Ausgabe 1 / 2016 Andacht von Freda Scott-Haarhoff und Margot Papenheim

Ihr seid doch auch Fremde gewesen

Andacht zur Besinnung auf das was zählt

Von Freda Scott-Haarhoff und Margot Papenheim

Hinweis für die Leiterin: Die Andacht leitet dazu an, sich intensiv mit der Integration von Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, auseinanderzusetzen; dazu brauchen Sie ca. anderthalb Stunden Zeit. Es können aber auch einzelne Elemente ausgewählt werden. – Die Frauen (ggf. auch Männer) sollten in einem offenen Kreis oder um einen großen Tisch oder in Tischgruppen sitzen.

Votum
Horcht auf und erhebt eure Herzen und Sinne zu Gott, denn wir halten Andacht
im Namen Gottes, Quelle des Lebens, im Namen Jesu Christi, Weg der Gerechtigkeit,
im Namen der Heiligen Geistkraft, Kraft, die uns stärkt, stützt, und tröstet, wenn wir stolpern.

Begrüßung
Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Kriegen, Terror, Hunger oder Verfolgung in ihrer Heimat. So viele wie selten zuvor suchen bei uns in Deutschland Schutz und Zukunft. Die Flüchtlinge stehen im Zentrum kontroverser politischer Diskussionen – unter Kolleginnen und Nachbarn, in Kirchengemeinden und an Stammtischen, in Medien, Parteien und Parlamenten. Ist unsere Gesellschaft stark genug, die anstehende Integrationsleistung zu bringen? „Wir schaffen das!“ hat die Bundeskanzlerin gesagt. Auf der Straße und in den sozialen Medien werden Sorgen und Ängste ebenso zum Ausdruck gebracht wie Hoffnung und Zuversicht. Viele, sehr viele rackern bis zum Umfallen, um zu helfen. Wenige, aber immer noch zu viele nutzen die Gelegenheit, ihren Hass auf alle und alles, was ihnen fremd erscheint und „anders“, herauszubrüllen. „Refugees welcome“ oder „Haut ab“ – welches Deutschland wird es sein?

„Ansässige Fremde darfst du nicht unterdrücken und schikanieren“, mahnt das zweite Buch Mose. Die meisten von uns werden denken: Das wollen wir ja auch gar nicht – aber damit ist es doch nicht getan! Woher das Wissen nehmen und die Motivation und die Zeit, etwas zu tun, damit Zusammenleben von alten und neuen Bewohnerinnen und Bewohnern gelingt? Erst einmal, sagt die Bibel, ist es wichtig, dass ihr euch erinnert: „Ihr seid doch auch Fremde in Ägypten gewesen.“ (Ex 22,20 BigS)

Ich möchte Sie (Euch) einladen, Freda kennenzulernen: eine Frau, die schon lange in Deutschland lebt. Freda kann uns nachdenklich machen, denn sie war selbst ein „Fremdling in unserem Land“. Hören wir ihr einmal zu … – von einer anderen Stimme vorlesen lassen

– Dies ist mein Land geworden
Meine Kinder haben Migrationshintergrund, denn ich stamme aus England. Wenn man mir als Schülerin gesagt hätte, ich würde mein Erwachsenenleben in Deutschland verbringen, hätte ich laut gelacht. Ich habe Französisch geliebt, Latein war ganz gut, und ich freute mich sehr auf Deutsch als dritte Fremdsprache. Welch' herbe Enttäuschung! Wie schwierig die einfachsten Sätze. Und die ganzen Silben, die endlos aneinander gereiht wurden. Die vielen Konsonanten in einem Wort. Aber dann habe ich doch Deutsch studiert. Im Praktikum musste ich nach Deutschland. Meine Deutschkenntnisse reichten schon, aber die Unsicherheiten waren groß. Man muss sich anmelden – von abmelden hatte keiner etwas gesagt; aber ohne Abmeldebestätigung keine Anmeldung. Irgendwann habe ich mich auch mit meiner ausländischen Krankenversicherung zum Arzt getraut. Man bat mich, morgens nüchtern zur Blutabnahme zu kommen. Ich wunderte mich, denn die Deutschen, die ich kannte, tranken morgens keinen Alkohol. Und natürlich hatte ich gefrühstückt …

Deutschland ist ein Land, in dem man fürchterlich viel beachten muss, was nicht einleuchtet. Und kaum einer hier kann nachvollziehen, dass „Fremdlingen“ solche Sachen nicht selbstverständlich sind – etwa mitten in der Nacht bei strömendem Regen am Bahnhof ankommen und die Freundin bleibt am roten Ampelmännchen stehen. Mittlerweile bleibe ich auch in England bei Rot stehen und wundere mich, dass Leute an mir vorbei über die Straße gehen. Bin ich also Deutsche geworden? Ich kenne mich hier nach 35 Jahren gut aus. Manches in meiner Heimat ist mir etwas fremd geworden, Entwicklungen sind an mir vorbeigegangen. Hier fühle ich mich zu 100 Prozent wohl, aber in England fühle ich mich doch etwas wohler. Geht mehr als 100 Prozent? Integriert bin ich hier. Aber wo will ich alt werden? Wo begraben? Ich habe zwei verschiedene Orte in zwei verschiedenen Ländern, die ich Zuhause nenne.

Dabei habe ich es gut, denn ich kann wählen. Ich bin freiwillig gekommen, ohne Not. Ich spreche eine sehr angesehene Fremdsprache als Muttersprache. Und trotzdem – Heimat? Es gibt Erlebnisse in England, die mich tiefer berühren als alles hier, etwa ein Gottesdienst mit den aus der Kindheit vertrauten Liedern. Ich frage meine älteren Schüler und Schülerinnen an der Berufsschule, auch Hiergeborene, was sie besonders an Deutschland finden und was an der Heimat, Kosovo, die Türkei …; meist scheue ich mich, diejenigen zu fragen, die nicht in die Heimat zurückkehren können, die Afghanen, die Syrerinnen. Vielleicht sollte ich doch fragen?

Impulse zum Austausch:
– Wo bin ich zu Hause? Was ist das für ein Gefühl, wenn ich dahin komme, wo ich geboren bin? Was vermisse ich, wenn ich nicht da bin?
– Weiß ich oder kann ich mir vorstellen, was „Entwurzelung“ bedeutet, erst recht, wenn die Heimat unfreiwillig, der Not folgend verlassen wird? – Wenn ausreichend Zeit ist, evtl. anregen, sich (in Kleingruppen mit höchstens vier Personen) über Fluchterfahrungen in der Familie oder Bekanntschaft auszutauschen

Lied: Ich singe dir mit Herz und Mund (EG 324,1+5+7)

Heimisch werden können Menschen auch in der Fremde – wenn sie willkommen sind. Und wenn sie „Einheimischen“ begegnen, die etwas von ihnen wissen wollen. Freda hat damit eine spannende Erfahrung gemacht …

Project in-case:
45 Heimatgeschichten

ist der Titel eines Mosaiks, das in Bad Oldesloe unter der Leitung von Siobhan Tarr, einer Engländerin, entstanden ist. 45 Frauen aus vielen Herkunftsländern, die alle in und um Bad Oldesloe wohnen, haben sich getroffen und etwas mitgebracht, das sie im Koffer bei sich hatten, als sie nach Deutschland kamen. Jede hat erzählt, warum sie gerade dieses Objekt ausgewählt hat. Die Objekte wurden dann fotografiert, auf Kacheln gebrannt und in drei Koffer gepackt. Viele der Frauen haben sich am Kleben der Mosaiksteine beteiligt. Drei Frauen unterschiedlicher Hautfarbe haben den Kofferträgerinnen ihr Gesicht geliehen – sie sind in der Volkshochschule zu sehen, bis sie demnächst ins neue Kulturzentrum umziehen.

Es war spannend! Es sind Frauen dabei, die gerade erst in Bad Oldesloe angekommen sind und kaum Deutsch sprechen, und Frauen wie ich, die lange hier sind. Und auch Frauen, die nur für kurze Zeit kommen, etwa als Au-Pair. So vielfältig die Geschichten, so vielfältig auch die mitgebrachten Objekte. Eine Brosche, die bei der Flucht noch an der Kleidung war – außer den Kleidern, die sie trug, hatte sie nichts dabei. Die Visitenkarte des Mannes, der umgebracht worden war. Die gemalte Geburtstagskarte, die der politisch verfolgte Vater aus seinem Versteck heraus seiner Tochter hat zukommen lassen. Mein altmodischer elektrischer Wasserkessel – damals hatte ich hierzulande keine Wasserkocher gesehen, so habe ich ihn aus meinem Rucksack geholt, den Stecker gewechselt und meinen englischen Tee genossen.

Die „Flut“ an Ausländern, die hier ankommen, besteht aus einzelnen Menschen, jeder und jede mit Erinnerungen im Gepäck. Wer diese Menschen kennenlernen möchte, könnte fragen, was sie mitgebracht haben. Könnte um einen Einblick in ihren, in seinen „Koffer“ bitten und so gewahr werden, was er, was sie auch an Gaben und Erfahrungen mitbringt.

Impuls zum Austausch:
Wenn Sie fliehen müssten – was wäre Ihnen so wichtig, dass Sie es mit auf die Flucht nehmen würden? Was verbinden Sie mit diesem Gegenstand?

Lied: Befiehl du deine Wege (EG 361,1)

Oft ist es schwer zu erkennen, welche Schätze in neu angekommenen Flüchtlingen stecken, weil sie noch nicht Deutsch verstehen und sprechen. Und doch – hören wir noch einmal Freda zu.

Schätze suchen

Neulich saß ich einem Mann aus Syrien gegenüber. Ich fragte nach seinem Beruf. Er versuchte zu erklären. „Etwas mit Wasser“, soviel habe ich verstanden. Dann zeigte er mir Bilder; er scheint ein begabter Landschaftsarchitekt zu sein. Wie könnte er seine Fähigkeiten hier zur Geltung bringen? Schwierig. Auf Anhieb jedenfalls fällt mir nichts dazu ein.
Leichter geht es mit den jungen Menschen, die noch zur Schule gehen dürfen. Vor drei Jahren kam die erste Gruppe älterer Teenager, die meisten ohne Familien hier gelandet, als DaZ-Klasse in die Berufsschule: „Deutsch als Zweitsprache“. Nach einem Jahr würden sie den Hauptschulabschluss haben. Aber wäre es nicht möglich, die Besten der Klasse direkt in die Berufsfachschule aufzunehmen, wo sie innerhalb von zwei Jahren den mittleren Bildungsabschluss machen könnten? Es gab viel Skepsis, ob sie es – auch mit Förderstunden, die ­ihnen zustanden – schaffen könnten. Ich konnte es nicht versprechen, habe aber aufgrund der eigenen Erfahrungen im Deutschstudium vorhergesagt, dass sie anfangs überfordert sein würden, doch dann würden ihre Deutschkenntnisse sich in Schüben verbessern. Zwei der vier Afghanen hatten schon recht gute Englischkenntnisse, zwei brauchten Nachhilfe in Englisch. Sie haben die Klasse mit ihren vielen Fragen bereichert. Und wir hatten auch einiges zu lachen bei Missverständnissen. Nach einem halben Jahr war klar: Sie schaffen es. Einer ging nach einem Jahr auf eine Lehrstelle, die anderen haben so gut abgeschlossen, dass sie im Gymnasium weiter lernen werden; einer von ihnen war Klassenbester. Derjenige, bei dem ich anfangs befürchtete, er würde es nicht schaffen, hat mit 1,7 abgeschlossen und versteht die englischen Texte auch für mich überraschend gut. Alle sind sich bewusst, welche Chancen sie hier bekommen haben und sind sehr dankbar. Sie möchten von ihren Talenten etwas in die Gesellschaft zurück­geben. Welch ein Schatz.

Impulse zum Austausch:
– Was fällt Ihnen spontan zu dieser Geschichte ein? – Äußerungen sammeln, nicht diskutieren
– Haben Sie selbst Geschichten gelungener Integration erlebt oder davon gehört?

Gebet
Gott,
Du bist mit deinem Volk durch Meer und Wüste gezogen, hast seine Flucht in ein neues Leben begleitet.
Sei schützend vor allen, die heute fliehen.
Sei stärkend bei allen, die heute helfen.
Sei lenkend mit allen, die um die richtigen politischen Entscheidungen ringen.
Nehmen wir alle unsere Bitten mit in unser gemeinsames Gebet.

Vaterunser

Lied: Von guten Mächten wunderbar geborgen (EG 65,7)

Segen
Gott segne und behüte euch.
Gottes Antlitz hülle euch in Licht, und er sei euch zugeneigt.
Gottes Antlitz wende sich euch zu, und sie schenke euch heilsame Ruhe.

Freda Scott-Haarhoff, geb. 1955, wohnt und arbeitet als Englischlehrerin in Bad Oldesloe. Margot Papenheim, geb. 1956, ist Redakteurin der ahzw.

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