Ausgabe 1 / 1996 Frauen in Bewegung von Annette Vogel

Inge Kanitz

Nicht nur eine Gemeinde von Brüdern

Von Annette Vogel

Inge Kanitz wurde 1911 in Hamburg geboren. Beide Eltern waren Künstler und standen der Kirche skeptisch gegenüber. Dennoch entschied sich Inge Kanitz, die über die Jugendbewegung Zugang zu einer Kirchengemeinde in Hamburg-Eppendorf gefunden hatte, am Konfirmandenunterricht teilzunehmen. Allerdings heimlich, hinter dem Rücken des Vaters.

1931 absolvierte sie mit guten Ergebnissen das Abitur. Aber nicht sie, sondern der weniger begabte Bruder erhielt die ersehnte finanzielle Unterstützung, die ihm ein Studium ermöglichte.

Mit nur 50 Mark Taschengeld pro Monat machte sich Inge Kanitz auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz. Zunächst schrieb sie an das Burckhardthaus in Berlin, das Gemeindehelferinnen ausbildete, und bat um einen Ausbildungsplatz. Sie versprach, das Schulgeld nach Beendigung der Ausbildung zurückzuzahlen. Sie konnte sofort beginnen. Für 30 Mark teilte sie sich eine Schlafstelle mit einer Freundin und fuhr mit dem Fahrrad nach Dahlem. Durch Lili Bremer, die jüngere Schwester von Else Niemöller, bekam sie schon bald Kontakt zum Pfarrhaus in Dahlem. Hier half sie später, verbotene Flugblätter, Fürbittenlisten etc. zu vervielfältigen.

Als die finanzielle Situation für Inge Kanitz immer schwieriger wurde, vermittelte Martin Niemöller sie als Hauslehrerin an eine jüdische Familie, deren Kinder öffentliche Schulen nicht mehr besuchen durften. Die Eltern waren Christen, hatten sich aber aus Ehrfurcht vor ihren eigenen Eltern nicht taufen lassen. Die Kinder aber waren getauft und erhielt nun von Inge Kanitz Religionsunterricht.

Nach dem Gemeindehelferinnenexamen und dem Abschluss eines Chorleiterlehrganges ging Inge Kanitz 1934 zunächst als freie Schwester nach Bethel, um dort eine Krankenpflegeausbildung zu machen. Aber schon bald erhielt sie Anfragen, Gemeindehelferinnenstellen zu übernehmen. Sie brach ihre Ausbildung ab und ging nach Stralsund. Dort war sie Gemeindehelferin, Organistin, Kantorin und Gemeindeschwester gleichzeitig: drei Berufe, aber nur ein Gehalt.
Inge Kanitz vermittelte nun die Informationen und Nachrichten des Bruderrates der Bekennenden Kirche, war aber in ihrer eigenen Gemeinde zunächst auf sich gestellt. Davon unbeeindruckt hielt sie Konfirmandenunterricht, arbeitete in den Hospitälern als Krankenschwester und baute eine Kinder- und Jugendarbeit auf.

Nachdem sich Inge Kanitz dem Ansinnen einer ehemaligen Mitschülerin, Gauleiterin zu werden, widersetzt hatte und dabei zum ersten Mal mit der Gestapo in Berührung kam, wurde sie genau beobachtet. Auch ihre Gemeindemitglieder wurden über das Leben ihrer Gemeindehelferin ausgefragt. Sie sagt über diese Zeit: „Von nun ab fing es an, furchtbar für mich zu werden … Ich konnte kaum noch schlafen, weil ich immer dachte, jetzt kommen die und holen dich ab.“

Kurze Zeit später fanden Inge Kanitz und ihre Praktikantin einen Zettel unter der Tür: „Verlassen Sie bis morgen Abend die Stadt, sonst … Heil Hitler.“ Die beiden Frauen warteten nicht bis zum nächsten Tag, sondern reisten sofort zu ihren Verlobten, die beide zu der Zeit bei Dietrich Bonhoeffer im Predigerseminar in Finkenwalde waren.
1936 traute Bonhoeffer Inge Kanitz und ihren Mann Jochen, einem Vikar der Bekennenden Kirche, den sie 1930 kennen gelernt hatte.

Während Jochen Kanitz in Berlin sein zweites Examen beim Bruderrat der Bekennenden Kirche ablegte und damit zu einem der vielen sogenannten „illegalen jungen Brüder“ wurde, organisierte Inge Kanitz den Umzug in ihre erste Pfarrstelle in Ketzür / Brandenburg. Jochen Kanitz wurde aus „Sicherheitsgründen“ noch mehrfach versetzt. Im Main 1939 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. An Kriegsdienstverweigerung dachten sie zwar, waren sie doch geprägt durch den Pazifismus Bonhoeffers, aber „wir waren jung, hatten ein Kind und wollten leben.“

Nach der Einberufung ihres Mannes zog Inge Kanitz nach Illmersdorf und übernahm dort eine volle Pfarrstelle. Während der siebeneinhalbjährigen Abwesenheit ihres Mannes fühlte sie sich dem Amt ihres Mannes verpflichtet: „Es war ja unsere Gemeinde.“

Neben ihrer Arbeit als Gemeindekrankenschwester hatte sie auch die gesamte Gemeindearbeit zu leisten. Sie übernahm den Predigtdienst (inklusive Orgelspiel) in mehreren Predigtstätten.

Außerdem erteilte sie den kirchlichen Unterricht und hielt Bibelstunden, in denen sie offen über die politische Situation sprechen konnte und Informationen des Bruderrates weiterleitete.

In dieser Gemeinde konnte Inge Kanitz eine Hilfe für jüdische Mitbürger in Dahlem, die keine Lebensmittelkarten besaßen, aufbauen. Jedes Mal, wenn sie nun nach Berlin zum Bruderrat fuhr, war sie vollbepackt mit Lebensmitteln.

Dann bekam sie eine Vikarin, die nun ihrerseits untergetauchte Juden mitbrachte, um sie in dem Dorf zu verstecken. Zuerst war Inge Kanitz wenig erfreut über die zusätzliche Belastung und Gefährdung, die ihr damit zugemutet wurde. Das Zusammentreffen mit der ersten Untergetauchten, Vera, veränderte ihre Einstellung grundliegend: „… und ich dachte: Mensch, Mensch, du sitzt hier in deinem Dorf und kriegst keine Bombenangriffe mit und diese Vera hat zugesehen wie ihre Schwester im Wochenbett Besuch gekriegt hat von SS-Leuten.“ Später konnten Untergetauchte auch bei anderen Gemeindemitgliedern untergebracht werden und so überleben.

Inge Kanitz verfügte auch über Nachrichten aus dem Ausland. So erfuhr sie durch eine russische Ärztin, die als Zwangsarbeiterin die Dorfpraxis des alten Kreisarztes übernahm, von dem Geschehen in Russland; z.B. dass russische Mädchen aus ihrer Heimat verschleppt wurden, um in Deutschland wie Sklavinnen verkauft zu werden. Inge Kanitz versuchte zu helfen, indem sie Lara, eine junge Russin, in ihre Familie aufnahm. Später musste sie jedoch hilflos zusehen, wie Lara abgeholt wurde, um in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten.

Ab 1947 lebten Inge Kanitz und ihr Mann wieder in Berlin. Die unmittelbare Nachkriegszeit war bestimmt von dem einen Gedanken: „So etwas darf nie wieder geschehen!“ Eine Fortsetzung der Traditionen der Bekennenden Kirche sah Inge Kanitz in verschiedenen Nachfolgegruppen und basisorientierten Arbeitskreisen. In Berlin wurde sie mehr und mehr zu einer „Adresse“, wenn es um Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte ging. Sie engagierte sich bei „Terre des hommes“ und der „Hyvong“-Kinderhilfe Vietnam. Und sie fehlte bis ins hohe Alter hinein bei fast keinem Ostermarsch der Friedensbewegung.

Inge Kanitz starb im September 1995 in Berlin.

Literatur
Nach einem Text von: Heike Baumann / Heike Scherer
in: Die Schwestern mit der roten Karte. Gespräche mit Frauen aus der Bekennenden Kirche Berlin, hrsg. von Beate Schröder / Gerdi Nützel; Alektor-Verlag, Berlin 1992
(Hinweis: Das Buch ist vergriffen und wird nicht wieder aufgelegt.)

 

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang