Alle Ausgaben / 2017 Andacht von Kerstin Mann

Im Haus der Gnade

Andacht zur Heilung am Teich Bethesda

Von Kerstin Mann

Von Jesus von Nazareth werden viele Heilungsgeschichten erzählt, die be­­rühren und zum Nachsinnen anregen.

Damals wie heute wird die Heilung von schwerkranken Menschen oft als Wunder erlebt und verstanden, wenn niemand damit rechnete, oder wenn Betroffene so sehr von einer Krankheit eingenommen waren, dass es ihnen unvorstellbar erschien, wieder in ein gesundes Leben zurückzufinden.

Votum:
Ich begrüße Sie (Euch) zu dieser Andacht. Wir feiern sie
im Namen Gottes, der mich schützt und bewahrt vom Mutterleib an;
im Namen Jesu Christi, der gekommen ist zu heilen, was verwundet ist;
im Namen der Heiligen Geistkraft, die Trösterin in Bedrängnis und Trübsal.

Lied:
Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen (EG 320,1-4)

Psalm 73
Beten wir im Wechsel:

Trotz allem bleibe ich immer bei dir.
Du hast meine rechte Hand ergriffen.

Nach deinem Plan leitest du mich
und nimmst mich danach in Würde an.

Wen habe ich im Himmel?
Neben dir gefällt mir nichts auf der Erde.

Auch wenn mein Körper und Herz vergehen,
mein Herzensfels, mein Erbteil bleibt Gott für immer.

Was aber mich betrifft: Gottes Nähe ist gut für mich.
Ich fand meine Zuflucht beim Heiligen, dem Herrscher über allem:
Ich will erzählen von allen deinen Taten.

Ps 73,23-26.28 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache – oder in der Lutherübersetzung sprechen: EG 734

Was hilft heilen?

Die meisten von uns wissen aus guter Erfahrung, was ihnen beim Heilen hilft. Vermutlich hat jede von uns ihre besonderen Techniken, auf die sie zurückgreift, wenn sie krank wird: schlafen oder spazieren gehen, erprobte Hausmittel, besondere Rezepte, bestimmte Medikamente, Ärztinnen oder alternative Heiler, auf die sie schwört. Welche Einstellung herrscht da bei mir vor? Ziehe ich mich bei Krankheit eher zurück – oder will ich, dass dann jemand für mich da ist? Glaube ich, dass Gott hilft? Auf natürliche Weise, weil er mein Schöpfer ist, der heilen lässt und mir die Kraft dazu gibt? Und spielt das Beten dabei eine Rolle? Gibt es überhaupt so etwas wie Wunderheilungen?

Der Psychosomatiker Hiroshi Oda und der Krebsspezialist Herbert W. Kappauf von der Uni Heidelberg haben beschrieben, wie verschieden Menschen, die an Krebs erkrankt waren und Spontanremissionen erfuhren (circa 0,04 Prozent der Erkrankten), mit ihrer Erkrankung umgingen. Um es vorweg zu nehmen: Keine der typisierten Lebenstechniken ist ein Allheilmittel. Bei den untersuchten „Heilungswundern“ kam es vielmehr darauf an, dass die befragten Patientinnen und Patienten ihren je eigenen Weg beschritten: in „aktivem Kampf“, in „existentiellem Wandel“, in „Hinwendung an Gott“ oder in einem eher distanzierten Sich-„Beobachten“.

Die Frage stellt sich nicht nur bei einer Krebserkrankung: Vertrauen wir einfach wie selbstverständlich darauf, dass wir genesen, und nehmen wir Erkrankungen hin, weil sie zum Leben und zum Sterben dazu gehören? Oder sind wir Kämpferinnen, Kämpfer, die alle Kräfte mobilisieren und nach allen Hilfsmöglichkeiten und Unterstützungen suchen, weil wir ein Ziel haben? Sehen wir „Krankheit als Chance“ und sind motiviert, dann unser Leben zu verändern und umzukrempeln, lang gehegte Träume zu verwirklichen, Krankmachendes abzulegen und zu überwinden? Oder distanzieren wir uns von einer Erkrankung, verdrängen und versuchen, so weiter zu leben wie gewohnt?

Seelsorgerinnen und Seelsorger erleben, dass die meisten Menschen alle diese Regungen kennen und dass sie – manchmal in verwirrender Weise – die verschiedensten Gefühle und Einstellungen zu einer Erkrankung abwechselnd oder sogar gleichzeitig erleben. Da ist es entlastend und beruhigend, wenn es ein Gegenüber gibt, durch das eine Selbstklärung erfolgen kann. Vor allem aber ist es wichtig festzustellen: Es gibt nicht nur die eine, alles entscheidende Intervention. Vielmehr führt das Zusammenwirken vieler Faktoren zu einer Heilung – ebenso, wie das Überhandnehmen einer Reihe von bösen Umständen zum Ausbruch einer Erkrankung führte. Und wir sollten davon ausgehen, dass viele, meist unüberschaubare und methodisch kaum zu analysierende Wechselwirkungen zu einer Genesung und zu einem Neuen (Ganzen) führen.

Zeit für einen kurzen Austausch spontaner Gedanken – die TN bitten, jeweils nur eine Frage, einen Gedanken in die Runde zu sagen, die/der von den anderen nicht kommentiert wird

Am Teich Bethesda

In der biblischen Heilungsgeschichte am Teich Bethesda aus dem Johannesevangelium Kapitel 5, Verse 1-9 werden eine ganze Reihe dieser Aspekte angesprochen. Hören wir den Text in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache:

1Danach gab es ein jüdisches Fest, und Jesus ging hinaus nach Jerusalem. 2In Jerusalem ist am Schafstor ein Teich, der auf Hebräisch Betesda genannt wird und der fünf Säulenhallen hat. 3In ihnen lagen viele Kranke: blinde, bewegungsunfähige und verkrüppelte Menschen, die auf die Bewegung des Wassers warteten. 4Denn ein Engel Gottes stieg von Zeit zu Zeit hinab in den Teich und brachte das Wasser in Unruhe. Wer nun nach der Unruhe des Wassers zuerst hineinstieg, wurde gesund, welche Krankheit auch immer er oder sie hatte. 5Es gab dort einen Menschen, der schon 38 Jahre krank war. 6Als Jesus diesen liegen sah und erkannte, dass er schon lange Zeit krank war, sagte er ihm: „Willst du gesund werden?“ 7Der Kranke antwortete ihm: „Rabbi, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich trägt, wenn das Wasser unruhig ist; während ich aber komme, steigt jemand anderes vor mir hinein.“ 8Jesus sagt ihm: „Steh auf, hebe deine Liege hoch und geh umher!“ 9Sofort wurde der Mensch gesund und hob seine Liege hoch und ging umher. Jener Tag war ein Sabbat.

Jesus fragt einen Kranken nach seinem eigenen Willen, nach seinem Ziel. Jesus ermuntert ihn und spricht ihm zu, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dies führt zu einer Selbstheilung, einer seelischen und körperlichen Selbsthygiene (ins Deutsche übersetzen wir „gesund“, wo im griechischen Vers 6 hygies steht). Das Ganze geschieht an einem Sabbat, also an einem Tag, an dem der Kranke nicht mit einer äußeren Aktivität rechnen konnte, aber vielleicht doch mit Gott.

38 Jahre lang hat einer darauf gewartet, dass ihm jemand helfen und ihn als Ersten in das Wasser bringen würde, wenn es in Bewegung kam. Aber da war kein solcher Helfer. 38 Jahre Leben mit ständigen Enttäuschungen. Unvorstellbares Leid! Hat die Fixierung auf die Hilfe durch andere Menschen ihn vielleicht sogar in Abhängigkeit und Untätigkeit gebracht?

38 Jahre, das kommt nahe an die biblischen 40 Tage Versuchung in der Wüste, 40 Tage nach der Sintflut, 40 Jahre Wüstenwanderung heran. Das sind Zeiträume, die viel zu lang erscheinen, und die zu größter Geduld und Beharrlichkeit aufrufen. Aber auch Zeiträume, die es manchmal braucht, um Klärungen und tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen. Manche Menschen, die in ihrer Kindheit traumatisierende Erlebnisse hatten, erzählen davon.

Wie alt mag der Mensch wohl gewesen sein, als Jesus zu ihm kam – nach 38 Jahren auf einer Liege? Wenn er im Alter von neun Jahren erkrankt wäre, wäre er nun 47 Jahre alt. Oder war er 58 Jahre? Oder 79? Es wird nicht berichtet. Wir erfahren auch nichts Genaueres über die Art seiner Erkrankung. Wir können aber von einer Kombination von körperlicher und seelischer „Schwäche“ ausgehen. „Asthenisch“ steht im griechischen Text, das heißt übersetzt: schwach, kraftlos, matt. Und wir wissen: Leib und Seele wirken immer zusammen.

Jesus meidet den Ort mit den vielen Kranken nicht, sondern geht dort hin, sieht den einen und fragt ihn: „Willst Du gesund werden?“ Jesus hat sich nicht gescheut, an einen Ort zu gehen, der aufgeladen und überhitzt war von Verzweiflung und Wunderglauben – Bethesda: Haus der Gnade! Bis ins 19. Jahrhundert dachte man, Bethesda sei kein realer, sondern ein symbolischer Ort. Erst 1888 haben französische Archäologen begonnen, Bethesda in Jerusalem auszugraben. Daher wissen wir inzwischen, was an dieser Stelle im Lauf der Jahrtausende alles übereinander gebaut worden ist. Zur Zeit Jesu gab es zwei große Wasserbecken mit vier Säulenhallen1 – in jeder Himmelsrichtung eine – und eine fünfte Halle, die sich auf einer 6,5 Meter dicken Mauer zwischen den beiden Becken befand. Die Bäderanlage bestand bis zum Jahr 66 n.Chr., 70 Jahre später wurde daran ein Serapis-Asklepios-Heiligtum von Kaiser Hadrian gebaut, im 5. Jahrhundert eine dreischiffige byzantinische Basilika darauf gesetzt und im 12. Jahrhundert von den Kreuzfahrern eine St. Anna Kirche daneben.

Bethesda, das muss also ein heiliger Ort gewesen sein. Ein Ort, an dem viel Leid zu sehen war – ein Ort, an dem aber auch große Freude und Dankbarkeit erlebt wurde, wie die gefundenen Votivtafeln belegen. Vielleicht in einem ähnlichen Nebeneinander wie in einem Krankenhaus und einer Kirche heute.
Der heilsame Ort, das Reinigungsmittel „Wasser“ und eine Bewegung, die durch das Göttliche hervorgerufen wurde, kamen hier zusammen. Und die Kranken – warteten. Immerzu warten: Weil man so viel Geduld aufbringen muss. Weil man herausgerissen ist aus dem Alltag und nun alles anders ist als vorher. Da gibt es Zeiten, in denen man sich hängen lässt und nicht mehr weiß, was man sich noch zutrauen kann. Und da werden viele Wünsche und Hoffnungen an die Nahestehenden, an Ärztinnen und Helfer gerichtet. Und da müssen Enttäuschungen verkraftet werden, wenn keiner kommt, der eine, der einen trägt.

Was trägt mich – dann, wenn mich keiner aufhebt und trägt? Wir Menschen gehen unterschiedlich um mit Krankheit und Schwäche. Besonders ältere Kranke sind häufig nach vielen Jahren des Schwächerwerdens an einem Scheideweg: mit Fragen und Entscheidungen konfrontiert, die verwirren und die schrecklich viel Kraft kosten. Werde ich nach der Behandlung wieder selbständig leben können? Welche Hilfe und Unterstützung werde ich noch lange, vielleicht sogar für den Rest meines Lebens brauchen? Kein Wunder, dass viele Patientinnen und Patienten am liebsten „ihr Bett nehmen“ und weglaufen würden. Möglichst schnell und möglichst weit!

Jesus sagt allerdings nicht, dass wir weglaufen sollen. Jesus fordert am Teich Bethesda auf zu spüren, was ich will und was ich selbst kann. Jesus spricht damit das Innerste an, das, was zur Selbstklärung hilft. Und wenn eine, einer dann wahrhaftig antwortet, setzt das Kräfte frei. Kräfte, die da sind: Gottes Kraft, die uns heilen lässt, Selbstheilungskräfte und Mut zur Veränderung. Da kann dann ein einziger Satz – zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen – neue Kraft spüren lassen. Kann „Wunder bewirken“. Das muss gar nichts Sensationelles sein. Manchmal ist es sogar etwas Geläufiges, Altbekanntes. Aber es ist ein Wort, das genau zutrifft. Das einen, das eine trifft, weil es eine innere Wahrheit berührt, eine besondere Einsicht, die dann eine Veränderung hervorbringt, die einem Menschen wieder Kraft und Selbstvertrauen gibt und die das Lebendige stark macht. Eine Berührung des Göttlichen. Eine Berührung von Gottes Geistkraft, die heilt. Die dadurch, dass wir verstanden werden, uns selbst verstehen und uns in Einklang bringt mit der Heilkraft des Heiligen Geistes.

Dieselbe göttliche Geistkraft, der Geist Jesu führt uns dazu, dass wir uns unvoreingenommen begegnen. Dass wir die andere, den anderen nicht festlegen auf „ein alter Mann“, oder „eine verrückte Frau“, auf „eine undankbare Tochter“ oder „ein selbstsüchtiger Sohn“. Der Geist Jesu bringt uns dazu, dass wir dahinter schauen: hinter die Schwäche, hinter die Krankheit und die Verweigerung, hinter die Unfähigkeit und die Angst. Dass wir aufeinander schauen, wie wir von Gott angeschaut werden; dass wir schauen auf den Mann, den Gott liebt, auf die Frau, der Gott ihr Leben gegeben hat. Dass wir mit Interesse und Neugier schauen – auf die ganz besondere und einmalige Frau, die es nicht noch einmal geben wird. Auf den Mann mit seiner besonderen Geschichte und mit seiner besonderen Bestimmung.

Von diesem „Haus der Gnade“ wurde immer weiter erzählt. Auf seinen Fundamenten weiter gebaut. Krankenhäuser wurden nach ihm benannt. Und auch der Mensch „ging weiter“ und erkannte immer neue Wunder unseres Lebens und unseres Gottes.

Gebet:
Gott, du bist voller Gnade! Es ist ein Wunder, dass wir immer wieder neu beginnen und den Mut zum Leben finden.

Gott, du bist voller Liebe! Es ist ein Wunder, dass unsere Verletzungen heilen und du uns versöhnst.

Gott, du bist voller Segen! Es ist ein Wunder, dass du uns von unserer Mühsal erlöst und uns aufnimmst in deinem Frieden.

Lied:
Herr, du hast mich angerührt (EG 383)

Kerstin Mann, geb. 1958, ist Pfarrerin und arbeitet als Klinikseelsorgerin in Wiesbaden

Anmerkung
1) „Säulenhalle“, griech.: stoa: – Als Stoa wird eines der wirkungsmächtigsten philosophischen Lehr­gebäude in der abendländischen Geschichte bezeichnet. Der Name (griechisch στοὰ ποικίλη – „bemalte Vorhalle“) geht auf eine Säulenhalle auf der Agora, dem Marktplatz von Athen, zurück, in der Zenon von Kition um 300 v.Chr. seine Lehrtätigkeit aufnahm. Ein besonderes Merkmal der stoischen Philosophie ist die kosmologische, auf Ganzheitlichkeit der Welterfassung gerichtete Betrachtungsweise, aus der sich ein in allen Naturerscheinungen und natürlichen Zusammenhängen waltendes universelles Prinzip ergibt. Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe nach Weisheit strebt. – https://de.wikipedia.org/wiki/Stoa

Weiterlesen
Werner H. Ritter, Michaela Albrecht (Hgg.): Zeichen und Wunder, Vandenhoeck & Ruprecht 2007

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