dass Gastfreundschaft in Syrien ganz anders gelebt wird als in Westeuropa, das erlebt Luna bis heute als großen Unterschied. „Es hat Jahre gedauert, bis ich eingeladen wurde. Das wäre in Syrien ganz anders.“
„Die Wohnung war immer voll“, schreibt sie in der letzten Episode ihres Büchleins. „Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich alleine zuhause bin.“

„Wie viel ich erinnere …“
Luna Al-Mousli hat Jahre gebraucht, um ihre beiden Identitäten – die syrische und die österreichische miteinander verbinden zu können. „Anfangs ist es mir selbst schwer gefallen, ‚beides' zu akzeptieren. Jetzt liebe ich es.“ Als sie zum Abschluss ihres Grafik-Studiums ein Thema suchte, an dem sie ein Semester lang arbeiten könnte, da waren es die Erinnerungen an das Zuhause in Damaskus, dem sie so näher kommen wollte.
„Ich dachte, dass ich jemanden suchen muss, der meine Geschichte aufschreibt“, sagt Luna über ihr Projekt. „Ich war davon überzeugt, dass ich zum Schreiben keine Begabung habe.“ Als der Professor für Sprachkunst an der Universität von ihren Texten begeistert war, sie stilistisch und theoretisch einordnete, da begann sie selbst Gefallen an ihrem eigenen Stil zu finden. „Ich hatte immer gedacht, dass Geschichten lang sein müssen“, lacht sie. „Und dann sagt der Professor, dass gerade die Kürze der Texte ihren Zauber ausmacht.“ Jetzt, da die Texte veröffentlicht sind, sieht sie es selbst, wenn auch „überwältigt und überrascht“. In der dritten Auflage hat der Verlag das kleine Buch inzwischen gedruckt. Seit seinem Erscheinen gab es eine enorme und begeisterte Presseresonanz.
„Was mich bei dem Projekt faszinierte, das war, wie viel ich doch erinnern konnte“, sagt Luna über die Arbeit an den Texten und Bildern. „Es gab Tage, da dachte ich, ich erinnere nichts. Und dann wecken plötzlich einzelne Sätze oder Gerüche intensive Erinnerungen.  Das war auch ein schmerzhafter Prozess, auch weil mir bewusst wurde, wie viel nicht mehr machbar ist. Der Krieg hat die Stadt verändert. Er hat das Leben dort verändert. Und auch ich bin nicht mehr das naive Kind von damals.“
2010 war Luna zum letzten Mal in Damaskus. „Wir hatten so große Hoffnungen in den Arabischen Frühling“, sagt sie über die Zeit der Demonstrationen in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern. „Wir dachten, jetzt geht es auch in Syrien los. Dass Assad so brutal sein würde, damit habe ich nicht gerechnet.“ Noch immer leben Familienmitglieder in der umkämpften Stadt. „Gäbe es einen legalen Weg, würden sie sich in Sicherheit bringen“, sagt Luna. „Aber eine Flucht ist einfach zu gefährlich. Es ist so verständlich, dass viele Männer allein kommen und hoffen, dass sie Frauen und Kinder über die Familienzusammenführung nachkommen lassen können.“

„Mein Ort ist das Dazwischen“
Nachrichten schaut Luna schon länger nicht mehr. „Der Konflikt ist so manipulativ – es geht nicht um die Menschen. Auf die Informationen, die kommen, habe ich keinen Einfluss. Ich setze mich dem nicht mehr aus und tue stattdessen das, was in meinem Umfeld möglich ist, und was in meiner Macht steht.“ Die Arbeit mit neu angekommenen Flücht­lingen macht ihr Hoffnung. „Ich kann mit denen arbeiten, die das größte Recht darauf haben, das beste Leben zu haben, sich weiterzubilden, zu stärken. Eines Tages wird es die Möglichkeit geben, zurückzugehen und Syrien wieder aufzubauen. Sie sollen in die Lage versetzt werden, das System zu ändern. Ich versuche, ihnen eine sehr gute Freundin zu sein.“
2016 hat sie mit dem Stipendienprogramm START und Marie Christine Gollner Schmid das Projekt „Wir sind hier“ realisiert, das junge Menschen an Orten porträtiert, die für sie eine besondere Bedeutung haben. So sind 45 Geschichten von jungen Migrantinnen und Migranten aus Wien entstanden. Nach ihrem eigenen Lieblingsort in der Stadt gefragt, sagt Luna: „Ich habe hier keinen Lieblingsort. Mein Ort ist das Dazwischen. Ich bin nicht ganz hier und ich bin nicht ganz dort.“ Diese Freiheit, sich nicht für das eine oder ­andere entscheiden zu müssen, die wünscht sie sich auch in der Integra­tionsdebatte. „Ich hasse das Wort Integration“, sagt sie, „der Fokus liegt so sehr auf der Anpassung und lässt den Neuankömm­lingen so wenig Raum für die guten Werte, die sie mitbringen.
Integration bedeutet für mich, dass ich eine Art und Weise gefunden habe, das Deutsche und das Arabische zu behalten. Das erfordert Mut: Sich selbst treu zu bleiben und nicht von anderen lenken zu lassen.“

Andrea Blome, Journalistin und Moderatorin in Münster und zurzeit in Vertretung Redakteurin der ahzw.

Mehr über Luna Al-Mouslis Arbeit: www.luniverse.xyz
Luna Al-Mousli
Eine Träne. Ein Lächeln.
Meine Kindheit in Damaskus
Weissbooks, Frankfurt/Main 2016, € 12,99

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