Ausgabe 1 / 2008 Material von Margaret Moers Wenig

In Gottes Küche

Von Margaret Moers Wenig


Wer oder was ist Gott? Wo sollen wir Gottes Gegenwart suchen? Unsere Weisen und Philosophen sind keineswegs einig in ihren Aussagen. Aber darin stimmen sie überein: Wer oder was Gott wirklich ist, ist letztlich nicht zu ergründen. Und doch wagen eben diese Weisen den Versuch, die Gotteserfahrung unseres Volkes in Bilder zu fassen, die wir kennen und verstehen können. Heute Abend lade ich Sie ein, sich Gott als Frau vorzustellen, als Frau, die im Begriff ist, älter zu werden …

Sie bewegt sich jetzt langsam. Sie kann nicht aufrecht stehen. Ihr Haar ist schütter. Ihr Gesicht von Falten durchzogen. Ihr Lächeln nicht länger unschuldig. Ihre Stimme ist rau. Ihre Augen ermüden. Das Hören strengt sie oft an. Gott ist eine Frau, und sie wird älter. Und doch – sie erinnert sich an alles. An Rosch Haschana, der Gedenkfeier des Tages, an dem sie uns geboren hat, setzt sich Gott an ihren Küchentisch, öffnet das Buch der Erinnerungen und beginnt, die Seiten zu wenden. „Kommt heim“, möchte sie uns sagen, „kommt heim.“ Und was wäre, wenn wir es täten? Was wäre, wenn wir wirklich nach Hause gingen und Gott an diesem Jom Kippur besuchten? Wir würde es sein?

Gott würde uns in ihre Küche führen, uns an ihrem Tisch einen Platz anbieten und Tee einschenken. Sie ist schon so lange allein gewesen, dass sie uns vieles sagen möchte. Aber wir lassen sie kaum zu Wort kommen, denn wir haben Angst vor dem, was sie sagen könnte, aber ebenso vor der Stille. So füllen wir die Stunde mit unserem Geschwätz. Worte, Worte, so viele Worte. Bis sie endlich ihren Finger an die Lippen legt und sagt: „Sch, sch, sei still, sch…“

Nachdem wir nun schon mehrere Stunden sitzen und Tee trinken, und es endlich nichts mehr zu sagen oder zu hören gibt, beginnt Gott zu summen. Das versetzt uns zurück in eine Zeit, als unser Fieber nicht sinken wollte und wir nicht einschlafen konnten, erschöpft vom Weinen, aber unfähig aufzuhören. Sie hob uns auf, hielt uns an ihre Brust gedrückt, bettete unseren Kopf in ihre Handflächen und ging mit uns auf und ab. Wir konnten ihr Herz schlagen hören und das Summen aus ihrem Hals: O ja, da war's, wo wir lernten, Tränen abzuwischen. Von ihr lernten wir, ein weinendes Kind zu trösten und jemanden im Schmerz zu halten.

aus: Gott ist eine Frau – uns sie wird älter. Predigt an Jom Kippur

Quelle: haGalil.communications, www.hagalil.com, A Sign of Jewish Life in Central Europe

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