Ausgabe 2 / 2021 Material von Cornelia Radeke-Engst

In Beziehung leben

Fundstück

Von Cornelia Radeke-Engst

Das Nagelkreuz aus Coventry entwickelte sich während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem international anerkannten Symbol für die christliche Botschaft der Versöhnung. Trotz der Zerstörung und der Verzweiflung nach dem Krieg verkörperte es eine aus dem Glauben heraus entstandene Botschaft für Vergebung und Hoffnung in einer Welt des Hasses.1

Am 14. November 1940 legten Deutsche Bomber Coventry in Schutt und Asche. Die Zerstörung war so schlimm, dass deutsche Militärs fortan „coventrieren“ synonym für zerstören gebrauchten.

Am Morgen nach der Bombennacht ließ der damalige Dompropst Richard Howard an die Apsis der zerstörten Kathedrale St. Michael mit Kohle schreiben „Father forgive“ (Vater vergib). Das löste Proteste bei der leidtragenden Bevölkerung aus: Sie wollte, dass der Bitte „them“ angefügt würde – also ihnen, den Deutschen, solle Gott vergeben. Der Dompropst blieb jedoch dabei und sagte, sie und die Deutschen stünden in einem Schuldzusammenhang. Und er ließ aus drei großen Zimmermannsnägeln der gestürzten Dachbalken ein Kreuz bauen.

Ein Nagel für die Vertikale, Zeichen unserer Beziehung zu Gott und zwei Nägel, deren Spitzen in der Horizontalen auf einander zulaufen, Zeichen der Beziehung von Mensch zu Mensch.

So wurde aus den Überresten von Tod und Zerstörung ein Zeichen der Versöhnung, der Vergebung und des Neuanfangs – ohne, dass man dem Probst zustimmen muss.

Dieses Nagelkreuz von Coventry gab und gibt man an Versöhnungsinitiativen in der ganzen Welt. Zuerst nach Deutschland an Orte, die von englischen Bombern zerstört wurden: 1949 nach Kiel, später nach Dresden, Hamburg, Berlin… 1974 wurde die Nagelkreuzgemeinschaft gegründet, ein Netzwerk für Frieden und Gerechtigkeit. Heute befindet sich ein solches Kreuz in der Nagelkreuzkapelle Garnisonkirche Potsdam und an 160 Orten der Welt.

Es ist Zeichen für die durch Christus geschehene Versöhnung und dafür, dass auch unter uns Menschen Versöhnung und Beziehung möglich ist. Das Nagelkreuzgebet nimmt die Bruchstellen der Welt auf. Die wiederkehrende Bitte „Vater vergib“ wird heute weltweit gebetet – sie steht auch in unseren Gesangbüchern.

Aber zur Initiative der Internationalen Nagelkreuzgemeinschaft gehört mehr: Die Lebensregel von Coventry setzt auf Versöhnung statt Hass. Grundlage dafür ist der Wunsch, zu Gott und zu den Mitmenschen in Beziehung zu kommen. Christsein beschränkt sich nicht auf ethisches Handeln, sondern ist im Kern Beziehungspflege zu Gott und zu Menschen.

Die drei Prioritäten zeigen diese Beziehungspflege in den Visionen von Coventry und der weltweiten Gemeinschaft

1  mit Blick auf die Vergangenheit:
Das Heilen der Wunden der Geschichte
(Healing the wounds of history);

2  mit Blick auf die Gegenwart:
Mit Unterschiedenheit leben und?
Vielfalt feiern (Learning to live with
difference and celebrate diversity)


3  und für die Zukunft:
Eine Kultur des Friedens schaffen
(Building a culture of peace).

Für die Gestaltung unseres Lebens in der Gegenwart ist die zweite Priorität entscheidend. Sie fordert uns heraus, Unterschiedenheit wahrzunehmen und als Bereicherung zu erleben. Zunächst in unserer Gesellschaft, die in unterschiedliche und oft unversöhnliche Meinungen auseinander zu fallen droht. Dort braucht es Gespräch und In-Beziehung-Bleiben. Darüber hinaus aber in allen Menschenbegegnungen. Wir leben in einem globalen Dorf. „Die Menschen, die anders sind, leben nicht mehr tausende von Kilometern weit weg, sondern leben in unseren globalen Städten in derselben Straße wie wir.“2 Wir wertschätzen Menschen mit je eigener Geschichte, Kultur und Religion, was Menschen bereichert und Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit gewährleistet.

Die Frage nach den Eigenschaften einer wirklich pluralen, gerechten und alle Menschen einschließenden Gesellschaft, in der Menschen in Beziehungen zu einander leben, ist entscheidend für Frieden und Stabilität. Wenn wir nicht in diesen Beziehungen leben, ist unser Glaube irrelevant. Das gilt auch für die Gestaltung der Beziehungen von Religionen: Growing together in hope – Gemeinsam in Hoffnung wachsen. Unter diesem Aufruf können Religionen als Hoffnungsträgerinnen und Friedensbringerinnen im Miteinander auf unserer Erde wirken.

Anmerkungen
1 https://nagelkreuz.org/versoehnung/hoffnung
2 Ebd.

Cornelia Radeke-Engst, geb. 1956 arbeitet in einer landeskirchlichen Pfarrstelle in der Nagelkreuzkapelle am Ort der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam. Zuvor war sie Dompfarrerin in Brandenburg/Havel und Landespfarrerin für Frauen- und Familienarbeit der EKBO. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn, vier Stiefkinder und neun Enkelkinder.

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