Vorbereitung: gestaltete Mitte mit Tüchern in leuchtenden Farben, dazu Symbole des Lebens (blühender Zweig, Schale Wasser u.ä.) dazu kleine Zettel aus edlem Papier mit den „Namen“, die der 71. Psalm für Gott verwendet: schützender Fels, Fels, Bergfeste, Hoffnung, Sicherheit, Verlässlichkeit, Zuflucht, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit, göttliche Herrscherin, Stärke, Heilige Israels, Lebendige, meine Gottheit; in direkte Bilder: Hebamme, Befreierin, Retterin, Lehrerin, Trösterin. Je nach Teilnehmerinnenzahl sollten die Begriffe mehrfach vorhanden sein; Kopien des Liedes „Wir strecken uns nach dir“ (siehe Seite 41)
Hinweis für die Leiterin: Die Andacht geht von der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“ aus. Um sie in einem Kreis zu verwenden, in dem es viel Widerstand dagegen gibt, müsste vorher wenigstens eine kleine Einführung in das Übersetzungsprojekt erfolgt sein.
Ablauf
Lied: Wir strecken uns nach dir
Liebende geben einander oft eine Fülle unterschiedlichster Namen. Sie versuchen damit auszudrücken, wer der oder die andere für sie ist, was er oder sie ihnen bedeutet. Mein Liebstes, mein Herzblatt, mein Augenstern, meine Sonne.
Die Bibel kennt viele solcher Sprachbilder für Gott. Besonders in den Psalmen häufen sie sich. Darum lassen sie sich auch gut als Liebeslieder lesen: die die Beziehung zu Gott besingen, seine/ihre Nähe bejubeln, seine/ihre Ferne beklagen und seine/ihre Treue beschwören. Besonders anrührend sind die „Namen“, mit denen die Beterin oder der Beter des 71. Psalms ihr/sein Gottesverhältnis beschreibt. Sie lassen spüren, dass der oder die, die hier betet, eine ganz innige Beziehung zu Gott hat, die sich in den Höhen und Tiefen des Lebens als verlässlich, als tröstlich und tragfähig erwiesen hat. Unwillkürlich fragt man sich: Was hat meine Gottesbeziehung geprägt, und welcher Name, welches Bild könnte dafür stehen?
Bitte suchen Sie sich aus der Mitte die Karte aus, in der sich Ihre Gottesbeziehung am ehestens spiegelt, und tauschen Sie sich mit Ihrer Nachbarin darüber aus. Alle Sprachbilder auf den Karten sind aus dem 71. Psalm – in der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“ – entnommen, aus wir im Anschluss einen Abschnitt hören werden.
Psalm 71,1-7.13-17.19-23 vorlesen
1 Bei dir, Lebendige, habe ich mich geborgen,
lass mich nicht für immer scheitern.
2 Mit deiner Gerechtigkeit rette mich und lass mich entkommen,
neige dein Ohr zu mir und befreie mich.
3 Sei mir ein schützender Fels, zu dem ich immerzu kommen kann.
Du hast versprochen, mich zu befreien, ja, mein Fels, meine Bergfeste bist du.
4 Mein Gott, lass mich aus der Hand der Verbrecher entkommen,
aus der Faust derer, die Unrecht tun, die gewalttätig sind.
5 Ja, du bist meine Hoffnung, göttliche Herrscherin,
Lebendige, meine Sicherheit, von meiner Jugend an.
6 Auf dich habe ich mich gestützt, vom Mutterleib an.
Aus dem Bauch meiner Mutter hast du mich herausgelöst,
dir gilt mein Lob immerzu.
7 Wie ein Wunder war ich für viele,
du aber bist meine sichere Zuflucht.
13 Scheitern, hinschwinden sollen die, die mein Leben angreifen.
In Schande und Scham hüllen sollen sich die, die mein Unheil suchen.
14 Ich aber werde immerzu hoffen, vermehren all dein Lob.
15 Mein Mund wird von deiner Gerechtigkeit erzählen,
alle Tage von deinen Befreiungstaten – ja, ich kenne ihre Zahl nicht.
16 Ich will eintreten in den Machtbereich der Lebendigen:
göttliche Herrscherin.
Ich will erinnern an deine Gerechtigkeit, an dich allein.
17 Gott, du hast mich unterwiesen seit meiner Jugend,
und noch jetzt erzähle ich von deinen wunderbaren Taten.
19 und von deiner Gerechtigkeit, die bis zum Himmel reicht, Gott.
Du hast Großes getan. Gott, wer ist wie du?
20 Du hast uns Bedrängnisse sehen lassen – zahlreich und unheilvoll.
Kehr um, belebe uns wieder, aus den Tiefen der Erde kehr um, führe uns herauf.
21 Du wirst mich groß machen, dich wenden, mich trösten.
22 Ich aber, ich will dir danken mit der Harfe, deiner Verlässlichkeit, meine Gottheit.
Ich will für dich musizieren mit der Leier, Heilige Israels.
23 Meine Lippen brechen in Jubel aus, ja, ich musiziere für dich, meine Kehle, die du befreit hast.(1)
Vielleicht hat der Name für Gott, den Sie sich ausgesucht haben, eine neue Nuance bekommen durch den Zusammenhang, in dem er in diesem Psalm erscheint. Vielleicht hat aber auch die eine oder andere Widerstand gespürt und sich beim Hören der Gottesanrede „Lebendige“ gefragt: Was ist denn das für eine merkwürdige Übersetzung?
„Die Lebendige“ – für viele Frauen ist es der schönste Name Gottes. Ist es ein legitimer Name? In der „Bibel in gerechter Sprache“ ist er im Text grau unterlegt, weil hier im hebräischen Urtext das so genannte Tetragramm steht – vier Konsonanten JHWH, die als Eigenname Gottes gelten. Sie sind vermutlich von dem Verb haja = sein abzuleiten. Mit „Ich-bin-da“ oder „Ich bin für dich da“ oder „Ich bin, der ich da sein werde“ hat man JHWH auch zu übersetzen versucht. Die Vielfalt zeigt schon: Die Sprache kann das, was Gott ist, nicht in einem einzigen Bild oder Wort erfassen und festschreiben. Gott ist größer als jeder Name, jedes Bild. Darum entstand im Judentum der Brauch, den Eigennamen Gottes nicht mehr auszusprechen, aber stattdessen Ersatzworte(2) – Liebesnamen zu wählen, die etwas ausdrücken von der Beziehung, die die Glaubenden zu Gott haben.
„Die Lebendige“ klingt passend in einem Lied, in dem Gott mit einer Hebamme verglichen wird (V 6b: „aus dem Bauch meiner Mutter hast du mich herausgelöst …“), und das von der bergenden und schützenden, befreienden, tröstenden und belebenden Kraft singt, mit der Gott die Betende/den Betenden von Mutterleib an begleitet hat. Für manche mag hinter dem Namen auch die Energie des Lebens selbst zu spüren und Kraft und Vitalität, Liebe, Glück, Jubel und Freude zu hören sein. Vielleicht kommen Ihnen auch Bilder von Kindern in den Sinn – die quirlige Lebendigkeit eines Dreijährigen, die ungeteilte Freude, das glucksende Lachen, aber auch der ungebremste Zorn und der tiefe Schmerz, mit denen so ein kleiner Mensch auf das, was er erlebt, reagieren kann.
„Die Lebendige“ – das ist aber auch ein Sehnsuchtswort, das hineinsprechen kann in Zeiten meines Lebens, in denen mir der Zugang zu Gott, zum Grund all meiner Lebendigkeit verstellt ist: Situationen, in denen ich gescheitert bin, in denen ich mich ohnmächtig und ausgeliefert fühle, und solche, in denen ich schwer zu tragen habe an der Trauer um Menschen, die mir wichtig waren. In solchen Zeiten die Psalmen nach zusprechen und zu beten, kann eine große Hilfe sein. Denn sie erlauben mir – gegen alle inneren und äußeren Normen von dem, was eine Christin soll und muss – auszusprechen, was in mir ist. Sie leihen mir Worte für meine Trauer, meinen Schmerz, meinen Zorn und schaffen Raum für so dunkle Gefühle wie Rache und Hass – und befreien mich dadurch von ihrer zerstörerischen Wirkung.
„Hinschwinden sollen die, die mein Leben angreifen.“ „In Schande und Scham hüllen sollen sich die, die mein Unheil suchen.“ Solche Sätze lassen erst einmal den Atem stocken und rufen Abwehr hervor. „Ärger kenne ich wohl, aber Rachewünsche sind mir fremd“, mag manche denken. Diese scheinbar so urplötzlich in einem Loblied Gottes aufbrechenden „Hasstiraden“ sind zumindest irritierend. „Rache ist süß.“ Aber verboten?
Andererseits: Schafft ein Verbot Gefühle aus der Welt? Und ist es nicht viel gefährlicher, die dunklen Gefühle, die in uns sind, zu verschwiegen als sie auszusprechen? Aus der Psychologie wissen wir, dass es in der „Rachephantasie“ oft gar nicht darum geht, andere wirklich zu verletzen, sondern darum, dass sie die Verletzung spüren können, die sie uns zugefügt haben. Denn das ist die Voraussetzung für Umkehr und Versöhnung. „Die ‚Feindpsalmen' sind ein Weg, den aggressiven Feindbildern ihre Destruktivität zu nehmen und sie in konstruktive Kraft umzuwandeln“, schreibt der Alttestamentler Erich Zenger.(3) Genau darin liegt die tiefe Weisheit dieser alten Gebetslieder der Bibel: Sie nehmen uns mit auf den Weg Gottes, der durch alle unsere Dunkelheiten hindurch zum Leben führt. Eine Pazifistin erzählte einmal, wie ihr das Nachbeten eines „Feindpsalms“ geholfen hat, als sie einer schlimmen Verleumdung ohnmächtig ausgeliefert war. Die fremden Worte, die sie sich leihen konnte, haben ihr zugleich Nähe und Distanz zu den eigenen Gefühlen ermöglicht und sie so davor bewahrt, in Aggression oder Depression unterzugehen.
„Ich will eintreten in den Machtbereich der Lebendigen.“ – Es ist kein Zufall, dass diese Worte unmittelbar auf die aggressiven Äußerungen der Feindklage folgen. Denn sie sind, wie der Sonnenaufgang nach einer langen Nacht, erst möglich, wenn die Dunkelheit durchschritten, wenn der „Schutt“ abgeräumt ist, wenn alles Schwere, Belastende, Lebensfeindliche ausgesprochen und hinter uns gelassen ist.
„Ich will eintreten in den Machtbereich der Lebendigen.“ – Wir könnten auch übersetzen: Ich will eintreten in den Kraftstrom der göttlichen Gegenwart. Dynamik(4) und Energie gehen von diesen Worten aus. Einzutreten in den Machtbereich der Lebendigen, das ist aufregend und verlockend, das kann ich mit Gefühlen verbinden, mit Bildern und Erfahrungen füllen. Sie auch?
Die Teilnehmerinnen zu Wort
kommen lassen!
Der Machtbereich der Lebendigen: Schöpfungskraft, Gerechtigkeit, Güte, Treue, Wahrheit und Verständnis,(5) Machtbereich, Kraftstrom, Kraft – das hebräische Wort, das hier neben dem geheimnisvollen Lebensnamen Gottes (JHWH) steht, meint keine Körperkraft, sondern hat eine geistige Bedeutung. Die göttliche Kraft hat etwas zu tun mit der lebendig machenden Energie, die sich immer dann ausbreitet, wenn unsere tiefsten Sehnsüchte erfüllt werden. Wenn wir uns gesehen und gehört, gewürdigt und geachtet fühlen. Wenn Menschen uns etwas von der Güte und der Barmherzigkeit Gottes ins Leben tragen und wir nicht nur hören, sondern auch glauben können, dass Gerechtigkeit über Ungerechtigkeit siegt, dass Liebe Hass überwindet und Versöhnung möglich wird, und dass da, wo der Tod herrschte, das Leben neu zu blühen beginnt.
Den Machtbereich, den Kraftstrom der Lebendigen kann ich spüren, wenn ich erlebe, dass eine Starke auf eine Schwache Rücksicht nimmt; wenn ich merke, dass sich jemand in einem Streit um Verstehen bemüht; wenn ich höre, dass eine Kirchengemeinde sich einsetzt für eine junge Kurdin, die abgeschoben werden soll; wenn ich von Menschen lese, die ihr Leben füreinander einsetzen. Und ich spüre den Machtbereich der Lebendigen auch, wenn ich die großen und kleinen Wunder der Schöpfung wahrnehme, wenn ich am Morgen den Tau auf einem kunstvoll gewebten Spinnennetz schimmern sehe, oder mir das Unkraut ins Auge fällt, das den Asphalt aufbricht.
Es gibt aber auch Tage, an denen ich blind bin für die Zeichen der Güte Gottes. Wenn ich verzweifle an dem Leid, der Gewalt, dem Hunger und der Not auf der Welt, an meiner Verstrickung in die Strukturen des Unrechts. Wenn der Kleinglaube nach mir greift und ich denke, dass mein kleines Tun vergeblich ist. Kann ich mir dann einfach vornehmen: „Ich will eintreten in den Machtbereich der Lebendigen“?
Die biblischen Zeuginnen und Zeugen des Glaubens sagen: Nein, es ist keine Frage des Wollens, sondern eine Frage der Gnade, und die liegt nicht in meiner, sondern in Gottes Hand. Aber ich kann darum bitten und mich danach ausstrecken, dass sie mir geschenkt wird. Und wie strecke ich mich danach aus? Indem ich so vorbehaltlos und uneingeschränkt wie unsere Väter und Mütter im Glauben vor Gott ausschütte, was mich belastet und bedrängt.
Lied: Wir strecken uns nach dir
Vaterunser
Segen:
„Die befreiende schöpferische Kraft der Lebendigen richte dich auf und befreie dich zum Leben.“
Zum Schluss könnte jede TN eine schön gestaltete Karte geschenkt bekommen, auf deren Vorderseite „die Lebendige“ steht, und deren Rückseite mit einem Elfchen“(6) beschrieben ist:
Lebendige
schöpferische Kraft
richtest mich auf
befreist mich zum Leben
Amen
Anne Rieck ist 50 Jahre alt und hat zwei erwachsene Söhne. Sie ist Theologin und arbeitet als Theologische Referentin im Frauenwerk im Haus kirchlicher Dienste der ev.-luth. Landeskirche Hannovers.
Anmerkungen
1 Übersetzung von Ulrike Bail, Michaela Geiger, Christl M. Maier, Simone Pottmann aus: „Bibel in gerechter Sprache“, hg. von Ulrike Bail, Frank Crüsemann u.a.,
© Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2006
2 Vgl. zu dem Phänomen auch Ottmar Keel, Wie männlich ist der Gott der Bibel? Überlegungen zu einer unerledigten Frage in: NZZ 30.06.2007
3 Erich Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg/Basel/Wien 1998, S. 5
4 Das hebräische Wort geburah, das hier steht, wird im NT häufig mit ‚dynamis' wiedergegeben.
5 Zur Vielschichtigkeit des Begriffs vgl. Art. Geburah, in: G.J. Botterweck/H. Ringgren (Hg), Wörterbuch zum Alten Testament, Bd 1, Stuttgart 1973, S. 903-909.
6 Vgl. auch die „Gottesnamenkarten“ in der Arbeitshilfe zur „Bibel in gerechter Sprache“ aus dem Frauenwerk der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Sie erscheint Sept. 2007 und ist zum Preis von 10 € erhältlich; Tel.: 0511/1241-547; Fax: 0511/1241-186; Email: frauenwerk@kirchliche-dienste.de
Literatur
Ulrike Bail, Die Psalmen, in: Luise Schottroff, Marie-Theres Wacker (Hgg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 21999, S. 180-191
Helga Kuhlmann (Hg), Die Bibel – übersetzt in gerechte Sprache? Gütersloh 2006
Kurt Marti, Die Psalmen 42-72. Annäherungen, Stuttgart 1992
Dr. Ursula Schmitt-Pridik, Hoffnungsvolles Altern. Gerontologische Bibelauslegung, Neukirchen 2003 Erich Zenger (Hg), Psalmen 51-100 übersetzt und ausgelegt von Frank-Lothar Hossfeld, HThKAT, Freiburg/Basel/Wien 2000
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