Ausgabe 2 / 2019 Frauen in Bewegung von Bettina Röder

„Ich möchte auch gesegnet sein.“

Zu Besuch bei den Klarissen in Bautzen

Von Bettina Röder

Ich möchte auch gesegnet sein: Das sagen Menschen, die gar keine Christ*innen sind, zu Schwester Maria Clara. Im Klarissenkloster der sächsischen Stadt Bautzen betet sie stellvertretend für sie alle. Hier treffe ich sie, an einem Ort, dessen geheimnisvolle Kraft die offenen Tore sind.

Mit weit ausgebreiteten Armen steht die zierliche Äbtissin in ihrer braunen Kutte in der Klosterkirche. Ihre blauen Augen hinter der runden Brille leuchten, sie wandern an den Altar zu der Christusfigur des ebenso eigenwilligen wie berühmten Künstlers Friedrich Press. Auch hier im Kloster am Rande der sächsischen Stadt Bautzen hat er seine Spuren hinterlassen. Tiefrote Klinkersteine, die den Christus darstellen, erinnern an ein großes Kreuz. Seine ausgebreiteten Arme, lacht Schwester Maria Clara, erinnern sie sogar an eine Autobahn. Dann wird sie ernst. Wenn sie hier mit den Schwestern des Klosters bete, gehe ihr dieses Bild einer Straße durch den Kopf und die Überzeugung: „Ihr hier im Kloster seid nicht für euch allein da, sondern auch für die da draußen.“

„Die da draußen“, das sind die Menschen in der schmuck restaurierten mittelalterlichen Stadt Bautzen, in der die Straßenschilder deutsche und sorbische Namen tragen.

Es sind aber auch die Menschen hier in Ostdeutschland. 90 Prozent in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern fühlen sich keiner Religion zugehörig. In Sachsen sieht es nur wenig anders aus – „eine weltweit einmalige Situation“ für den Religionswissenschaftler Andreas Finke. Wenn hier in Bautzen Menschen auf der Straße gefragt werden, ob sie Christ oder Atheistin sind, lautet zumeist die Antwort: „Ich bin gar nichts, ich bin ganz normal.“ Schwester Maria Clara gefällt das. „Bist du ein Pinguin?“, haben sie einmal junge Leute auf der Straße gefragt, als sie sie in der braunen Kutte mit dem schwarz-weißen Kopftuch sahen. „Hast du schon mal so einen großen Pinguin gesehen?“, hat sie lachend entgegnet. Um dann mit den jungen Menschen in ein tiefes, unvoreingenommenes Gespräch zum Thema Religion und Gott zu kommen. Und wieder war ein gravierender Ost-West-Unterschied deutlich geworden: Viele Menschen im Osten gehörten nie einer Kirche an, schon ihre Eltern und Großeltern sind ausgetreten. Folglich reiben sie sich auch nicht an ihr.

Stellvertretend für sie alle beten hier im Kloster St. Clara die Schwestern, sieben sind es zurzeit.

Da geht es aber auch um die Geflüchteten im Mittelmeer, die Menschen in den Kriegen in Syrien und dem Libanon. Es geht um die Vergessenen, die Erniedrigten und Beladenen dieser Welt. „Klarissen von der Ewigen Anbetung“ nennen sie sich. „Weil die Anbetung Tag und Nacht unsere Hauptaufgabe ist“, sagt Schwester Maria Clara. „So, wie jeder Politiker oder Betriebschef einen Stellvertreter hat, mit dem er Sorgen und Lasten teilt, der für ihn da ist, so gibt es das auch, geistlich für jemanden einzustehen.“ Das passiere im Gebet. Und da gehe es neben dem Bitten vor allem auch um den Dank. Das ist den Klarissen besonders wichtig:
„Stellvertretend für alle die da draußen“, sagt Schwester Maria Clara. Woher aber nehmen die Nonnen die Gewissheit, was die Menschen, die ja keine Christ*innen sind, bewegt, was ihre Sorgen und Nöte sind, wofür sie dankbar sein sollten? Die Begegnung mit Schwester Maria Clara Faltermaier, der Äbtissin des Klosters, die 2000 aus dem Westen herkam, gibt nicht nur eine unterhaltsame, sondern auch spannende Antwort. Eine Antwort, die nicht aus theologischen Theorien, sondern mitten aus dem Leben kommt.

Wir sitzen in ihrem Besprechungsraum. Sie hat eine Kerze angezündet. „Ein Licht braucht man.“ Das hat sie verinnerlicht. Wie alt ist diese Frau, die noch so jugendlich wirkt, eigentlich? So alt wie Angela Merkel sei sie, Jahrgang 1954, sagt Schwester Maria Clara. Wie so oft lacht sie dabei. Hinter ihr die großen Gemälde des Heiligen Franz und der Klara, der Schutzheiligen des Klosters. Die Bilder hat zur Gründung 1926 die sächsische Prinzessin Mathilde von Sachsen gemalt. Neben dem Stundengebet geht es den Klarissen, wie sie sich nach ihrer Schutzheiligen nennen, auch um das einfache Leben. „Vorsehung“ nennt Schwester Maria Clara das: Sie kaufen nichts. Sie leben von dem, was in den Geschäften der Stadt übriggeblieben ist.

Am Sonnabend, kurz vor Ladenschluss, geht es dann zum Bäcker und zum Supermarkt. „Wenn Sie hier einfach etwas mitnehmen, dann müssen Sie auch zum Ausgleich Ihren Segen dalassen“, hatte da ein Geschäftsmann zu Schwester Maria Clara gesagt.

Zu ihrer Verwunderung meinte er das ganz ernst. Und als sie ihn gesegnet hatte, stellte sich die Verkäuferin neben ihn: „Ich möchte auch gesegnet sein.“ Und Maria Clara hat sie gesegnet. Ihr gefällt es, dass die Menschen, die nie mit Kirche oder Religion etwas zu tun hatten, das ernst und dankbar annehmen. Wie auch der Bruder einer jungen Frau, die sie getauft hatte. „Geh mal nach Bautzen zu Schwester Clara“, hatte sie ihm gesagt, als er, spiel- und alkoholsüchtig, nicht mehr ein noch aus wusste. Da hat sie mit ihm gesessen, und er hat sein Leben auf den Tisch gelegt und ernste Fragen nach Gott gestellt. Ob seine Liebe auch ihm gelte. Das sei sicher so, hat sie ihm entgegnet. In der festen Überzeugung, dass darum auch das stellvertretende Gebet für ihn so wichtig ist. „Solche Menschen sind mir die allerliebsten“, sagt Schwester Maria Clara. Doch geht das, hier stellvertretend zu beten für die, die das gar nicht können? „Nur, wenn ich glaube: Gott will das Heil aller Menschen und bittet uns um Mitarbeit, dann hat das Beten Sinn“, sagt sie. „Gebet ist eine Wirklichkeit, die – so glauben wir – etwas wirkt. Weil wir alle Leib Christi sind.“

So richtig ahnen konnte sie nicht, was hier im Kloster in der Lausitz auf sie zukam. Bis sie nach Bautzen kam, war sie noch nie im Osten gewesen.

Die Arzttochter ist zusammen mit ihrer Schwester in einer katholischen Familie im schwäbischen Neuhausen auf den Fildern, einem 6000-Seelen-Ort am Neckar, aufgewachsen. Von da aus hat sie das Gymnasium St. Agnes der Franziskanerinnen
in Stuttgart besucht. Zwei der Ordensschwestern hatte die begeisterte Schülerin auch gleich in ihr Herz geschlossen. Ihr Weltbild brach allerdings an einem Samstag in der letzten Unterrichtstunde zusammen: als die eine Ordensschwester, die aufräumen musste, noch während des Unterrichts in die Klasse schaute und versuchte, den Papierkorb unter dem Waschbecken hervorzuziehen, und die andere Ordensschwester, Biologielehrerin, ob der Störung Zeter und Mordio schrie – und plötzlich der Papierkorb aus dem Klassenzimmer flog. „Und mit ihm flog auch mein ganzes Weltbild über die guten und immer freundlichen Ordensschwestern aus dem Raum“, lacht Schwester Maria Clara.

Wenn sie über ihren eigenen Weg zur Nonne spricht, schwingen viele Geheimnisse mit. „Gott kann durch Träume sprechen“, ist sie überzeugt. Sie hadert aber auch mit Gott, baut in Entscheidungen Hürden ein und sagt auch schon mal gern „Gott ist verrückt.“ So war das von Anfang an. Als sie als Zwölfjährige in ihrem Zimmer auf den Versen sitzend meditierte und plötzlich so viel Wärme und Liebe empfand. „Du kannst mich haben mit Haut und Haar, wenn ich aus dem Elternhaus bin“, hat sie gelobt. Ihre Eltern fielen aus allen Wolken. Doch bis sie ins Kloster ging, zunächst zu den Franziskanerinnen, vergingen noch gut elf Jahre. Da war sie 23 und hatte bereits ein Theologiestudium in München und Tübingen und eine Freundschaft zu einem Mann hinter sich.

Doch wer meint, mit dem Leben im Orden sei ein geradliniger Weg eröffnet, irrt. Auch bei Schwester Maria Clara gab es viele Umwege, Hürden, vor allem aber immer wieder das Hadern mit ihrem Gott.

Als Franziskanerin kam sie ausgerechnet in jenen Stuttgarter Schulkonvent, wo ihr Weltbild von der guten Nonne zusammen mit dem Papierkorb aus dem Klassenzimmer geflogen war. Später machte sie Jugendarbeit, ging für ein Jahr nach Assisi an ein Haus für deutsche Kinder und Jugendliche. Zurück im Franziskanerinnen-Kloster Sießen bei Bad Saulgau baute sie zehn Jahre lang eine Gebetsgemeinschaft auf. „Das war schon so etwas wie ein Klarissenleben: schweigen und beten“, sagt sie im Rückblick. Doch dann zog es ihr den Boden unter den Füßen weg – als die Entscheidung kam, dass die Schwestern ausgewechselt werden sollten. Ein Werk, nach zehn Jahren einfach zu Ende? Wieder kamen die Umwege, das Zaudern. Und die Träume. Denen folgend, meldete sie sich bei Bischof Joachim Reinelt vom Bistum Dresden-Meißen, der sie auch prompt ins Kloster in Bautzen einlud. Ob sie sich auch etwas mit den Klarissen vorstellen könnte, hatte er sie gefragt. Die Schwestern dort waren alt geworden, und er wünschte sich, dass die Anbetung im Bautzner Kloster weitergeht. Im Jahr 2000 fuhr sie mit einer brasilianischen Schwester hin, schaute sich zwei Wochen um und blieb. Sie wurde Klarisse, weckte mit anderen die Gebetsgemeinschaft zu neuem Leben. Und immer mit Kontakt zur Welt: im Gespräch mit dem Freundeskreis des Klosters oder im Gästehaus für Besucher*innen von nah und fern. Auch das regelmäßige Treffen von jungen Frauen gehört dazu. Sie beten das Stundengebet, tauschen sich über Lebensentwürfe aus. Sie alle eint die Frage: Auf welchem Weg will Gott mich haben?

Schwester Maria Clara steht in der kleinen Grotte mit dem San Damiano Kreuz. Eine Ikonenmalerin aus Österreich, die hier zu Gast war, hat es für das Kloster gemalt: das Kreuz aus der gleichnamigen Grotte in. Assisi, vor dem die Heilige Klara 46 Jahre lang gebetet hat.

Es ist halb so groß wie das Original. Natürlich stellte sich die Frage nach einem würdigen Ort. Kito Hendrich, Handwerker und Hausmeister, hat das keine Ruhe gelassen. „Dabei gehörte er gar nicht zur Kirche.“ Seine Idee war, einen Abstellraum auf dem Klostergelände für das San Damiano-Kreuz umzubauen. Der musste ausgestaltet werden, aber bitte nicht mit Steinen aus dem Baumarkt! Also wurden, der Tradition des Bettel-ordens folgend, aus aller Welt Steine erbeten. Mit beachtlichem Erfolg: In drei Jahren wurden Steine aus 60 Ländern in sechs Erdteilen gesammelt: von Afghanistan bis Hiroshima, von der Berliner Mauer bis nach Sibirien. Sie alle zusammen, sagt Schwester Maria Clara dankbar und ein wenig stolz, sind ein Symbol für alle Religionen und Kulturen, die unter dem Kreuz in Frieden vereint sind.

Neben seinem Beruf hat Kito Hendrich die farbigen Steine in neunwöchiger Arbeit hier kunstvoll eingebaut, den Abstellraum in eine Grotte verwandelt: mit einem Altartisch, einem Mosaik-Fußboden, Wandschmuck. „Tag und Nacht hat er dafür gearbeitet.“ 2010 wurde die Grotte eingeweiht, 200 Menschen kamen. Einige Zeit später, da hatte er auch noch den Klostergarten mitgestaltet, ging er zu Schwester Maria Clara, um sie „um etwas Großes“ zu bitten. Er wollte getauft werden. Seine Frau Marita stand neben ihm; bald darauf hatte sie den gleichen Wunsch. Am Eingang der Grotte haben auch Kinder ihre Wünsche und Gebetsanliegen aufgeschrieben. Mareike wünscht sich, dass nicht so viele Tiere getötet werden, Ellen, dass „alle gesund bleiben“, und Edwin, dass nie wieder Krieg ist und alle Kinder zur Schule gehen können. „Für unser Gebet gut zu wissen, was Kinder bewegt.“

Auch der 2006 gepflanzte Birnbaum der Heiligen Klara aus dem Klarissenkloster in Brixen – mit einem Stammbaum, der auf das Jahr 1237 zurückgeht – zählt zu den Kostbarkeiten des Klosters.

Wie auch der vor wenigen Jahren entstandene Garten, der dem Sonnengesang des Heiligen Franziskus gewidmet ist: Bunte Blumen wiegen sich im Sommerwind, eine Feuerstelle lädt zum Meditieren ein, ein Brunnen spendet frisches Wasser. Eine Oase für den Klimaschutz. Was für eine aktuelle Botschaft! Menschen kommen, meditieren, beten hier – wie auch die Klarissen, die sich hinter der Mauer versammeln, die an den Garten grenzt.

Als wir das Kloster verlassen, ist das Tor zum Eingang weit geöffnet. Schwester Maria Clara hat es aufgemacht. Glocken laden zur Abendandacht. Die Schwestern beten in der Kirche. Jede und jeder ist willkommen.

Bettina Röder hat Kunsterziehung, Kunstgeschichte und Deutsch studiert. Danach hat sie als Lehrerin, Redakteurin und Journalistin gearbeitet, zuletzt als verantwortliche Redakteurin im Berliner Büro der Zeitschrift Publik Forum.

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