Jeden Tag essen und schmecken wir. Wir erleben direkt und unmittelbar, wie etwas schmeckt: süß, sauer, versalzen, bitter, scharf, manchmal auch merk-würdig. Es gibt keinen Filter und keine Vorwarnung: Wenn ein Gericht besonders scharf ist, kommt das überraschend. Wenn wir das Essen sehen, erwarten wir auch oft einen bestimmten Geschmack und sind enttäuscht, wenn es ganz anders ist.
Unser Körper braucht auch das Spektrum des Bitteren: Es regt den Appetit an und die Verdauung funktioniert besser. Wer mehr Bitteres isst, hat weniger Lust auf Süßes. Durch den Zuckerzusatz in vielen Lebensmitteln verändert sich das Geschmacksempfinden: Unsere Tochter entdeckte zum Beispiel in New York, dass es dort alle selbstverständlich finden, dass passierte Tomatensauce richtig süß schmeckt. Bitterstoffe werden aus Auberginen und Gurken weggezüchtet, aber immerhin erfreuen sich bittere Wildkräuter auf Wochenmärkten neuer Beliebtheit.
Die Johannesoffenbarung klagt das Unrecht auf der Welt an, die strukturelle Gewalt des römischen Weltreiches gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Gegen dieses Unrecht und die Missachtung der Gebote Gottes ruft dieses biblische Buch zur Umkehr auf und hofft wie viele andere apokalyptische Texte, dass die erlebte Gewalt ein Ende haben wird – dass Gott ihr ein Ende setzen und die Gerechtigkeit siegen wird. Die gewaltgetränkte Welt wird ein „spektakuläres Ende“ (Leutzsch, S. 1704) finden und neu geschaffen werden.
Im Deutschland des 21. Jahrhunderts lebend stellt sich mir die Frage, was das für uns bedeutet. Auch wenn unsere Welt voller Gewalt ist, gehöre ich nicht zu denen, die primär darunter leiden. Ich trage Mit-Schuld, auch wenn ich im kleinen Rahmen zu Gerechtigkeit beitrage.
Offb 10
8Die Stimme, die ich aus dem Himmel gehört hatte, sprach wieder mit mir: „Geh, nimm die geöffnete Buchrolle aus der Hand des Boten, der auf Meer und auf Festland steht!“ 9Ich ging hin zu dem Boten und bat ihn, mir das Buchröllchen zu geben. Er sagt mir: „Nimm und iss es! Es wird deinen Magen bitter machen, aber in deinem Mund wird es süß wie Honig sein.“
10Ich nahm das Buchröllchen aus der Hand des Boten und aß es. In meinem Mund war es wie Honig süß, und als ich es gegessen hatte, wurde mein Magen bitter.
In der Johannesoffenbarung tritt Johannes als Prophet auf, der die Welt zur Umkehr von Gewalt und Unrecht rufen soll und rufen wird – mit möglicherweise lebensbedrohlichen Konsequenzen für sich selbst. Aufgefordert wird er dazu in Offb 10, der Bibelstelle, die ich auslegen möchte. Da geht es um ein Schriftröllchen, das ein Engel dem Johannes mit der Aufforderung gibt: „Nimm und iss es (das Buchröllchen)! Es wird deinen Magen bitter machen; aber in deinem Mund wird es süß wie Honig sein.“ (Offb 10,9 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache). Dieser Satz wird im nächsten Vers beinahe wörtlich wiederholt, diesmal aus der Sicht des Propheten formuliert: „Ich nahm das Buchröllchen aus der Hand des Boten und aß es. In meinem Mund war es wie Honig süß, und als ich es gegessen hatte, wurde mein Magen bitter.“ (Offb 10,10). Damit bestätigt der Prophet, dass es genau so gekommen ist, wie es ihm gesagt wurde.
Von „Buchrolle“ zu sprechen, ist ein Anachronismus: Zur Zeit der Bibel gab es keine Bücher, sondern die Schriften wurden auf Pergament (nicht-gegerbter Tierhaut), gegerbtem Leder oder Papyrus geschrieben. Diese wurden gerollt, um sie aufzubewahren und zu transportieren. Auf eine solche Rolle passte nicht einmal ein ganzes biblisches Buch von der Länge der Evangelien.
Noch heute haben die Synagogen den „Toraschrein“, in dem die mit der Hand geschriebenen Schriftrollen aufbewahrt werden. Für die in dieser Form geschriebenen heiligen Schriften wird ein ganzer Schrank benötigt, während auf dem Altar der ChristInnen ein einziges gebundenes Buch liegt: die Bibel.
In der Johannesoffenbarung kommen zwei Schriftrollen vor (vgl. Aune, 575): die siebenfach versiegelte Rolle in Kapitel 5 und das Schriftröllchen in 10,1ff. Diese beiden Rollen sind unterschiedliche: Die große ist und bleibt versiegelt, eben ein „Buch mit sieben Siegeln“, wie es das deutsche Sprichwort sagt. Es wird erst beim Schall der letzten Posaunen und am Tag des Gerichts geöffnet und der Inhalt offen kundgetan.
Die kleine Schriftrolle in Offb 10 dagegen ist nicht mehr versiegelt, sondern das Siegel ist aufgebrochen, sie ist geöffnet und wird dem Propheten Johannes gegeben – ein Engel gibt sie mit den Worten „nimm und iss“, was an die Einsetzungsworte beim Abendmahl (Mt 26,26) erinnert.
Der Engel übergibt dem Propheten eine Nachricht Gottes, ist ein Nachrichten-Vermittler. Die Schriftrolle trägt dem Johannes auf, lautstark gegen Könige und Gewaltherrscher und alle aufzutreten, die das Unrecht beflügeln (Vers 11).
Der Engel wird als Bote beschrieben, „umhüllt mit einer Wolke, der Regenbogen auf seinem Kopf, sein Gesicht war wie die Sonne, seine Füße wie Feuersäulen“ (Offb 10,1), „der den rechten Fuß auf das Meer und den linken auf das Festland stellt“ (Offb 10,2.5. vgl. Vers 8). Damit erinnert er an die damals weit bekannte Bronze-Figur „Koloss von Rhodos“ (so Aune 556), die zur Zeit der Johannesoffenbarung zwar schon zerstört, aber noch weithin berühmt war: Sie stand wohl am Hafen von Rhodos, schaute in die Ferne und hielt eine Fackel in der Hand. Sie repräsentierte Helios, den Sonnengott, und war mit einer Höhe von 32 Metern sehr groß. Indem auf dieses Weltwunder angespielt wird, wird die Eindrücklichkeit der Erscheinung des Engels und seiner Donnerstimme verstärkt (Offb 10,3).
Der Vorgang des Schmeckens, die Geschmacksnerven der Zunge und des Mundes, war in der Antike medizinisch unbekannt, aber menschlich erfahrbar. Verschiedene Geschmacksrichtungen waren bekannt und wurden benannt. Die Zunge galt primär als Instrument des Sprechens, weniger als Ort der Geschmacks-Erkennung (siehe Jütte, 51f.).
Im Mittelmeerraum wurde Süße oft mit Honig in Beziehung gesetzt, da dieser das ganze Jahr über zum Süßen von Speisen und Getränken gesammelt werden konnte. Zucker, wie wir ihn heute kennen, war noch lange nicht bekannt. Auch die Erfahrung besser oder schlechter verdaubarer Speisen konnten Menschen an sich selbst und an anderen erfahren: Bauchkrämpfe oder Durchfall zeigten und zeigen schlechtes Essen zeitnah an.
Die Bibel spricht öfter im übertragenen Sinn vom süßen Schmecken, insbesondere von der Süße des Wortes Gottes:
In Psalm 119 heißt es über das Wort, die Weisung, die Gebote Gottes:
103 Dein Wort ist meinem Munde süßer als Honig.
104 Dein Wort macht mich klug; darum hasse ich alle falschen Wege.
105 Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.
In Psalm 19 heißt es über die Gebote und die Gerechtigkeit Gottes:
Die Rechte des HERRN sind Wahrheit, allesamt gerecht.
11 Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold, sie sind süßer als Honig und Honigseim.
Die Wahrheit, die sich aus Gottes Worten und Geboten ergibt, schmeckt den Menschen, die sie annehmen, süß.
So auch beim Propheten Ezechiel: Als dieser zum Propheten berufen wird
(Ez 2,1-3,8), bekommt er von Gott eine Schriftrolle zu essen (2,8; 3,1-3), die viele Weh- und Ach-Worte enthält (2,10): Ezechiel muss seinen Leuten lauter schreckliche Dinge prophezeien, aber als er die Rolle isst, ist sie für ihn „im Mund süß wie Honig“ (3,3). Offb 10,9 zitiert Ezechiel 3,3.
Die Süße, die denen zuteil wird, die das Wort und die Gebote Gottes in sich aufnehmen (ihren „Leib damit füllen“ Ez 3,3), wird in Psalm 119 und Ezechiel 3 auch damit verknüpft, dass dies kein süßes, sorgenfreies Leben bedeutet, sondern schwere, harte, Leiden hervorbringende Anteile enthält, die zum Teil erst durch das Aussprechen dieser Botschaft entstehen oder verschärft werden.
Im übertragenen Sinn bedeutet das Schmecken und Verdauen: Der Prophet soll die Botschaft des Schriftröllchens in sich aufnehmen, es nicht nur lesen und als fremde Botschaft weglegen, sondern es kauen und dabei spüren, wie es schmeckt, es also langsam und bewusst kauen. Es dann herunterzuschlucken bedeutet, es wahrhaft zu verarbeiten und zu verinnerlichen. Johannes soll wie Ezechiel „den Inhalt der Rolle wahrnehmen, ihn internalisieren und verarbeiten“ (Schüssler Fiorenza, 98).
In Offb 8,11 wird das Wasser bitter und viele sterben davon. Bei Ezechiel entsteht die Bitterkeit im Propheten nicht beim Essen, sondern im Rückblick auf die Begegnung mit Gott bringt ihn diese Erfahrung gänzlich durcheinander und macht ihn bitter (Ez 3,14).
In Offb 10 verweist diese Bitterkeit auf das künftige Schicksal des Johannes: Er muss „gegen“ Könige und Völker reden (Vers 11) und da wird es ihm wohl so schlecht gehen wie dem Propheten Jeremia, dem Gottes Wort zur Speise und zur Herzensfreude wurde (Jer 15,16), der aber dadurch auch zum Außenseiter und Leidenden wurde (Jer 15).
„Nimm und iss es (das Buchröllchen)! Es wird deinen Magen bitter machen; aber in deinem Mund wird es süß wie Honig sein“ – in dieser Reihenfolge formuliert es der Engel in Offb 10,9. Schon die Antwort des Johannes dreht die Reihenfolge um und vermerkt zuerst den Geschmack, dann die Wirkung im Magen.
Biologisch gesehen ist dies korrekt, denn zuerst muss gegessen werden, dann erst gelangt die Speise in den Bauch und zeigt dort Wirkung.
Die Ankündigung des Engels durchbricht diese Reihenfolge. Die Wirkung wird vorgezogen, die Folgen des Essens. Die Langzeitwirkung wird betont, dem Propheten werden keine falschen und zu optimistischen Prognosen vorgegaukelt.
Daran erinnert diese Passage der Bibel: Die Wahrheit zu essen, sie in mich aufzunehmen, wird als süß beschrieben. Es ist toll, etwas als wahr zu erkennen, das mir bislang verborgen blieb, oder eine neue Erkenntnis zu haben. Aber die Wirkung bleibt nicht nur positiv. Im Magen, beim Durcharbeiten, beim Verdauen, im Lauf der Zeit, beim Bedenken der Folgen, kann sie auch mit einem Mal bitter werden.
Die Wahrheit zu erkennen über eine Aussage, über die eigene Einschätzung eines Menschen, über mich selbst, über eine Weisung Gottes, das kann für mich selbst bitter sein – oder für andere, wenn ich es laut ausspreche.
Ich habe mich gefragt: Ist denn jede Wahrheit bitter? Trotz langem Nachdenken fiel mir keine Wahrheit ein, die für jemanden nicht auch bitter wäre: Das Stoppen der Rüstungsproduktion in Deutschland, was der Ethik Jesu entsprechen würde, wäre für die Waffenproduzenten bitter. Das Aus-dem-Haus-Gehen eines Kindes hat für Eltern oft einen bitteren Nachgeschmack, so toll die Eigenständigkeit der Kinder auch ist. Wenn eine Wahrheit neu erkannt und ausgesprochen wird, so hat sie oft auch negative, bittere Konsequenzen für eine oder einen der Beteiligten oder von ihr Betroffenen.
Den Wert der Wahrheit halte ich persönlich für ein hohes Gut, deshalb sehe ich lieber unbequemen Wahrheiten ins Gesicht, als sie zu übersehen. Deshalb bin ich bereit, diese zu schlucken und zu verarbeiten, und wenn sie noch so unbequem sein mögen. Der bittere Nachgeschmack bringt mich manchmal dazu, mein Handeln oder meine Meinung zu überdenken und zu ändern.
Die Stärke des Bildes vom Schmecken und Verdauen einer Wahrheit spricht mich an, weil sie den Prozess so deutlich macht: Es dauert eine kleine oder lange Weile, bis ein neuer Gedanke in mir Wirkung zeigt: Ich probiere ihn, schmecke an ihm, kaue ihn hin und her, bewege ihn, spucke ihn vielleicht auch aus. Und dann hat er eine Langzeitwirkung, die ich nicht bewusst steuern kann, der Gedanke wird immer wieder in mir wach gerufen, kommt mir hoch, macht auf sich aufmerksam und will weiter bedacht werden. Manch eine Wahrheit stößt mir bitter auf, denn sie fordert von mir, etwas zu ändern oder mich zu verändern.
Und so erinnert die biblische Erzählung aus der Johannesoffenbarung daran, dass eine süße Wahrheit auch bitter werden kann oder mir bitter aufstoßen kann.
– Machen Sie eine Verkostung. Probieren Sie Bitteres und Süßes (Kräuter, Brot, Honig) und sprechen Sie darüber: Was schmeckt mir gut? Woran liegt das? Gibt es Erlebnisse, die ich mit einem bestimmten Nahrungsmittel verbinde?
– Erzählen Sie einander von Ihrem Lieblingsessen: Kann ich mir eigentlich erklären, warum ich etwas besonders gern esse?
– Welche Erfahrungen habe ich mit bitteren Speisen? Die jüdische Tradition greift z.B. jedes Jahr beim Sederfest mit dem Bitterkraut die Bitterkeit der Erfahrungen des Lebens in der Sklaverei Ägyptens auf und macht sie durch den Geschmack körperlich erfahrbar, es ist eine „sinnliche Gedächtnisstütze“ (Jütte, 111). Hier können Sie auch über Feste mit solchen Gedächtnisstützen sprechen: z.B. das Osterei, freitags nur Fisch.
– Notieren Sie auf Karteikarten: Eine Botschaft, die mir süß schmeckt. Eine Botschaft, die mir bitter schmeckt. Tauschen Sie sich über das Notierte aus.
– Legen Sie „Die 10 Gebote“ als Kärtchen aus. Jede nimmt sich eines, das für sie einen süßen Beigeschmack hat. Beschreiben Sie, was das Süße daran ist. Oder auch: Das Bittere notieren und die entsprechende Frage beantworten.
– Pinnen Sie Bibelworte an. Die eine Hälfte der Gruppe sucht sich ein süßes aus, die andere Hälfte ein bitteres. Tauschen Sie sich darüber aus.
Dr. Irene Dannemann, geb. 1962, arbeitet als Gemeindepfarrerin in Bad Vilbel. Sie war Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Feministische Befreiungstheologie an der Universität Gesamthochschule Kassel, in dessen Kontext sie bei Luise Schottroff zu den „negativ bewerteten“ Frauenfiguren im Markusevangelium promoviert hat. Für die Bibel in gerechter Sprache hat sie das Markusevangelium übersetzt.
Literatur
Elisabeth Schüssler Fiorenza, Das Buch der Offenbarung. Vision einer gerechten Welt, Stuttgart 1994
Martin Leutzsch, Vorwort und Übersetzung der Johannesoffenbarung, in: Bibel in gerechter Sprache, Taschenausgabe, Gütersloh 2011, S. 1704-1722
David E. Aune, Revelation 6-16. Volume 53B of the Word Biblical Commentary, Zondervan 1998
Robbert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000
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