Alle Ausgaben / 2015 Frauen in Bewegung von Marion Rink

Inne halten

Inseln der Ruhe im Alltag entdecken

Von Marion Rink

Sie sind schweigend unterwegs. Links und rechts des Waldpfades leuchten Bäume in unterschiedlichem Grün. Vögel singen. Die Häuser, der Lärm der Autos bleiben allmählich zurück. Im eigenen Rhythmus setzen sie Schritt für Schritt, die Frauen und Männer, die sich einen „Oase-Tag“ gönnen.

Sie haben ihren Alltag unterbrochen. Sie suchen eine Aus-Zeit für Leib und Seele. Einen Tag lang anhalten, innehalten, sich wieder spüren – so beschreiben viele ihre Sehnsucht. Irgendwann bleiben alle stehen. Sie betrachten miteinander eine lebensgroße Figur aus Holz. Acht unterschiedliche Skulpturen säumen den Rundweg, der im Klostergarten beginnt, durch einen nahe gelegenen Wald führt und im Stillen Hof der ehemaligen Klosteranlage endet. Die Holzkunstwerke wurden zu Anrede, Bitten und Lobpreis des Vaterunser-Gebets erschaffen. „Was nehmen Sie wahr?“, frage ich die Betrachtenden. Ein kurzer Austausch vor den einzelnen Holzplastiken unterbricht die Stille. Gemeinsam spricht die Gruppe anschließend die wenigen Worte der einen Gebetszeile, für die das jeweilige Kunstobjekt steht. Dann setzten die Pilgernden den Weg fort. Und wieder tauchen alle ein ins Schweigen.

Im Kloster Höchst, im Odenwald, wo einst Augustinerinnen und später Benediktinerinnen als Krankenpflegerinnen wirkten und ihre Stundengebete sangen, können Menschen von heute unterschiedliche geistliche Angebote für Leib und Seele wahrnehmen. Im Laufe der Zeit hat sich die einstige Klosteranlage in eine Jugendbildungsstätte und ein Tagungshaus für Erwachsene mit modernen technischen Möglichkeiten verwandelt. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau beherbergt jährlich tausende von Gästen aus ­Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in dem geschichtsträchtigen Ambiente. Im Sommer 2011 wurde ich vom Evangelischen Dekanat Odenwald beauftragt, als Pfarrerin eigene spi­rituelle Angebote in dem Haus der Kirche zu machen. Tage der Stille und der Orien­tierung finden sich in dem jeweils aktuellen Programm, Meditationsangebote und Pilgerwege.

Im Rhythmus von Tun und Lassen

Innehalten – das haben die Klosterfrauen von einst geübt, mitten in einem harten Alltag mit Landwirtschaft und Dienst an Armen und Kranken, die an die Klosterpforte klopften. Siebenmal am Tag unterbrechen noch heute Nonnen und Mönche in christlichen Klöstern an unterschiedlichsten Orten in der Welt ihre Geschäftigkeit, um ihre Stundengebete zu singen. Sie entziehen sich damit „dem Terror der Dinge dieser Welt“, wie es ein Benediktiner kürzlich formulierte. Die Singenden und Lobenden, deren Hände ruhen, werden wieder, wer sie sind: Geschöpfe mit Grenzen. Geschöpfe, die ihren Schöpfer dadurch loben, dass sie die Schönheiten und Kostbarkeiten wahrnehmen, die ihnen geschenkt sind. Durch den heilsamen Rhythmus von Tun und Lassen gestärkt, leisten Ordensleute noch heute konzentriert und treu ihren Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft.

Wie aber kann es auch Menschen, die nicht von Klostermauern umgeben sind, gelingen, im Getriebe des Alltags sich nicht selbst verloren zu gehen? Wenn ständig das Handy klingelt oder brummt? Wenn immer mehr immer schneller erledigt werden muss? Der Stress des Alltags schon die Kleinen ergreift?

Einfach da sein

Fragen wie diese beschäftigten kürzlich eine Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern im Kloster Höchst. Sie hatten sich angemeldet zu einem Pastoralkolleg, einer mehrtägigen Auszeit, die ihnen ihre Landeskirche zum Auftanken schenkt. In der gemeinsamen Woche ging es theoretisch und praktisch um „Muße“ und deren spirituelle Dimen­sion. Schon am ersten Tag war klar, wie schwer die meisten Teilnehmenden das „Herunterfahren“ des gewohnten Tempos em­pfanden. Wie „ausgebremst“ kam sich die eine oder der andere vor. In Momenten der Stille lärmten innere Gedanken an laufende Projekte, Sorgen und Zukunftspläne vielstimmig durcheinander. Doch im Laufe der Zeit konnten die Teilnehmenden die klare Struktur, den Wechsel von Schweigen und Reden, von Lassen und Tun, von Zeiten für sich und mit anderen immer mehr genießen. Als sehr wohltuend beschrieben viele am Ende die täg­lichen Achtsamkeitsübungen für sich allein im Klostergarten. Sehen und Schauen, Hören und Lauschen, Gehen und Pilgern, Schmecken und Einverleiben wurden mit Hilfe einer vorherigen Anleitung ganz neu wahrgenommen. Viele berichteten von überraschenden Momenten beim bewussten Erleben des Einfachen und Alltäglichen.

Wie wenig selbstverständlich ist es offensichtlich, einfach da zu sein, in diesem Augenblick an diesem Ort. Wer Muße hat, vergisst alles um sich herum, vergisst die Zeit, taucht ein in ein Stück Ewigkeit. Auch um die Stimme der ewigen und barmherzigen Gottheit zu erlauschen, braucht es immer wieder den Rückzug. Noch heute ist am See Genezareth die Eremos-Höhle zu sehen, jener „einsame Ort“, an den Jesus sich immer wieder zurückgezogen haben soll. Orte und Momente der Stille laden Menschen seit Jahrtausenden dazu ein, sich selbst wahrzunehmen, auszuhalten, Gott hinzuhalten. Niemand kann es machen, dass die Gegenwart des Lebendigen spürbar oder erfahrbar wird im Jetzt und Hier. Das Wirken des Heiligen Geistes bleibt immer überraschend und frei. Und doch liegt seit alters eine große Verheißung darauf, den Kreislauf des Gewohnten zu unterbrechen, der Stille Raum zu geben und sich als Geschöpf vor dem Schöpfer zu verneigen.

Gott wirken lassen

Staunen und Ergriffensein wohnen der Muße inne. Nicht selten stellen sich solche Momente auch bei christlich-spirituellen Übungen ein. Im Unterschied zur Muße jedoch riskieren alle, die sich schweigend vor dem heiligen Gott einfinden, auch Unangenehmes wahrzunehmen: das unruhige Flackern der Gedanken, die Vögel der Sorge, die über dem Haupt kreisen, innere Leere, tiefe Sehnsucht, möglicherweise auch Trauer.
In dem von Licht durchfluteten Stillen Raum des Klosters Höchst singen wir angesichts all dessen bei jedem Mittagsgebet eine bekannte Liedstrophe von Gerhard Tersteegen aus dem 18. Jahrhundert (EG 165,6): „Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte. Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.“

Dem Ziel so nah, so fern

Das Leben ist wie ein Labyrinth: Viele Wege und Windungen. Manchmal dem Ziel so nah und dann doch wieder ganz weit entfernt. Immer wieder möchten Gastgruppen, die im Haus tagen oder als Tagesgäste das ehemaligen Kloster im Odenwald besuchen, das große Buchsbaumlabyrinth im Klostergarten begehen. Klosterbegleiterinnen, die für spirituelle Führungen ausgebildet sind, bieten eine Begehung an. Sie informieren darüber, dass es Labyrinthe schon seit etwa 5.000 Jahren gibt. Auf unterschiedlichen Kontinenten der Erde tauchte die Weg-Darstellung in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit unterschiedlicher Deutung auf. Aber auch in der christlichen Symbolik spielen Labyrinthe, besonders seit dem Mittelalter, eine Rolle.

Wer mag, kann im Garten des ehemaligen Klosters den gewundenen Weg im Schweigen begehen. Schritt für Schritt im eigenen Tempo unterwegs sein, mal der Mitte ganz nah, dann wieder weit entfernt, viele scheinbare Umwege bis zum Ziel. Nach kurzem oder längerem Verweilen der Rückweg auf denselben Bahnen, jedoch mit veränderter Blickrichtung. Es ist erstaunlich, was ganz unterschiedliche Menschen bei der Begehung erfahren und im Anschluss berichten. Die Botschaft des Labyrinths ist: „Bleib' nicht stehen. Du bist nicht in einem Irrgarten unterwegs, sondern du wirst geführt, auch wenn es dir nicht so erscheint.“

Besonders eindrücklich erleben viele Gruppen das Unterwegssein in den sieben Weg-Windungen bis zur Mitte mit biblischen Worten. In meditativer Weise murmeln alle, die nacheinander eingelassen werden, beispielsweise die Vertrauenssätze des bekannten 23. Psalms, Worte, mehr als 3000 Jahre alt: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln …“. In der Mitte entscheidet sich jede Person für nur einen Vers, von dem sie sich angesprochen fühlt. Nur diesen spricht sie leise auf dem Rückweg vor sich hin. Am Ende stehen alle Teilnehmenden um das große Rund des Labyrinths und wiederholen – ohne Erklärungen – die wenigen unterschiedlichen Sätze des Vertrauens. Worte, die an diesem Tag besonders zu ihnen gesprochen haben.

Inseln der Ruhe im Alltag

Wo Zeit und Ewigkeit zusammenfallen, geschieht Kostbares. Mußestunden wie auch ausgesparte Zeiten für Gebet, Meditation, Kontemplation fallen den wenigsten Menschen unserer Tage einfach zu. Viele Menschen, die geistliche Angebote im Kloster Höchst wahrnehmen, suchen nach einer für sie praktikablen Spiritualität im Alltag. Und es zeichnet sich beim Austausch darüber regelmäßig ab: Es geht nicht ohne Entscheidung und Übung.

Gibt es eine Zeit am Tag oder Abend, die ich mir zum hörenden und betenden Dasein vor Gott reserviere? Wie schaffe ich mir dafür einen ungestörten Ort, eine Andachts-Ecke? Welche Impulse nehme ich in mich auf? Welche Gesten können hilfreich sein? Manche Tagesseminare zu christlicher Meditation oder zu anderen Gebetsformen im Alltag gaben oder geben hierzu Impulse. Luthers Morgen- und Abendsegen, als Körpergebete gebetet, eignen sich nach meiner Erfahrung hervorragend, um dem jeweils einzelnen Tag ein eigenes Gepräge zu geben. Immer wieder kommen auch Interessierte, die die „Perlen des Glaubens“ als Hilfe für eine Spiritualität im Alltag für sich entdecken möchten.

Das Kloster Höchst ist nicht mehr so still wie es einst vor hunderten von Jahren war. Heute ist es ein belebtes Tagungshaus für Jugendliche und Erwachsene. Und dennoch lassen sich an diesem Ort wunderbare Inseln der Ruhe entdecken. Sie laden dazu ein, in einer lauten und eiligen Welt aus der Kraft des Innehaltens zu leben.

Marion Rink, 56 Jahre, ist Pfarrerin mit Zusatz­ausbildungen u.a. in Gestaltpädagogik, Kommunikationsberatung und Geistlicher Begleitung. Sie arbeitet auf der Klosterpfarrstelle des Ev. Dekanats Odenwald im Kloster Höchst und ist dort zuständig für geistliche Seminare, christliche Meditation und spirituelle Führungen. Muße genießt sie in dieser Jahreszeit ganz besonders im Garten. Beim Handanlegen oder einfach beim Sitzen im Grünen und Schauen kann sie entspannen und die Zeit vergessen. – mehr unter www.kloster-hoechst.de

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