Ausgabe 2 / 2013 Andacht von Susanne Krahe

In der Welt haben wir Angst

Andacht zur Ermutigung

Von Susanne Krahe

Stellen Sie für die Andacht einen Stuhlkreis. Das Psalmgebet zu Beginn kann mit verteilten Stimmen vorgelesen werden.
Ps 25 (in Auswahl) in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache (BigS) ist als Kopie für alle vorbereitet. –
Kopiervorlage für AbonnentInnen unter
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Vielleicht geht es mancher von Ihnen ähnlich? Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben. Wenn ich nicht so pflichtbewusst wäre, säße ich jetzt mit einem Glas Wein oder einer Tasse Tee vor dem Fernseher und suchte mir einen guten Film von meiner digitalen Speisekarte aus, einen französischen Spielfilm ganz nach meinem persönlichen Geschmack. Ausreden fallen einer ja immer ein, um einen Termin abzusagen – momentane Überlastung, familiäre Verpflichtungen, verdorbener -Magen. Hätte ich unser heutiges Treffen geschwänzt, hätte ich bei Ihnen auf dasselbe Verständnis gehofft, mit dem ich selbst die Entschuldigungen anderer annehme: Macht ja nichts – und bis zum nächsten Mal! Unsere Treffen sind schließlich keine Pflichtveranstaltungen.

Ich bin dankbar, dass keine von uns dem Impuls, zu Hause zu bleiben, nachgegeben hat. Keiner fällt es leicht, aber wir sind bereit, uns heute mit einem Thema auseinanderzusetzen, mit dem wir alle uns lieber nicht beschäftigen möchten. Organspende. Transplantationsmedizin. Wir wünschen uns und reden uns oft genug ein, dass uns das gar nicht betrifft und wohl auch nie betreffen wird. Die Szenarien, die mit den Stichworten heraufbeschworen werden, kommen uns unwirklich und theoretisch vor, unserem Alltag gegenüber ganz fern und fremd. Aber warum wird uns dann jedes Mal so unbehaglich zumute, wenn das Thema auf einer Tagesordnung auftaucht? Fürchten wir die Konflikte, die unsere unterschied-lichen Positionen heraufbeschwören könnten? Oder wollen wir es nicht so gern mit den sprichwörtlichen zwei Seelen in unserer eigenen Brust zu tun bekommen?

Bevor wir uns auf das schwierige Thema richtig einlassen, geben wir unseren Widerständen Raum, sich vor Gott auszubreiten. Dabei hilft uns vielleicht die eine oder andere Zeile des Psalms 25.

Psalm 25
Nach dir, Adonaj, strecke ich mein Leben aus.
2Mein Gott, auf dich vertraue ich.
Lass mich nicht scheitern.
4Deine Wege, Adonaj, lass mich erkennen,
deine Pfade lass mich lernen.
5Lass mich in deiner Verlässlichkeit gehen, belehre mich.
Du bist Gott, meine Befreiung. Auf dich hoffe ich jeden Tag.
15Meine Augen lassen Adonaj nicht aus dem Blick.
Gott zieht meine Füße aus dem Netz.
16Wende dich zu mir! Neige dich mir zu!
Allein und verzweifelt bin ich!
17Die Enge meines Herzens mache weit,
aus meinen Bedrängnissen ziehe mich heraus!
18Sieh meine Verzweiflung, wie ich mich abmühe!
Hebe all meine Sünden auf!
19Sieh, wie sie mich anfeinden, so zahlreich sind sie.
Mit brutalem Hass hassen sie mich.
20Bewahre mein Leben, rette mich! Lass mich nicht scheitern!
Ja, in dir berge ich mich.
21Ohne Tadel, geradlinig – das wird mich behüten.
Ja, ich hoffe auf dich.

„In dir, Gott, berge ich mich, auf dich hoffe und vertraue ich“, heißt es in dem Psalm. Der Zusammenhang macht aus diesem Vertrauensbekenntnis fast eine Beschwörung: „Gib, Gott, dass ich mich wenigstens auf dich noch verlassen kann!“ Die Wirklichkeit der Beterin ist nämlich von Bedrohung eingefärbt, und mit ihren beschwörenden Sätzen richtet sie offensichtlich ein Bollwerk gegen die Angst auf, die immer wieder hochkommt.

Angst – das Wort hat nicht zufällig mit Enge zu tun, mit Bangigkeit, mit Bedrängnis. Ich fühle mich getrieben. Ich möchte weglaufen, aber es gibt keinen Fluchtweg. Wer Angst hat, fühlt sich ausgeliefert und allein gelassen, selbst wenn wir von vielen anderen Menschen umgeben sind.

Aber sollte sich dieses beklemmende Gefühl nicht gerade für Christinnen erledigt haben? Ich fürchte, das wäre eine Illusion. Angst ist ein Urgefühl und gehört zum Menschsein. Selbst Jesus lernte es am eigenen Leibe kennen. Kurz vor seiner Gefangennahme, im Garten Gethsemane, bettelte er seinen Gott mit klappernden Zähnen um Verschonung an. Jesus wusste genau, wovon er sprach, wenn er zu seinen Jüngerinnen und Jüngern sagte: „In der Welt habt ihr Angst.“ (Joh 16,33) Ein Leben ohne Angst gibt es nicht. Angst vor dem Sterben, Angst vor Krankheit. Angst vor Natur- und menschengemachten Katastrophen, Versagensangst, Zukunftsangst, Lebensangst. Auch vor falschen Entscheidungen fürchten wir uns und davor, dass wir ihre möglichen Folgen nicht ertragen können. Besonders, wo es um medizinische Vorgänge geht, die wir kaum noch durchschauen, wo es – wie bei der Organspende – sogar um Fragen von Leben und Tod geht, macht sich Angst breit, auch und vielleicht gerade bei gläubigen Menschen. Denn gläubige Menschen fürchten letztlich Gottes Urteil über ihre Entscheidungen.

Da hilft es wenig, wenn es offizielle Empfehlungen von kirchlicher Seite gibt, für die alles, was Organspende betrifft, völlig klar und eine ganz einfache Sache zu sein scheint. Solche Empfehlungen nähren eher den Verdacht, dass unsere Fragen und Ängste nicht ernst genommen werden. Doch wenn schon die kirchlichen Wegweiser nicht weiter führen – woran dann können wir uns orientieren? An Jesus? An der Bibel?

Mit Organspende und Transplantationsmedizin hatten weder Jesus, noch die ersten Christen je zu tun. Das ist selbst für die Theologie und Kirche des 21. Jahrhunderts ein ziemlich neues Gebiet. Wo es überhaupt gründlich reflektiert wird, da endet diese Reflexion in Kontroversen. Was die ersten Christinnen allerdings sehr wohl schon kannten, waren Streitigkeiten und die entsprechende Verwirrung und Unsicherheit. Diese Unsicherheit entstand nach Jesu Tod: Wie sollten sie nun ihre Gemeinden organisieren, und wie antworten auf Angriffe von außen, auf Zweifel im Innern? Wie hätte Jesus geantwortet? Doch Jesus war weg – und die Fragen wurden immer komplizierter. Da fühlten sie sich manchmal sehr verlassen und enttäuscht. Sie hatten sich ein Leben in der Gemeinschaft der Nachfolgerinnen und Nachfolger harmonischer vorgestellt. Manchmal fragten die jungen Christinnen sich, welchen Sinn ihr Glaube eigentlich hatte, wo er ihnen doch weder das praktische Leben noch die Entscheidungen leichter machte.

Damit sind wir nun doch ziemlich nahe an unserer eigenen Situation. Wir sollen entscheiden, wie jede von uns persönlich zum Thema Organspende steht. Das Bedrückendste daran ist, dass es keine eindeutigen Antworten gibt, auch nicht aus christlicher Sicht. Wir beschäftigen uns ausführlich mit den Argumenten für und wider, aber je tiefer wir in dieses unheimliche Gebiet eintauchen, desto komplizierter und zweischneidiger wird es. Ärzte, die Leben retten wollen, erklären einen Menschen aufgrund des rettungslosen Zustands seines Gehirns für tot. Wird damit nicht eine Grenze überschritten, die unser Menschenbild in Frage stellt? Ein Mensch muss sterben, ein anderer wird gerettet. Einer verliert sein Leben, also alles – der oder die andere zieht das große Los. Darf ein Leben gegen den Rest eines anderen verrechnet werden, dürfen die einen aus dem Unglück und der Not der anderen ihren Nutzen ziehen? Und auf keinen Fall will ich zum Rädchen in einem Getriebe degradiert werden, das ich kaum durchschaue und das mehr nach wirtschaftlichen Gesetzen abläuft als nach menschlichen! Wie so oft scheinen persönliche Anliegen mit gesellschaftlichen Interessen zu kollidieren.

Und dann besteht ja auch immer noch die Möglichkeit, dass solche theoretischen Überlegungen zur persönlichen Wirklichkeit werden. Der Super-Gau, den ich mir erst gar nicht ausmalen möchte: Mein Enkelkind wird krank und kann nur mit dem Herzen eines anderen, eines verstorbenen Kindes überleben. Oder ich lande auf der anderen Seite: Mein Sohn ist nach einem Unfall hirntot, und ich werde gefragt, ob ich sein Herz spende. Wird die Entscheidung, die ich heute oder im nächsten Monat theoretisch für mich und meinen Tod treffe, die Nagelprobe einer immer ganz anderen und schrecklicheren Wirklichkeit bestehen? Denn ob, wie und wann das Thema akut wird, kann niemand je entscheiden. Es kommt über uns, so wie alle anderen Unwägbarkeiten des Lebens. Da ist es verständlich, wenn die eine oder der andere von uns am liebsten gar nichts mehr im Voraus entscheiden will. Sollen, wenn der schlimmste Fall eintritt, andere für mich ja oder nein sagen – aus eigenen Kräften komme ich aus diesem Dilemma nicht heraus.

Schon die ersten Christinnen und Christen kannten dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Was immer sie aus eigenen Kräften zu glauben, zu tun oder zu lassen entschieden – es barg das Risiko, falsch oder unzureichend zu sein, den Erwartungen anderer oder auch den Ansprüchen Gottes an ihr Leben nicht gerecht zu werden. Sie hatten Angst, aus der Gemeinschaft mit Christus und mit Gott wieder herauszufallen. Würde die Wahrheit, die sie in Jesu Person zu Gesicht bekommen hatten, nach seinem Tod zur Illusion, zur Lüge verkommen? Konnten sie an der Wahrheit, dem Weg und dem Leben Christi überhaupt Teil haben – ohne ihn?

Eine junge Frau erzählte einmal etwas Erstaunliches. Nach dem Tod ihrer Mutter, zu der sie eine sehr enge, aber nie beengende Beziehung gehabt hatte, fühlte sie sich furchtbar allein gelassen, völlig überfordert von der neuen Situation und ihren Folgen. Wenn das Gefühl der Verlassenheit besonders schlimm wurde, ging sie zum Grab, um sich dort mit der Toten zu „unterhalten“. Dann habe sie deutlich einen Druck auf ihrer Schulter gespürt, so als legte ihre Mutter ihr die Hand auf den Rücken. Dieses Erlebnis gab ihr wieder Mut, ihr Leben zu leben. Sie war sich gewiss, dass ihre Mutter auch jetzt noch für sie da und nicht einfach „weg“ war.

Ähnlich können wir uns vielleicht die Kraft vorstellen, die Jesus bei seinem Abschied seinen Jüngerinnen und Jüngern versprach. „Geistkraft“ übersetzt die Bibel in gerechter Sprache diese Trost- und Kraftquelle (vgl. Joh 14,15-17.25f; 15,26; 16,4b-11.12-15). „Wenn ihr mich liebt, dann werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde Gott bitten und sie wird euch einen anderen Trost geben, der immer bei euch sein soll: Die Geistkraft der Wahrheit, die die Welt nicht erfassen kann, weil sie sie weder sieht noch erkennt“, sagt Jesus im Johannesevangelium. (Joh 14,15-17f) Zwar gehe er fort, aber nur, damit er ihnen die Geistkraft senden könne, die direkt von Gott kommt. Dass diese Gabe in ihnen wirke, würde für andere Menschen unsichtbar sein – so unsichtbar, wie es die Hand der Mutter dieser jungen Frau für uns ist. Aber wie die junge Frau sie erkannte, so erkannten sie auch die Gläubigen, die ja Jesus selbst erlebt und erkannt hatten. Keine Sorge also! Die Geistkraft war das Zeichen dafür, dass die Gemeinde nicht von Gott und nicht von Christus verlassen war. Jesus war weg – aber sie hatten eine neue Begabung, und mit Hilfe dieser Kraft konnten sie selbst Antworten auf schwierige Fragen finden. Wo Konflikte ausgetragen und schwere Entscheidungen getroffen werden mussten, wo die Christinnen und Christen vielleicht sogar vor Gericht geschleppt wurden, um ihre unpopulären Entschlüsse zu rechtfertigen, gerade dort wirkte die göttliche Kraft wie ein Rechtsbeistand. Sie sprang ein, wo sie an ihrer eigenen Wahrheit zu zweifeln begannen.

Nicht, dass wir Christinnen und Christen damit vor Fehlern und falschen Beschlüssen gefeit wären – gerade bei der Organspende hat die Befürchtung, eigentlich nur falsch handeln zu können, verführerische Plausibilität. Aber warum sollten wir nicht auch richtige Entscheidungen treffen können? Warum trauen wir uns nicht so etwas wie einen christlichen Instinkt zu, der uns nicht gleich wieder unsicher verzagen lässt, wenn unsere Meinung nicht christlich-politisch korrekt erscheint? Wo wir nach bestem Wissen und Gewissen, im Austausch mit anderen Christinnen und Christen und mit Blick auf Christus selbst zu einem Pro oder einem Kontra finden, brauchen wir uns nicht mehr davor zu fürchten, mit den Folgen nicht klar zu kommen.

Also ist Aufatmen angesagt. Uns Christinnen und Christen ist Kompetenz zuzutrauen. In unserer Welt der Ängste, Verwirrungen und Unsicherheiten behalten im Übrigen auch Fehlentscheidungen etwas Relatives. Das letzte Urteil über richtig oder falsch ist nicht mehr unsere Sache. Dieses Versprechen und diese Aussicht können sehr entlastend und auch sehr ermutigend sein. Jesus fügte einst der nüchternen Erkenntnis, dass es keine Welt ohne Angst gibt, den Zuspruch hinzu: „Aber seid zuversichtlich, ich habe die Welt besiegt.“ (Joh 16,33) Das heißt: Wir wissen, dass es jenseits aller weltlichen Instanzen eine neue, andere Dimension gibt – ohne Zwänge und ohne Dilemmata. Aus diesem Wissen möge uns Kraft erwachsen, dass wir uns der Gegenwart ohne Resignation zuwenden und ihre Anforderungen bestehen.

Lied
Bewahre uns, Gott (EG 171)

Segen
Gott sei vor dir,
um dir die Angst vor einer Entscheidung zu nehmen.

Gott sei hinter Dir,
um dir den Rücken zu stärken, wenn deine Urteilskraft bezweifelt wird.

Gott sei neben dir,
um deine Schritte zu begleiten, wenn der Weg dir zu schwer wird.

Gott sei in Dir,
um dir Lebenskraft zu schenken, wenn du müde wirst und verzagen möchtest.
Amen

Susanne Krahe, 52 Jahre, erblindete als junge Frau aufgrund einer Diabetes, später versagten auch die Nieren. Heute lebt sie mit Bauchspeicheldrüse und Niere eines 14-Jährigen. Die Theologin und Autorin hält Vorträge und veröffentlicht zum Thema Organtransplantation, eben erscheint: Susanne Krahe, Eberhard Fincke: Organspende – ein Akt der Nächstenliebe? Pro und Contra Transplantations-medizin, Würzburg (Echter Verlag) 2013. Unter www.evangelischefrauen-deutschland.de siehe den Beitrag der Autorin „Mein angeknüpftes Leben“ für mitteilungen 450 (August 2012). Kontakt unter www.susanne-krahe.de

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