Ausgabe 1 / 2007 Material von Johannes Thiele

Ins Wasser schauen

Von Johannes Thiele

Einen Weisen im alten China fragten einmal seine Schüler: „Du stehst nun schon so lange vor diesem Fluss und schaust ins Wasser. Was siehst du denn da?“

Der Weise gab keine Antwort. Er wandte den Blick nicht ab von dem unablässig strömenden Wasser.

Endlich sprach er:
„Das Wasser lehrt uns, wie wir leben sollen.
Wohin es fließt, bringt es Leben und teilt sich aus an alle, die seiner bedürfen. Es ist gütig und freigiebig.
Die Unebenheiten des Geländes versteht es auszugleichen. Es ist gerecht.
Ohne zu zögern in seinem Lauf, stürzt es sich über  Steilwände in die Tiefe. Es ist mutig.
Seine Oberfläche ist glatt und ebenmäßig, aber es kann verborgene Tiefen bilden.
Es ist weise.
Felsen, die ihm im Lauf entgegenstehen, umfließt es. Es ist verträglich.
Aber seine sanfte Kraft ist Tag und Nacht am Werk, das Hindernis zu beseitigen. Es ist ausdauernd.
Wie viele Windungen es auch auf sich nehmen muss, niemals verliert es die Richtung zu seinem ewigen Ziel, dem Meer, aus dem Auge. Es ist zielbewusst.
Und sooft es auch verunreinigt wird, bemüht es sich doch unablässig, wieder rein zu werden. Es hat die Kraft, sich immer wieder zu erneuern.

Das alles“, sagte der Weise, „ist es, warum ich auf das Wasser schaue. Es lehrt mich das richtige Leben.“

Nach einer Erzählung
aus China

aus:
Johannes Thiele
Fantasie für die Schöpfung
© Verlag Herder
Freiburg 1990

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