Alle Ausgaben / 2005 Artikel von Hilke Klüver

Ich verlasse dich nicht

Von der Herausforderung der Jahreslosung für Gemeinden

Von Hilke Klüver


Gottes Zusage an Josua: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht“ nehmen wir persönlich als Zuspruch und Versprechen Gottes gern mit auf unseren Wegen durch das Jahr 2006. Immer jemanden an der Seite zu haben, nie verlassen zu werden, das gibt Sicherheit und stärkt das Vertrauen und das eigene Selbstwertgefühl. Denn die Worte der Jahreslosung vermitteln die Überzeugung: Ich bin Gott so wichtig, dass er mich nicht fallen lässt und sich nicht von mir distanziert. Und das ist an keine Bedingung geknüpft. Es ist Gottes Geschenk für mich. Ich muss es nur für mich in Anspruch nehmen.


In diesem Beitrag soll die Jahreslosung aus Josua 1 aber noch einmal unter einem ganz bestimmten Aspekt betrachtet werden. Wir fragen: Wie können wir in der christlichen Gemeinde diese Zusage für andere Menschen erfahrbar, spürbar machen? Wie können andere Menschen an uns und unserem Verhalten merken, dass wir jemandem vertrauen, der uns den Rücken stärkt für unseren Alltag? Wie können wir anderen in der Gemeinde vermitteln, dass für sie Gottes Zusage ebenso gilt wie für uns? Wie können die Menschen ein wenig mehr Sicherheit und Selbstvertrauen gewinnen, deren Not nicht sofort nach außen sichtbar ist? Was ist z. B. mit denen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind? Wie gehen wir mit der Mutter um, deren Kind Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist, den die Nachbarin verursacht hat? Wie begegnen wir der Mutter und wie der Nachbarin? Was ist mit der Frau, die am Leben mit ihrem alkoholabhängigen Mann verzweifelt? Wie verhalten wir uns, wenn am Arbeitsplatz wieder einmal alle Kolleginnen in der Kaffeepause über eine Mitarbeiterin herziehen? Oder, oder…

Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben bestimmt noch mehr Beispiele zur Hand, durch die Menschen zu Opfern, aber auch zu Tätern und Täterinnen geworden sind. Und ich will auch die in den Blick nehmen, die durch ihre Worte andere verletzen und ihnen Leid zufügen. Denn auch durch die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen, kann Gewalt ausgeübt werden. Dies geschieht häufig unbewusst, aber es geschieht. Wie können wir den Zuspruch der Jahreslosung weitergeben, wenn wir diejenigen in den Blick nehmen, die Opfer von Gewalt geworden sind? Wie kann die allen Menschen gemachte Zusage auch unseren Umgang mit den Tätern und Täterinnen beeinflussen?

Was Opfer hören

Als ich diese Fragen in einer kleinen Gruppe von Frauen stellte, waren wir ganz schnell in einer heftigen Diskussion. Die Frauen hatten nämlich die von mir als Zuspruch verstandenen Worte der Jahreslosung mit ganz anderen Ohren gehört. Für sie war schnell klar: Opfer von Gewalt nehmen diesen Vers aus dem Josuabuch auf ganz andere Weise persönlich und beziehen ihn auf ihre Lebenssituation. Sie fühlen sich bestärkt in ihrer Verhaltensweise. Trotz Tränen, Kummer und Sorgen soll möglichst alles beim Alten bleiben. Bestimmte Gewohnheiten aufzugeben oder sogar das gewohnte Umfeld zu verlassen, kommt für sie nicht in Frage. Frauen, die geschlagen und gequält werden, verlassen ihre Männer nicht und lassen sie nicht fallen. Das aber wäre nötig, um ihre Situation zu verändern, um dem Kreislauf von Gewalt und deren stiller Duldung entgehen zu können. Loslassen können, auf Distanz gehen, aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen, das sind die nötigen Schritte für Veränderungen. Also genau das Gegenteil von dem, was die Jahreslosung sagen will. Betroffene Frauen müssen lernen, nicht immer zu sagen: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht, denn irgendwie kann ich es ja noch aushalten.“ Sie müssen vielmehr bestärkt und unterstützt werden, wenn sie für sich (und oft auch für ihre Kinder) andere Wege gehen und z.B. in ein Frauenhaus ziehen oder bei Verwandten einen sicheren Ort zum Wohnen finden. Ja, für sie müssen die Worte der Jahrslosung zunächst “ gegen den Strich gebürstet“ werden. Erst dann können sie wahrnehmen und aufnehmen, dass andere Menschen sie nicht fallen lassen und trotz ihrer schrecklichen Lebenssituation zu ihnen halten.

Soweit die Meinung der Frauen aus der Gesprächsrunde, die ihr Augenmerk ausschließlich auf die Opfer von Gewalt legten. Ich betone das, weil es wichtig ist, diesen Aspekt bei der Auseinandersetzung mit der Jahreslosung nicht aus den Augen zu verlieren. Die anderen Frauen haben mir geholfen, im Blick auf die besondere Thematik von Opfern und Tätern nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen zu wollen.
Um Betroffene schon bei diesem ersten Schritt nicht allein zu lassen, ist es für sie oftmals unumgänglich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dafür stehen heute in jeder Stadt Sozialarbeiterinnen, Suchtberater und Psychologinnen zur Verfügung. Die Jugendämter oder die Gesundheitsämter können darüber informieren. Häufig liegen entsprechende Adressenlisten auch in den Diakonischen Werken bereit oder können beim Pastor, bei der Pastorin abgerufen werden. Ich halte es für wichtig, dass dieser erste Schritt („Heraus aus der unerträglichen Situation!“) von Fachleuten begleitet wird, weil damit z. B. häufig auch rechtliche Fragestellungen verbunden sind. Hinzu kommt, dass die Menschen in eine psychische Krise geraten, die von geschultem Personal begleitet werden muss.

Was wir tun können

Was aber können diejenigen tun, die sich vielleicht zunächst durch einen Vortrag o.ä. in die Problematik von Opfern und Tätern und Täterinnen eingearbeitet haben? Einzelpersonen oder Frauenkreise, die gerne den Inhalt der Jahreslosung auch an diese Menschen weitergeben wollen, aber keine sogenannten Fachleute sind? Jemanden nicht fallen zu lassen oder nicht zu verlasen, kann heißen: Ich stehe neben dir. Ich höre dir zu. Ich verurteile dich nicht, egal, was dir angetan wurde oder was du selbst getan hast. Ich bin an deiner Seite.

Wie kann es gelingen, einer betroffenen Frau in einem Gespräch diese Haltung zu vermitteln? Zeigen müsste es sich an der Art und Weise, wie andere Frauen mit ihr sprechen. Da stellen sich schnell Fragen: Wird es möglich sein, einmal keine Ratschläge zu erteilen, obwohl wir darin sehr geübt sind? Wie werden unsere Wertmaßstäbe vom Zusammenleben zwischen Menschen (Mann und Frau) in das Gespräch einfließen? Werden sie hilfreich sein? Welche Reaktionen ruft es hervor, wenn die Gesprächspartnerin – zu Recht – wütend wird? Solche und ähnliche Fragen können eine abschreckende Wirkung haben, wenn wir uns auf ein Gespräch mit von Gewalt betroffenen Personen einlassen. Aber das müssen sie nicht.

Es gibt Wege, die es möglich machen, den Berichten von Frauen über ihre Erfahrungen mit Gewalt und Erniedrigung (diesen Personenkreis habe ich an dieser Stelle im Blick!) zuzuhören und sie mit ihrem Schicksal anzunehmen. Wir können ihnen Stärke geben, die sie für ihre Konfliktbewältigung brauchen. Wenn wir wollen, dass sie unsere Annahme, unseren Respekt und unsere Hilfe erfahren, dann müssen wir sozusagen ganz bei ihnen sein. Und dabei helfen noch so gut gemeinte Ratschläge nicht weiter. Einmal von sich selbst und den eigenen Erfahrungen abzusehen wird aber nötig sein, wenn wir anderen Menschen helfen wollen.
Leichter wird uns das fallen, wenn wir ein wenig mehr über uns selbst wissen. Deshalb schlage ich für die Gruppenarbeit eine Übung vor, durch die Frauen erleben können, wie es ist, wenn ein anderer Mensch sie stärkt. Gerade für Frauen scheint mir das wichtig zu sein. Neigen sie doch dazu, in Gesprächen über die eigene Person an erster Stelle ihre Defizite und das, was sie nicht so gut können, zu benennen. Diese Denkmuster gilt es zu durchbrechen. Das mag ungewohnt sein, denn „Nicht das Dunkle in uns macht uns Angst, sondern das Licht“ (Nelson Mandela).

Wenn sich aber eine Gruppe darauf einlässt, werden die Teilnehmerinnen positive Erfahrungen mit sich und den anderen Gruppenmitgliedern machen. Und diese wiederum können helfen, in Gesprächen ganz beim Gegenüber zu sein und so zum Ausdruck zu bringen: Ich verlasse dich nicht. Ich bin bei dir.

Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel: Den Frauen soll Mut gemacht werden, sich ihre eigenen Fähigkeiten vor Augen zu führen und dabei zu erleben, wie gut es tut, von anderen Menschen wertgeschätzt zu werden. Diese Wertschätzung äußert sich z.B. in positiven Formulierungen und Sätzen, die die eigenen Stärken und Fähigkeiten aufzeigen. (Baustein 1)

Will sich eine Gruppe auch mit den Täterinnen (eventuell der Nachbarin, die den Unfall verursachte) auseinandersetzen, wird durch Baustein 2 erprobt, einmal keine Bewertungen einer anderen Person und ihres Verhaltens zu machen. Die dadurch gemachten Erfahrungen – vermutlich müssen sie immer neu gemacht werden – sind Schritte auf dem Weg zu einer neuen Art der Kommunikation mit anderen Menschen. Diese kann sich im Alltag bewähren, aber auch dann, wenn wir Menschen, die es in ihrer augenblick-
lichen Lebenssituation schwer haben, sagen wollen: Ich stehe an deiner Seite. Ich verlasse dich nicht.

Material: Postkarten mit den unterschiedlichsten Bildern, Papier für Wandzeitung, Stifte, vorbereitete Arbeitszettel;
Die Arbeitszettel können AbonnentInnen der ahzw unter www.ahzw.de / Service / zum Herunterladen als Kopiervorlage ausdrucken.

Baustein 1

In der Raummitte sind die Postkarten auf dem Fußboden ausgelegt. Jede Teilnehmerin sucht sich eine Karte aus, die sie besonders anspricht. Dann werden alle Frauen gebeten, im Raum herumzugehen und dabei die Karte für die anderen sichtbar sein zu lassen.
Im Verlauf des Umhergehens sucht sich jede Teilnehmerin eine Gesprächspartnerin. Mit dieser führt sie ein 15-minütiges Gespräch. Ausgangpunkt des Gesprächs ist das Bild auf der Karte. Jede Teilnehmerin soll ihrem Gegenüber erzählen, aus welchem Grund sie diese Karte gewählt hat, was ihr daran besonders gefiel, was sie mit dem Bild verbindet. Dabei versuchen die Zuhörenden, ihr „drittes Ohr“, das sog. „Ressourcenohr“ zu öffnen. Dieses Ohr nimmt wahr, woran die Partnerin Freude hat, was sie gut kann, welche Stärken sie hat. Zwei dieser Stärken werden zum Abschluss des Gesprächs auf die Karte geschrieben.
Mit Hilfe dieser Stichworte (Stärken) stellen die Gesprächspartnerinnen sich vor der Gesamtgruppe gegenseitig vor.
Es schließt sich eine Reflexionsrunde an, deren Ergebnisse an der Wandzeitung festgehalten werden. Zum Gespräch können folgende Fragen ermutigen: Was hat mir gut getan? Welche Gefühle hat das Aufzeigen meiner Stärken in mir ausgelöst? Gibt es die Möglichkeit, diese Erfahrung auch in anderen Lebensbereichen machen zu können?

Baustein 2

Im Raum wird ein innerer und ein äußerer Stuhlkreis mit den Sitzflächen zueinander gebildet. Die Frauen nehmen Platz und betrachten diejenige, die ihnen direkt gegenüber sitzt.
Dann sagt Person A, was sie bei Person B sieht. Zum Beispiel: „Du trägst eine Brille. Du hast dunkle Haare. Dein Pullover ist grün.“ Lediglich Beobachtungen sollen genannt werden, die keine Wertung enthalten.
Anschließend sagt Person B, was sie bei Person A sieht und welche Schlüsse (Bewertungen) sie daraus zieht. Zum Beispiel: „Ich sehe Ringe unter deinen Augen und schließe daraus, dass du heute nacht zu wenig geschlafen hast.“ Person A hat daraufhin die Möglichkeit zu sagen, ob diese Feststellung aus ihrer Sicht richtig ist oder nicht.
Alle Teilnehmenden setzen sich auf den Stuhl rechts von sich und machen die Übung mit einer anderen Partnerin. Dies kann beliebig oft wiederholt werden.

Baustein 3

Um die Unterscheidung zwischen dem Beobachten (Wahrnehmen) und der Bewertung (Interpretation) auf andere Weise wahrzunehmen, kann auch ein Arbeitsblatt mit z.B. folgenden Aussagen verteilt und besprochen werden (der Zettel kann erweitert werden):
Entscheiden Sie: Wahrnehmung oder Bewertung? Wahrnehmungen mit einem X, Wertungen mit einem Y kennzeichnen und Ergebnisse vergleichen und diskutieren:
1. Diese Woche habe ich dich nicht einmal beim Sport gesehen.
Diese Woche warst du ja ganz unsportlich.
Diese Woche hast du den Sport
ausfallen lassen.
2. Du kommst immer zu spät.
Du kommst ein wenig zu spät.
Du kommst eine halbe Stunde
nach der verabredeten Zeit.
3. Der Pullover liegt hier rum.
Ich sehe hier einen Pullover
auf dem Stuhl liegen.
Der Pullover liegt schon
wieder auf dem Stuhl.
4. Dich erreicht man aber auch
sehr schlecht.
Ich habe versucht, dich heute  Vormittag um 11 und um 12 Uhr telefonisch zu erreichen, aber
es hat niemand abgenommen.
Ich habe den ganzen Vormittag versucht, dich telefonisch zu erreichen.
5. Ich habe ein Steak bestellt, das hier auf meinem Teller sind Spiegeleier.
Da haben Sie jetzt einen Fehler gemacht.
Spiegeleier kann man doch nicht mit Steaks verwechseln!
Vielleicht entdecken die Frauen gemeinsam das eine oder andere Merkmal, an dem sich (ab-) wertende Aussagen erkennen lassen? Sie liegen z.B. immer dann vor, wenn Worte wie „immer“, „schon wieder“ … auftauchen, und oft auch dann, wenn ein Satz mit „Du“ (statt „ich“) beginnt.


Hilke Klüver, geb. 1954, ist Landesjugendpfarrerin der Evangelisch-reformierten Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland) mit Sitz in Leer. Vorher war sie acht Jahre als Gemeindepfarrerin tätig. Seit 1999 ist sie zudem Präses (Superintendentin) des Synodalverbands IV der Evangelisch-reformierten Kirche. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Begleitung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Zum Weiterlesen
Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation, Eine Sprache des Lebens, Junfermann Verlag Paderborn 2004

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